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Germanistische Sprachwissenschaft

Öffentlichkeitsaktivitäten

Wörter des Jahres

  • Zeitenwende
  • Krieg um Frieden
  • Gaspreisbremse
  • Inflationsschmerz
  • Klimakleber
  • Doppel-Wumms
  • neue Normalität
  • 9-Euro-Ticket
  • Glühwein-WM
  • Waschlappentipps

Einige kurze Kommentare und Erläuterungen zu allen Wörtern des Jahres 2022 finden sich im Newsroom der Universität Vechta.


Zeitenwende

  • 2022, Platz 1

Das keineswegs neue, vielmehr spätestens seit den 1920er Jahren belegte Wort, das speziell für den Beginn der christlichen Zeitrechnung, in allgemeinerer Bedeutung auch für jeden beliebigen Übergang in eine neue Ära steht, wurde in diesem letzteren Sinne im Jahr 2022 prominent von Olaf Scholz verwendet. Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 markiere eine „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinentes“, so der Bundeskanzler in einer Rede am 27. Februar. Bundespräsident Steinmeier sprach im gleichen Zusammenhang am 28. Oktober von einem „Epochenbruch“. Die deutsche Wirtschafts- und Energiepolitik musste sich völlig neu ausrichten. Verhältnisse zu anderen internationalen Partnern wie China wurden gleichfalls kritisch beleuchtet. Bei vielen Menschen fand auch eine emotionale Wende statt: Angst und Sorge vor einem Atomkrieg in Europa, gar vor einem dritten Weltkrieg waren vielfach zu spüren.

Auch aus anderen Gründen wurde das Jahr häufiger als Wendepunkt empfunden. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) organisierte von April bis Juni eine Diskussionsreihe mit dem Titel (Un)sicherheit in der Zeitenwende und erläuterte: „Mit dem Krieg in der Ukraine, der Pandemie, dem Klimawandel erleben wir die Gleichzeitigkeit dreier transformativer Krisen.“ (https://www.wzb.eu/de/veranstaltungen/seminare-und-kolloquien/unsicherheit-in-der-zeitenwende#) Zudem ließen die finanziellen Belastungen, die bei einer Inflation von 10 Prozent einer großen Mehrheit der Bevölkerung zu schaffen machten, eine Zeitenwende empfinden. Vor allem die Energiepreise wurden durch das Embargo gegen russisches Gas und Öl nach oben getrieben: Sie stiegen um fast 50 Prozent. Zur Bekämpfung der Teuerung hob die Europäische Zentralbank den Leitzins an und änderte dadurch ihre langjährige Geldpolitik, die das Sparen, eine ehemals deutsche Tugend, unrentabel gemacht hatte.

Einen mentalen Wandel verspürten offenbar vor allem ältere Menschen auch angesichts immer mehr um sich greifender Veränderungen im Sprachgebrauch. Eine minimale Sprechpause zwischen Wortstamm und femininer Endung, die bislang als lautliche Entsprechung des sogenannten Gender-Sternchens galt (Politiker*innen, Lehrer*innen, usw.), fiel immer häufiger dem Sprechtempo zum Opfer oder wurde sogar absichtlich weggelassen – wodurch das generische Maskulinum (die männliche Form steht für alle Geschlechter) faktisch durch ein generisches Femininum abgelöst würde. Ob sich diese ‚Sprachwende‘ mit der Zeit auch allgemein durchsetzen wird, bleibt allerdings abzuwarten.

Das Mittelglied -en- zwischen den beiden Substantiven Zeit und Wende wird in der Grammatik oft als Fugenelement oder Fugenzeichen bezeichnet. Andere Erscheinungsformen sind beispielsweise das -n- in Sonnenschein, das -es- in Tageslicht oder das -s- in Zeitungslektüre. Es ist oft entstanden aus einer alten Genitiv-Endung oder auch, wie im Fall von Zeitenwende, aus einer alten Plural-Endung. Zeit hat mehr als eine Bedeutung: unter anderem ›Abfolge von Augenblicken‹ und ›Periode, Ära‹. In der letzteren Verwendungsweise kann das Wort auch einen Plural bilden, und eine Zeitenwende ist dann eine Wende (ein mit einer Ab- oder Umkehr verbundener Übergang) zwischen zwei Epochen. Interessant ist, dass eine Zeit in diesem Sinne als mehr oder weniger geradliniger Ablauf gedacht wird (denn sonst wäre ja kein Richtungswechsel möglich): ein durchaus optimistischer Denkansatz in einer Welt, in der Orientierungen weithin verloren gegangen zu sein scheinen.    ⋄    Jochen A. Bär