Germanistische Sprachwissenschaft
Öffentlichkeitsaktivitäten
Wörter des Jahres
- KI-Ära
- Deal
- Land gegen Frieden
- Sondervermögen
- Wehrdienst-Lotto
- Drohnisierung
- Strafzölle
- Wohlstandsverlust
- klimamüde
- Vertiktokung
KI-Ära
- (2025, Platz 1)
In Schlagzeilen wie „Neue KI-Ära kann beginnen“ (Handelsblatt, 25. 2. 2025), „Überleben in der KI-Ära: Wer jetzt zögert, verliert“ (Markt & Mittelstand, 21.8. 2025) oder „Mit klarer Vision in die KI-Ära“ (IT-Director 3/2025) begegnet plakativ das Wort des Jahres 2025. Die Künstliche Intelligenz (KI) hat die Mitte der Gesellschaft erreicht. Komplexe Algorithmen, die in Bruchteilen von Sekunden gewaltige Datenmengen verarbeiten und dadurch intelligentes Handeln simulieren können, greifen erstmals seit Beginn der Digitalisierung tief ein in gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Prozesse. Ob medizinische Diagnoseunterstützung, autonomes Fahren oder personalisierte Bildung – in nahezu jedem Sektor entstehen neue Anwendungsfelder. Unternehmen integrieren KI, um Kosten zu senken und schneller zu produzieren. KI liefert Informationen, erkennt Muster, steuert Maschinen und trifft Entscheidungen in Bereichen, in denen früher ausschließlich Menschen handelten. Staaten entwickeln Regulierungen, investieren Milliarden in Forschung und wetteifern um technologische Souveränität. Die Debatten über Transparenz, Datensicherheit und die Folgen automatisierter Entscheidungen zeigen, dass KI zu einem gesellschaftlichen Thema von ebenso großer Tragweite geworden ist wie Klimapolitik oder Globalisierung.
Der technologische Sprung erscheint vergleichbar mit der Einführung des Internets – allerdings erfolgte er mit weit größerer Geschwindigkeit. KI steht heute über einfache Interfaces Millionen Menschen im Alltag zur Verfügung: ob bei Recherchen, bei der Animation von Fotos oder bei der Erstellung von Texten.
Schon 2023 und 2024 hatte sich das Thema auf die Wahl der Wörter des Jahres ausgewirkt: in diesen Jahren standen KI-Boom und generative Wende auf den Auswahllisten. Die Wende ist inzwischen vollzogen, der Boom hält unvermittelt an. Aus Sicht der Jahreswörter-Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache steht die Entwicklung tatsächlich am Beginn einer Ära – mit vielen Chancen, aber ebenso mit Risiken.
Aus linguistischer Sicht ist insbesondere davon auszugehen, dass flächendeckende Nutzung von KI sich auf die künftige Entwicklung der deutschen Sprache auswirken wird. Denn anders als es das Wort Intelligenz glauben machen will, kann die Maschine nicht wirklich denken. Sie kann nur höchst effizient Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten berechnen. Ein brauchbarer deutscher Satz ist in dieser Logik ein solcher, der möglichst große Ähnlichkeiten mit möglichst vielen anderen grammatisch korrekten und sinnvollen deutschen Sätzen aufweist – was gleichbedeutend damit ist, dass sich sprachgenerative KI-Systeme am Mainstream orientieren und diesen reproduzieren. Kreative Abweichung von der sprachlichen Norm, innovative Formulierung, originelle Gedankenverknüpfung oder gar die erkenntnisfördernde argumentative Durchdringung eines Themas ist nicht zu erwarten.
Eine Gesellschaft, die dazu neigt, sich mehr und mehr auf die bequemen Textproduktionsangebote zu verlassen, läuft daher Gefahr, in Floskeln zu erstarren und intellektuell zu stagnieren – ganz zu schweigen von den Unwägbarkeiten der Manipulation durch Filtermechanismen, die man in keiner Weise durchschaut. Denn KI wird uns nicht uneigennützig zur Verfügung gestellt. Sie liefert uns nie das ganze Bild, sondern immer nur eine unkontrollierbar interessegeleitete Auswahl. Der Weg vom Verzicht auf eigenes Ringen ums Wort hin zum Rückzug aus kritischer Verantwortung könnte sich daher als kurz erweisen. ⋄ Jochen A. Bär