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Germanistische Sprachwissenschaft

Öffentlichkeitsaktivitäten

Wörter des Jahres


 

 

Tschernobyl

  • 1986, Platz 1

Mit Schweigen hätte die sowjetische Regierung am liebsten übergangen, was 1986 in einem ihrer größten Atomkraftwerke geschehen war: der bis dahin schwerste Unfall in der Geschichte der friedlichen Nutzung der Atomenergie.

Der Name der ukrainischen Unglücksstadt – er bedeutet ›Wermutpflanze‹ und wird im Russischen und Ukrainischen auf der zweiten Silbe betont – wurde zum „Codewort für die Unbeherrschbarkeit der Technik“ (Zeit, 13. 6. 1986) und zum Synonym der nichtmilitärischen atomaren Bedrohung. Der Ostwind brachte den radioaktiven Regen auch nach Deutschland, und vieles war mit einem Mal nicht mehr selbstverständlich. Sollten Kinder noch im Freien spielen? Sollte man Salat, Spinat und Waldpilze noch essen? Die Wendung strahlende Zukunft gewann eine maliziöse Doppeldeutigkeit.

Die politische Diskussion beschränkte sich anfangs fast völlig auf technische Details. Doch angesichts der realen Ängste der Menschen trat bald die Frage nach dem Ausmaß der Bedrohung in den Mittelpunkt. Umweltschützer forderten den Ausstieg aus der Kernenergie. Die großen Parteien dagegen wollten allenfalls den Einstieg in den Ausstieg bzw. sogar nur den Einstieg in mehr Sicherheit (bei fortgesetzter Nutzung der Atomenergie) auf die Tagesordnung setzen.

Als Wort des Jahres steht Tschernobyl zugleich für einen kaum überschaubaren Komplex von Fachwörtern, die durch Berichterstattung und öffentliche Diskussion den Weg in die Allgemeinsprache fanden: z. B. Halbwertszeit, Fall-out, Gammastrahlen oder die Maßeinheiten Becquerel und Rem. Mediensprachliche Transformationen blieben dabei nicht aus. Beispielsweise wurde der GAU (der größte anzunehmende Unfall) zum Super-GAU gesteigert – so gut man einen Superlativ eben steigern kann ... Doch die Maßstäbe, und nicht nur in der Sprache, haben sich seit Tschernobyl verschoben. Ernüchternde Tschernobylanz: Die Katastrophe lehrte die Deutschen nicht nur neue Wörter, sondern die ganze westliche Welt eines der unmodernsten Gefühle: Hilflosigkeit.    ⋄    Moritz Promny