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Germanistische Sprachwissenschaft

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Flüchtlinge

  • 2015, Platz 1

Stand der erste Teil des Jahres 2015 noch im Zeichen der Euro-Krise und insbesondere der Bemühungen um die Rettung Griechenlands vor der Staatsverschuldung, so rückte in der zweiten Jahreshälfte immer mehr die rapide steigende Zahl von Menschen in den Vordergrund, die auf der Flucht vor Kriegen, Verfolgung, Hunger oder Diskriminierung nach Europa kamen und immer noch kommen. Vor allem aus Syrien, aber auch aus Afghanistan, aus dem Irak, dem Iran, aus Pakistan, aus verschiedenen afrikanischen Ländern erreichten täglich Tausende die EU. Sie suchten dabei nicht mehr nur, wie lange Jahre zuvor, den gefährlichen Weg über das Mittelmeer, sondern kamen nun hauptsächlich über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute.

In Europa wurden sie mit unterschiedlicher Freundlichkeit aufgenommen. Während einige Länder sich strikt weigerten und, wie Ungarn, ihre Grenzen schlossen, erweckte Deutschland zeitweise den Eindruck, dass es bereit sei, Menschen in unbegrenzter Zahl willkommen zu heißen. Bundeskanzlerin Merkels Satz „Wir schaffen das!“ und das große Engagement vieler freiwilliger Helferinnen und Helfer brachte anderswo, beispielsweise in Österreich, die Behörden dazu, die Asylsuchenden teilweise einfach nur noch durchzuwinken, das heißt ohne Registrierung nach Deutschland weiterzuleiten.

Die anfangs wohlwollende Grundstimmung begann sich zu verändern, die Willkommenskultur wurde in Frage gestellt. Naturereignis-Metaphern wie Flüchtlingsströme, Flüchtlingsflut, gar Asyl-Tsunami entwarfen Bedrohungspotentiale. Der Ton wurde schriller, nicht nur bei den notorischen „besorgten Bürgern“, sondern auch in Teilen der Politik und der Medien: Flüchtlingsdebakel, Flüchtlingswahnsinn.

Doch auch das demgegenüber scheinbar neutrale Substantiv Flüchtlinge, gebildet aus dem Verb flüchten und dem Ableitungssuffix -ling (›Person, die durch eine bestimmte Eigenschaft oder ein bestimmtes Merkmal charakterisiert ist‹), klingt für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig: Analoge Bildungen wie Eindringling, Emporkömmling oder Schreiberling sind negativ konnotiert, andere haben eine deutlich passive Komponente: Prüflinge, Lehrlinge, Findlinge, Sträflinge oder Schützlinge sind nicht als handelnde Personen konzipiert – man verfährt mit ihnen. Bereits im 18. Jahrhundert kannte man das Wort Flüchtling, und auch damals schon wurde, beispielsweise von dem Lexikographen Johann Christoph Adelung, ein negativer Beiklang bemerkt.

Neuerdings ist daher öfters alternativ von Geflüchteten die Rede. Ob sich dieser Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Er hat immerhin den zusätzlichen Vorteil, dass er geschlechtsneutral ist (der/die Geflüchtete), während man bei Flüchtling, wie ein Blick in den großen Duden zeigt, nur die maskuline Form (der Flüchtling) kennt: Frauen mit Maskulina zu bezeichnen, gilt heute zunehmend als nicht politisch korrekt.

Das frühe 19. Jahrhunderts hatte solche Probleme noch nicht; es kannte auch die Flüchtlingin (so wie unter anderem die Heiligin: Hegel, Ästh. III [1838], S. 124). Aber die aktuellen Flüchtlingsprobleme, auch wenn es sich dabei zu einem nicht geringen Teil um Sprachpro­bleme handelt, liegen wohl ohnehin hauptsächlich anderswo.    ⋄    Jochen A. Bär


 

 

GrexitBrexit

  • 2015, Platz 3; 2016, Platz 2

Wochenlang beschäftigten sich Politik und Medien in der ersten Hälfte des Jahres 2015 mit der Frage, ob Griechenland aufgrund seiner hohen Staatsverschuldung aus der Eurozone ausscheiden müsse. Hätte nicht ab dem Sommer das Thema Flüchtlinge alles andere überlagert, wäre Grexit ohne Frage auf Platz 1 der Jahreswörter für 2015 gekommen. Diese Wortkreuzung, eine Überblendung von Greek (›griechisch‹) und Exit (›Ausgang, Ausstieg‹), wurde 2011 von dem Volkswirt Ebrahim Rahbari geprägt. Die ersten Belege im Deutschen Referenzkorpus des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, der weltweit größten digitalen Textsammlung zur Gegenwartssprache, finden sich 2012. Gegenüber den Jahren 2012 bis 2014 wuchs die Beleghäufigkeit 2015 sprunghaft auf das Zehnfache an. Grexit wurde zum Vorbild für eine ganze Reihe weiterer Wortbildungen. So fanden sich beispielsweise „Alexit“ als Spekulation über die politische Zukunft des griechischen Ministerpräsident Alexis Tsipras (Focus, 29. 6. 2015) und „Schwexit“ (Süddeutsche Zeitung, 12. 7. 2015: Bastian Schweinsteigers Wechsel von Bayern München zu Manchester United). Tsipras befragte seine Landsleute in einem Referendum, das in den deutschen Medien flugs Greferendum getauft wurde (z. B. Frankfurter Rundschau, 3. 7. 2015). Ein Grexit by Accident, kurz Graccident oder Grexident, wurde nach zähen Verhandlungen gerade noch vermieden; die gefundene Lösung bezeichnete EU-Ratspräsident Donald Tusk im Juli 2015 als Agreekment.

Die Wortkreuzung Brexit (Britain + Exit), mit der spätestens seit 2012 ein möglicher EU-Austritt Großbritanniens bezeichnet worden war, wählte die GfdS-Jury ein Jahr später auf Platz 2. Das Ergebnis des Referendums über den Verbleib Großbritanniens in der EU, das am 23. Juni 2016 stattfand, war ein Triumph postfaktischer Politik. Mit zum Teil gezielten Fehlinformationen schürten die Befürworter des Austritts den Unmut in der Bevölkerung. Ähnlich wie Grexit ein Jahr zuvor stand Brexit 2016 als beherrschender Ausdruck in einer Reihe ähnlicher Wortbildungen. Zum Teil ging es dabei auch wieder um die Frage eines Ausscheidens aus der Eurozone. Der Grexit schien zwar vorerst abgewendet, hingegen wurde immer wieder einmal ein möglicher Spexit (Spanien) oder Itexit (Italien) thematisiert. In der Schweiz gab es einen Parlamentsbeschluss, der die Regierung verpflichtete, ein 1992 eingereichtes, seither aber auf Eis liegendes EU-Beitrittsgesuch offiziell zurückzuziehen: noch ein „Schwexit“ (Blick, 15. 6. 2016) Über einen „Frexit“ (Welt, 26. 6. 2016) wurde für den Fall spekuliert, dass 2017 die Rechtspopulistin Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewänne. Die Frankfurter Rundschau (20. 6. 2016) dachte über einen Schexit (das „Ende der Schengenzone“) nach und spekulierte weiter: „Was [...], wenn die verbalen Spielereien Wirklichkeit würden? Wenn die Niederlande, Dänemark oder Schweden sich aus Europa verabschieden würden – Nexit, Dexit, Swexit, that’s it? War’s das für Europa?“ Selbst Befindlichkeiten in dem traditionell auf seine Unabhängigkeit Wert legenden Freistaat im Südosten spielten bei dem eurapokalyptischen Szenario eine Rolle: „Kommt nach dem Brexit der Bayxit?“ (FAZ, 14. 7. 2016).    ⋄    Jochen A. Bär