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Rettungsroutine

  • 2012, Platz 1

Ein Fachwort aus der Informatik und Computertechnologie machte 2012 im Politik- und Medienjargon Karriere: Unter einer Rettungsroutine versteht man ein Computerprogramm, das bei einer Störung, z. B. einem Strom­ausfall, automatisch Daten sichert, so dass diese nicht verloren gehen.

Das Zweitglied des Kompositums, Routine, stammt aus dem Französischen. Es handelt sich um das Diminutivum, also die Verkleinerungsform von Route (›Straße, Weg‹, über altfranzösisch rute zurück­gehend auf lateinisch via rupta ›gebrochene Bahn, Bresche‹) und steht für einen (Lösungs-)Weg, den jemand gewohnheitsmäßig einzuschlagen pflegt. Wer routiniert handelt, verhält sich, insbesondere in brenzligen Situationen, automatisch richtig, ohne groß nachdenken zu müssen. Von Rettungsroutine kann somit auch gesprochen werden, wenn jemand bestimmte Rettungsabläufe oft geübt hat und sie deshalb auch unter Stress sicher beherrscht.

Das Nichtnachdenkenmüssen birgt jedoch zugleich eine Gefahr. Neben der guten Routine, die im All­tag hilft, gibt es auch eine schlechte Routine: Man neigt selbst in Situationen, die eben doch ein besonde­res Nachdenken erfordern, dazu, sich mit dem Standardprogramm zu begnügen.

Genau dieser Aspekt findet sich – als Kritik – in der Verwendungsweise, in der Rettungsroutine zum Wort des Jahres 2012 avancierte. Das Substantiv erscheint dabei im Zusammenhang mit den Bemühun­gen um einen Ausweg aus der europäischen Staatsschuldenkrise. Die überhandnehmende Verschul­dung von Ländern wie Spanien, Portugal, Griechenland, Italien und selbst Frankreich und die Herabstu­fung ihrer Kreditwürdigkeit durch internationale – in der Regel amerikanische – Rating-Agenturen führt seit einigen Jahren dazu, dass die betroffenen Länder nur noch zu hohen Zinsen neue Kredite aufneh­men können. Ihre Schuldenlast nimmt dadurch immer weiter zu. Als Instrument dagegen wurde in der Europäischen Union der Euro-Rettungsmechanismus entwickelt, der es als (Euro-)Rettungsschirm 2008 und 2010 gleich zweimal unter die Wörter des Jahres schaffte. Die Tatsache, dass Deutschland als finanzstärkstes Euroland für den Löwenanteil der „Rettungsmilliarden“ (Welt, 9. 6. 2012) geradestehen muss, trug der „Rettungsschirm-Politik“ (Handelsblatt, 15. 6. 2012) der Bundesregierung zunehmend Ablehnung ein – nicht zuletzt aus den eigenen Reihen. Der prominenteste CDU-Kritiker war Wolfgang Bosbach. Er beklagte „eine Art Rettungsroutine“ (Wirtschaftswoche, 28. 3. 2012) bei den Euro-Fi­nanz­hilfen, also einen Automatismus, nach dem immer mehr Länder „an den Finanztropf“ kom­men (FAZ, 5. 5. 2011). Die Befürchtung: „Endlose Rettungsroutine mit Deutschland als großem Zahl­meister“ (So­lin­ger Tageblatt, 14. 11. 2012).

Routiniertes Verhalten wurde dabei paradoxerweise gerade vermisst: „Es ist mittlerweile der 19. EU-Gipfel seit dem Beginn des Schuldendramas in Griechenland vor mehr als zweieinhalb Jahren. Doch eine Rettungsroutine will sich bei den Staats- und Regierungschefs, die sich am Donnerstag auf ein Neues in Brüssel versammelten, nicht einstellen.“ (Potsdamer Neueste Nachrichten, 29. 6. 2012.) – Rettungsroutine ohne Rettungsroutine: Gerade durch seine semantische Ambivalenz überzeugt das Substantiv als Jahreswort: Es steht symbolisch für die Unsicherheit, wie mit der existenziellen Situation der Euro-Schuldenkrise angemessen umzugehen ist.    ⋄    Jochen A. Bär