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Germanistische Sprachwissenschaft

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  • chirurgische Kriegführung
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  • Kein Blut für Öl
  • Preußenfieber
  • Autodiät, Mülldiät
  • Solidaritätszuschlag

 

 

Besserwessi

  • 1991, Platz 1

Herbst 1989: Aus der in den letzten Zügen liegenden DDR rollen Tausende von Trabis über die gerade geöffnete deutsch-deutsche Zonengrenze in den goldenen Westen. Die Fahrer hupen, winken und kurbeln ihre Fensterscheiben herunter, durch welche die jubelnden Westdeutschen zur Begrüßung Schokolade, Bananen und Hände reichen. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sollen nun Wirklichkeit werden – und zwar für das gesamte deutsche Vaterland; nach vierzig Jahren soll endlich, wie Willy Brandt erklärt, zusammenwachsen, was zusammengehört. Freudestrahlend liegen sich Ost- und Westdeutsche, zärtlich: Ossis und Wessis, in den Armen. Schließlich ist man ja ein Volk ...

Herbst 1991: Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt als offenbar charakteristischstes Wort des Jahres den Ausdruck Besserwessi. Die auf den ersten Blick geistreich-witzige Wortneuschöpfung stimmt jedoch melancholisch – steht sie doch für die mittlerweile eingetretene Ernüchterung nach dem allgemeinen Wenderausch, für den gesamtdeutschen Einheitsfrust. Aus dem ersten Wiedervereinigungstaumel erwacht, muss man sich eingestehen, dass „die Freudentränen über die jahrzehntelang für unmöglich gehaltene Begegnung der Deutschen aus Ost und West in Freiheit längst getrocknet“ sind und „nur noch ein salziger Nachgeschmack“ geblieben scheint (FAZ, 10. 11. 1991).

Die sprichwörtlich gewordene und gern zitierte Mauer in den Köpfen scheint widerstandsfähiger zu sein als ihr reales, von zahlreichen Mauerspechten längst abgetragenes Vorbild aus Stahlbeton. Und so verhärten sich Ossi und Wessi, die anfangs noch neutral gebrauchten „deutsch-deutschen Binnendifferenzierungen“ (Müller 1992, S. 2), zu eher abschätzig verwendeten Spottkürzeln: Durch die Wessibrille gesehen, haftet dem Ossi das Stigma der Hilflosigkeit und des hoffnungslosen Hinterwäldlertums an; anstatt zu jammern, solle er tunlichst die Ärmel aufkrempeln, damit es etwas werde mit dem Aufschwung Ost. Sein westdeutscher Landsmann hingegen wird zum arroganten und großmäuligen Angeber abgestempelt, der mit den Allüren eines Kolonialherrn als westdeutsche Pla-nierraupe vom Kap Arkona bis zum Erzgebirge alles plattwalzt. Es ist allerdings nicht nur der untergebutterte und ans Gängelband genommene Ossi allein, der den Vorwurf der westdeutschen Besserwisserei erhebt. Der Wortsieger des Jahres 1991 steht gleichermaßen für die nachdenkliche Selbstkritik mancher Wessis: So warnte der Publizist Wolfgang Leonhard davor, „von der Höhe des Siegers hinab den Ostdeutschen einfach westdeutsche Verhältnisse über[zu]stülpen“ (Neues Deutschland, 16. 4. 1991). Offenbar eine Reaktion auf den damals kursierenden Witz, nach dem der Wessi zum Ossi sagt: „Wir sind ein Volk“, und der Ossi entgegnet: „Wir auch“...    ⋄    Benita von Consbruch

 

Müller, Gerhard (1992): Deutsch 1991. Bemerkungen zur Gegenwartssprache. In: Der Sprachdienst 36, 1–26.