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Gesundheitsreform

  • 1988, Platz 1

Dass „niemand etwas so unzweifelhaft Positives wie die Gesundheit reformieren will“ (Walther 1989, S. 66), musste der Sprachberatungsdienst der Gesellschaft für deutsche Sprache 1988 mehrfach klarstellen, und auch, dass das Wort Gesundheitsreform durchaus „den Gesetzen der deutschen Wortbildung gehorcht“ (ebd.). Der heutzutage so selbstverständlich gebrauchte Ausdruck ist eine Kurzform von Gesundheitswesenreform, eine so genannte Klammerform, wie sie auch beispielsweise in Fernamt (eigentlich: Fernsprechamt), Bierkutscher (eigentlich: Bierwagenkutscher) und Lackschuh (eigentlich: Lacklederschuh) vorliegt.

Von der Gesundheitsreform, die Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm (CDU) durchführen wollte, war 1988 allenthalben die Rede. Das „Herzstück“ (Blüm) der angestrebten Neuerungen war es, die Medikamentenkosten durch so genannte Festpreise einzudämmen. Die Kosten für die jeweils günstigeren – qualitativ jedoch gleichwertigen – Arzneimittel, Hörgeräte, Rollstühle, Brillen etc. sollten von den Krankenkassen übernommen werden. Falls der Patient auf vermeintlich Besseres zurückgreifen wollte, sollte er die Mehrkosten selbst tragen. Auf diese Weise sollten über einige Jahre hinweg 14 Milliarden Mark im Gesundheitswesen eingespart werden. Die Leistungen der Reform bestanden darin, den Krankenversicherungsbeitrag um ein Prozent zu senken sowie „Familien bei der häuslichen Pflege Schwerbehinderter spürbar zu unterstützen“ (Spiegel, 7. 3. 1988).

Ärzte- und Apothekerverbände, Pharmaindustrie, Optiker und auch der DGB fühlten sich benachteiligt; gleichzeitig waren sich die verschiedenen Interessenverbände einig, dass die Reform ungerecht sei, dass der Gesundheitsreformer Blüm „einen Anschlag auf das deutsche Gesundheitswesen“ plane (Spiegel, 7. 3. 1988). Auch die FDP war gegen die Reformpläne ihres Koalitionspartners, da sie – im Gegensatz zur CDU – von den Patienten einen prozentualen Eigenanteil an den Medikamentenkosten forderte.

Obwohl schon ein Jahr zuvor sowohl Patienten als auch Ärzte davon über-zeugt waren, dass die „‚Schmerzgrenze‘ allmählich erreicht“ sei (Spiegel, 4. 1. 1988), trat am 1. Januar 1989 – mit einigen Abschwächungen – das Strukturgesetz im Gesundheitswesen in Kraft. Viel gewonnen war damit freilich nicht; das Gesundheitswesen blieb dauerhaft ein Problemfeld, und an der Gesundheitsreform wurde auch weiterhin gebastelt (Arzneimittelausgabenbegrenzungsgesetz). Im August 2003 handelten Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und der Verhandlungsführer der Opposition Horst Seehofer (CSU) einen „Gesundheits-Kompromiß“ (FAZ, 23. 8. 2003) aus. „Luxus“ wie Zahnersatz zahlen Versicherte fortan selbst.    ⋄    Susanne Nunn