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Wutbürger

(2010, Platz 1)

Mit der Entscheidung, die Jahreswörterliste für 2010 durch die Neuschöpfung Wutbürger zu eröffnen, hat die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden einiges Aufsehen erregt, aber nur wenig Zustimmung erfahren: „Was bitte ist ein ‚Wutbürger‘?“, kritisierte die Rhein-Zeitung (18. 12. 2010). „Und wer bitte ist in diesem Jahr schon einmal ernsthaft über diesen Begriff gestolpert? [...] ‚Abwrackprämie‘ war ein tolles Wort des Jahres 2009. Aber was für ein abgewracktes Wort ist ‚Wutbürger‘!“ (Ebd.) Der Schriftsteller Martin Walser kommentierte erbost: „Was ist das für eine lächerliche Jury, die uns einreden will, ‚Wutbürger‘ sei das Wort des Jahres“. Es handle sich um „eine künstliche Jury-Schöpfung, die man zurückweisen müsste“ (Nürnberger Nachrichten, 24. 12. 2010).

Die Belegdichte in der weltweit größten digitalen Textsammlung zur deutschen Gegenwartssprache, dem Deutschen Referenzkorpus des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, lässt die Dinge in einem ganz ähnlichen Licht erscheinen: Für das gesamte Jahr 2010 ist dort das Substantiv Wutbürger nur 143-mal belegt, und fast 80 Prozent dieser Belege stammen aus der Zeit nach der Bekanntgabe der Wiesbadener Jahreswörterwahl, also aus der zweiten Dezemberhälfte. Häufiges Vorkommen sieht anders aus.

Allerdings ist die Geläufigkeit eines Wortes ein zwar mögliches, keineswegs aber das entscheidende Auswahlkriterium. Wichtiger ist für die Wiesbadener Jury, dass ein Ausdruck für ein bestimmtes Jahr in besonderer Weise charakteristisch erscheint. Bei Wutbürger trifft dies zweifellos zu. Populär gemacht hat ihn der Journalist und Schriftsteller Dirk Kurbjuweit. „Eine neue Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft“, schrieb er am 10. 11. 2010 im Spiegel: „Das ist der Wutbürger. Er bricht mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance. Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker. Er zeigt sich bei Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin und bei Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21.“

Erfunden hat Kurbjuweit das Wort – auch wenn man immer wieder anderes liest – freilich nicht: als Kurzform für die 2004 gegründete rechtspopulistische Bürgervereinigung „Bürger in Wut“, die 2007 in die Bremer Bürgerschaft einzog, findet sich das Wort auch schon in früheren Jahren, beispielsweise in der Tageszeitung (20. 11. 2007).

Wie sehr die Gesellschaft für deutsche Sprache mit ihrer Wahl zum Wort des Jahres 2010 die Hand am Puls der Zeit hatte, beweist der sprunghafte Anstieg der Wortverwendung im darauffolgenden Jahr: mehr als fünfmal so häufig wurde es gebraucht und fand Eingang in eine ganze Reihe von Wortbildungen: Wutbürger-Aktionen, Wutbürger-Bewegung, Wutbürger-Debatte, Wutbürger-Demo, Wutbürger-Frust ...

Der Duden verzeichnet Wutbürger seit 2011 und erläutert das Wort folgendermaßen: „aus Enttäuschung über bestimmte politische Entscheidungen sehr heftig öffentlich protestierender und demonstrierender Bürger“.    ⋄    Jochen A. Bär