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Germanistische Sprachwissenschaft

Öffentlichkeitsaktivitäten

Wörter des Jahres


 

 

Millennium

  • 1999, Platz 1

Wie kein anderes Thema beschäftigte die Öffentlichkeit 1999 die Erwartung des vermeintlich bevorstehenden Jahrtausendwechsels. Zwar war das Jahr 2000 nicht das erste Jahr des neuen, des dritten Jahrtausends, sondern das letzte des alten (denn das zweitausendste Jahr musste vollendet sein, damit das zweite Jahrtausend abgeschlossen war und das dritte beginnen konnte). Wer jedoch darauf hinwies, wurde von der großen Mehrheit für besserwisserisch und rechthaberisch gehalten. Die längst geplanten Jahrtausendfeiern abblasen wollte niemand. Im Gegenteil: Jahrtausendprojekte aller Art wurden ins Leben gerufen – nicht nur öffentliche, sondern auch ganz private. So versuchten sich beispielsweise im März 1999 nicht wenige Paare an einem Jahrtausendbaby (dessen Geburt am 1. Januar 2000, am liebsten pünktlich um 0.00 Uhr, erfolgen sollte).

Der Jahrtausendrummel steigerte sich zum kommerziellen Megaspektakel, zumal das Wort Jahrtausend mit seinen diversen Wortbildungen im Laufe des Jahres immer stärker durch Millennium abgelöst wurde. Statt von Jahrtausendwende, -fieber, -baby war nun die Rede von Millenniumswende, -fieber, -baby. Die Palette der Millennium(s)angebote und -sonderangebote reichte von Millenniumsekt und Millenniumsalami über Millenniumkonfitüre und Millenniumschokolade (als besonderer Werbegag und in der Regel einziger Bezug zum Jahr 2000 waren 2000-Gramm-Einheiten beliebt) bis hin zu Millenniumkrawatten und -socken. Millenniumspartys für viele Tausende oder sogar Hunderttausende Menschen wurden geplant, die deutschlandweit größte von allen in Berlin, das Millenniumsmetropole werden wollte. Mit Millenniumevents jeder Art sollte das große Geld verdient werden. Reiseveranstalter, Fluglinien und Hotels witterten einen Millenniumsreiseboom. Zumindest in diesen Branchen gab es indes nicht selten einen Millenniumsflop: Die völlig überteuerten Millenniumtouren fanden weit weniger Interesse als erwartet, und auch für manche Millenniumsgala waren noch Mitte Dezember Karten für bis zu ein Drittel des ursprünglichen Preises zu haben – wenn sie nicht mangels Interesses gleich ganz abgesagt wurde.

Das im Deutschen wohl vor allem als englisches Wort zu so überragender Popularität gekommene Millennium stammt ursprünglich aus dem Lateinischen. Da deshalb die beiden Wortelemente Mill- (von mille ›tausend‹) und -ennium (von annus ›Jahr‹) nicht allgemein verständlich sind, ist die wörtliche Bedeutung – anders als bei der direkten Entsprechung Jahrtausend – nicht unmittelbar augenfällig. Dies führte 1999 zu einer Veränderung, genauer gesagt zu einer Verengung der Bedeutung: Man hörte und las Sätze wie „Was machen Sie am Millennium?“, und dabei hieß Millennium selbstverständlich nicht ›Jahrtausend‹, sondern ›Silvester 1999‹. Das Millenniumsproblem (auch Jahr-2000-Problem oder Y2K-Problem genannt), das vielen Computerspezialisten, den so genannten Millenniumsmännern oder -frauen, in der Nacht auf den 1. Januar 2000 Sonderschichten bescherte, war ebenfalls kein Problem des neuen Jahrtausends, sondern das eines ganz bestimmten Zeitpunktes, eben des Datumswechsels oder -sprungs am Neujahrstag.

Diese neue Bedeutung, die neben der Worthäufigkeit und der großen Anzahl der Wortbildungen Anlass für die GfdS-Jury war, Millennium zu dem Wort des Jahres 1999 zu wählen, hatte allerdings keinen Bestand. Sie geriet in Vergessenheit, sobald die Sache selbst aus dem öffentlichen Interesse verschwunden und der ganze Millenniumsspuk zu Ende war.    ⋄    Jochen A. Bär


 

 

Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz

  • 1999, Platz 10

Dass Rindfleisch im Zeitalter der landwirtschaftlichen Massenproduktion zwar preiswert, aber nicht notwendigerweise gesund ist, beschäftigte in den achtziger und neunziger Jahren immer wieder die deutsche Öffentlichkeit. Das spiegeln auch die Wörter des Jahres (Einheiten wie Kälbermastskandal, BSE-Krise). Wenngleich die Wahl daher durchaus thematisch orientiert war, wurde das Wortungetüm Rindfleisch­etikettie­rungs­über­wachungs­auf­gaben­übertragungsgesetz aber doch vor allem aus sprachlichen Gründen auf die Hitliste 1999 gesetzt. Es handelt sich dabei um den Titelvorschlag für ein Landesgesetz, den sich das Landwirtschaftsministerium in Mecklenburg-Vorpommern ausdachte. In voller Länge sollte es heißen: „Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettie­rungs­über­wachungs­aufgaben­übertragungsgesetz“ (Parlament 43–44/1999). Dass dieser Gesetzentwurf schon als Vorbote der 2001 verkündeten Agrarwende gewertet werden kann, ist zweifelhaft, denn die Agrarkatastrophen Rinderwahnsinn und Maul- und Klauenseuche, die 2000 und 2001 monatelang für Schlagzeilen sorgten und in mehreren europäischen Ländern zur Massenvernichtung (Keulung) von Nutztieren führten, konnte man 1999 nicht voraussehen. Die Jury der GfdS entschied sich für Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz, weil es als mit Abstand längstes Wort einerseits ein Pendant zum Kurzwort des Jahres 1999 (Sofi) darstellte, und weil es andererseits charakteristisch ist für eine Eigentümlichkeit der deutschen Sprache: die Wortbildung durch Zusammensetzung. Mit 63 Buchstaben, 20 Sprechsilben und 14 verschiedenen lexikalischen und grammatischen Wortbestandteilen (Rind, Fleisch, Etikett, -ier-, -ung [drei-mal], Fugen-s [dreimal], über [zweimal], wach[en], auf, Gabe, Fugen-n, trag[en], ge-, setz[en]) sind die Möglichkeiten noch lange nicht am Ende. Denken ließe sich beispielsweise ein Klub, der über den Entwurf des genannten Gesetzes debattiert, und auch, dass eine Tagung veranstaltet werden soll, um über den Diskussionsstand zu berichten. Sobald jemand für eine solche Veranstaltung Tagungsgeld beantragen wollte, bräuchte er ein Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetzesentwurfs­debattier­klub­diskus­sions­stands­bericht­erstatter­tagungs­geld­antrags­formular. Weiterungen nicht ausgeschlossen.

Mark Twain verspottete bekanntlich die deutsche Sprache wegen ihrer Tendenz zur Wortlänge (Arzneimittel­ausgabenbegrenzungsgesetz). Doch die Faszination der Wortbildung empfanden bereits Sprachtheoretiker des 17. Jahrhunderts. Sie erkannten die nahezu unbeschränkten Möglichkeiten, den deutschen Wortschatz zu erweitern. Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) stellte einen „Fünffachen Denckring der Teutschen Sprache“ vor, bei dem auf fünf konzentrischen Kreisen verschiedene Wortbildungsbestandteile angeordnet waren (vgl. Gardt 1994, S. 208). Durch das Drehen der Ringe sollten mögliche deutsche Wörter entstehen. Der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz rechnete aus, dass es über 97 Millionen Kombinations­möglichkeiten gebe (wobei nicht erwähnt werden muss, dass die weitaus meisten von ihnen Klang- oder Buchstabengebilde ohne sprachliche Bedeutung wären: Pseudowörter).    ⋄    Jochen A. Bär

 

Gardt, Andreas (1994): Sprachtheorie in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin/New York (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 108).