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Germanistische Sprachwissenschaft

Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten

Das Jahr der Wörter

(213) 1. August – überkandidelt

Dass wir – nach den gestrigen Ferien – heute schon wieder einen Vorschlag behandeln, den der nunmehr ehemalige Deutsch-Leistungskurs des Vechtaer Gymnasiums Antonianum vorgelegt hat, ist reiner Zufall: Die Reihenfolge, in der wir die von der Jury im Herbst 2013 ausgewählten Wörter erläutern, wurde ohne Blick auf die Person oder Personengruppe festgelegt, die sie eingereicht hatte.

Überkandidelt ist ein umgangssprachliches Wort, das man in Texten der gehobenen Stilebene vergebens sucht. Es geht zurück auf niederdeutsch kandidel (›heiter‹) und bedeutet ›in exaltierter oder leicht verrückter Weise überspannt‹. In kandidel wiederum steckt lateinisch candidus (›weiß, hell‹), das auch bei Kandidat zugrunde liegt: Bei den alten Römern präsentierte sich der Bewerber um ein Amt der Wahlbevölkerung in leuchtend weißer Toga und hieß entsprechend ›der Weißgewandete‹ (candidatus).

Wie man von ›weiß‹ zu ›überspannt‹ kommt? Klar doch: durch Sprachwandel. Der passiert allenthalben, und zwar aus unterschiedlichen Ursachen. Zum Beispiel, weil jemand sprachlich kreativ ist, mit übertragenen Bedeutungen spielt und damit für andere zum Vorbild wird: so wohl bei überkandidelt. Zum Beispiel, weil Wörter oder Wortbedeutungen in einer sich verändernden Welt von der Sprachgemeinschaft nicht mehr benötigt werden: so beim Wegfall der Unterscheidung von Oheim ›Verwandter von Mutterseite‹ und Vetter (›Verwandter von Vaterseite‹) und damit zusammenhängend dem Aussterben des Wortes Oheim und dem Bedeutungswandel bei Vetter (heute: ›Cousin‹). Oder auch, weil bestimmte Sprachregeln nicht (mehr) richtig beherrscht werden: so bei der Verwendung von frugal (›karg‹) im Sinne von ›üppig‹ (vgl. unsere Kolumne Nr. 210 vom 29. Juli).

Übrigens haben wir jetzt endlich aus berufenem Munde erfahren, wieso Deutschland Fußballweltmeister geworden ist. Auf dem internationalen Trainer-Kongress des Bundes Deutscher Fußball-Lehrer in Mannheim erklärte – so dieser Tage nachzulesen im Mannheimer Morgen – Frank Wormuth, der Chef-Trainerausbilder des Deutschen Fußballbundes: „Deutschland hatte die kompletteste Mannschaft.“ Was er damit gemeint haben könnte? Keine Ahnung. Vielleicht so etwas wie ›geschlossen‹ oder ›homogen‹. Jedenfalls wohl nicht, wie die in jedem besseren Wörterbuch verzeichnete Bedeutung von komplett (›vollständig‹) erwarten lassen würde, dass die anderen Mannschaften weniger als elf Spieler auf den Platz geschickt hätten: Darüber wäre vermutlich berichtet worden.

Sprachwandel auch bei der Bedeutung von komplett? Wohl kaum. Eher der missglückte Versuch, sich gehoben auszudrücken. Ein bisschen überkandidelt.    ⋄    Jochen A. Bär

(214) 2. August – gediegen

Frank Angermann aus Lohne hat ein Wort vorgeschlagen, zu dem sprachhistorisch einiges zu erläutern ist: gediegen. Schaut man zunächst standardmäßig in den zehnbändigen Duden, so erfährt man: Es bedeutet erstens ›ohne Beimischungen, rein, massiv‹ (gediegenes Gold), zweitens ›sorgfältig gearbeitet, von solider Qualität; ordentlich, gut, gründlich‹ (gediegene Einrichtung, gediegenes Ambiente, auch gediegene Kenntnisse oder gediegene Erziehung) und drittens – umgangssprachlich – so viel wie ›komisch, lustig, wunderlich, merkwürdig, seltsam, eigenartig‹ (ein gediegener Typ; das ist ja gediegen!). Die dritte Verwendungsweise lässt sich vermutlich am einfachsten als sprachliche Ironie erklären, denn sie steht für so ziemlich genau das Gegenteil dessen, was gediegen eigentlich bedeutet.

Blickt man etwas tiefer in die Fachliteratur, so stellt man fest: gediegen ist das Präteritumpartizip (unlinguistisch: das „Mittelwort der Vergangenheit“) eines Verbs, das bis in die frühe Neuzeit bekannt war, heute aber völlig ausgestorben ist: deihen, mittelhochdeutsch dîhen, das ›wachsen, zunehmen‹ bedeutete. Heute ist nur noch die Erweiterungsbildung mit dem Präfix (der „Vorsilbe“) ge- bekannt: gedeihen.

Die ältere deutsche Sprache (das Alt- und Mittelhochdeutsche) kannte keine unregelmäßigen Verben. Diejenigen Verben, die ihre Vergangenheitsformen durch Ablaut, eine Veränderung des Stammvokals, bildeten, nannte die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts „starke Verben“. Sieben verschiedene, klaren und einheitlichen Regeln folgende Möglichkeiten eines solchen Ablautes gab es, so genannte Ablautreihen, jeweils charakterisiert durch vier Leitformen (1. Person Singular Präsens, 1. Person Singular Präteritum, 1. Person Plural Präteritum und Partizip Präteritum), und dîhen gehörte in die erste Ablautreihe. Die Leitformen lauteten: ih dîhe (›ich wachse‹), ih dêh (›ich wuchs‹), wir digen (›wir wuchsen‹), gedigen (›gewachsen‹).

Die mit gediegen verknüpfte Vorstellung war schon sehr früh die, dass etwas zur Vervollkommnung, zur Verwirklichung seiner positiven Möglichkeiten gebracht wurde. Bereits in der ältesten Übersetzung biblischer Texte, dem so genannten althochdeutschen Tatian von Anfang des 9. Jahrhunderts n. Chr., wurde bei der Verkündigung der Geburt Johannes des Täufers, der komme „zu bekehren [...] die Ungläubigen zu der Klugheit der Gerechten, zuzurichten dem Herrn ein bereitetes Volk“ (Luk. 1,17) das lateinische plebem perfectam (›zubereitetes, vollkommenes Volk‹) mit thuruhdigan folk übersetzt – was nicht ›durchwachsen‹ im heutigen Sinne hieß, sondern eben ›den eigenen Möglichkeiten entsprechend ausgewachsen‹).    ⋄    Pamela Steen

(215) 3. August – Hypochonder

Wieder einmal – wie schon mehrfach im „Jahr der Wörter“ – haben wir Anlass, den großen Wortschatz der „Jugend von heute“ zu bewundern. Denn Hypochonder, ein eindeutig bildungssprachliches Wort, wurde vorgeschlagen von der Klasse 6b der Vechtaer Liebfrauenschule. Besser: von der ehemaligen Klasse 6b, denn das Schuljahr ist mittlerweile zu Ende.

Ein Hypochonder ist „jemand, der an Hypochondrie leidet, sich hypochondrisch gebärdet“, ein „eingebildeter Kranker“, so liest man im großen Duden. Und unter Hypochondrie findet man ergänzend: „übertriebene Neigung, seinen eigenen Gesundheitszustand zu beobachten, zwanghafte Angst vor Erkrankungen, Einbildung des Erkranktseins (begleitet von Trübsinn oder Schwermut)“.

Hypochonder geht laut Duden zurück auf das französische hypocondre (›einer, der sich eine Krankheit einbildet‹). Doch wer auch nur ein bisschen Erfahrung mit Fremdwörtern hat, ahnt, dass dem französischen Wort ein griechisches zugrunde liegt. Dies wird bestätigt, wenn man unter hypochondrisch, dem zugehörigen Adjektiv („Eigenschaftswort“) nachschlägt: Das griechische hypochondriakós bedeutete ›am Unterleib und an den Eingeweiden (wo nach antiker Vorstellung die Gemütskrankheiten lokalisiert sind) leidend‹. Das Griechische to hypochóndrion bedeutete ›weicher Teil des Leibes unter dem Brustknorpel und den Rippen bis an die Weichen und die Scham‹ mit anderen Worten: ›Unterleib und Eingeweide‹. Das Wort ist zusammengesetzt aus hypó (›unter, unterhalb‹) und chóndros (›Korn, Graupe‹, im übertragenen Sinne dann auch ›Knorpel‹, insbesondere ›Brustknorpel‹).

In der Umgangssprache bildet man heutzutage gern ein Kurzwort zu Hypochonder, das nur aus dem ersten Teil besteht – ein so genanntes „Kopfwort“ wie Auto aus Automobil: „Sei doch nicht so ein Hypo“.

Ärzte können ein Lied davon singen. Sie haben gar nicht so selten mit Patienten zu tun, die sich ihre Krankheiten einbilden: Krankheiten, die sie aus dem Internet oder aus dem medizinischen Fachlexikon, dem so genannten Pschyrembel kennen. Die ärztliche Diagnose lautet in solchen Fällen gern: Morbus Pschyrembel (›Pschyrembel-Krankheit‹).

Der Prototyp des Hypochonders ist Argan, die Hauptfigur aus Molières Komödie Le malade imaginaire (›Der eingebildete Kranke‹). Ironie des Schicksals: Der Dichter, der die Rolle selbst spielte, erlitt bereits bei einer der ersten Vorstellungen einen Blutsturz und starb kurz darauf, noch in seinem Kostüm.    ⋄    Jochen A. Bär

(216) 4. August – Wesen

Unserem heutigen Wort liegt das Verb wesen zugrunde, althochdeutsch wesan (›da sein, existieren‹), das nur noch in Ableitungen (verwesen, abwesend sein) vorkommt und einige flektierte Formen an das sinnverwandte sein abgetreten hat (z. B. die Form des Perfektpartizips: gewesen). Lediglich in der Fachsprache der Philosophie, vor allem bei Martin Heidegger, findet wesen im 20. Jahrhundert Verwendung.

Das Substantiv Wesen hingegen ist auch ein Alltags- und Allerweltswort. Man nennt Wesen die Natur, den eigentümlichen Charakter einer Sache (im weitesten Sinne), dasjenige, was sie ausmacht und ihr Erscheinungsbild prägt (Wesen einer Sache, eigentliches/inneres/wahres Wesen, Wesenheit, wesenhaft usw.). Weiter ist dasjenige Etwas ein Wesen, das ein Wesen im zuvor genannten Sinne hat – sei es (als irdisches/körperliches/menschliches Wesen, Lebewesen usw.) sinnlich erfahrbar oder (als übersinnliches/höheres/göttliches Wesen, Traumwesen usw.) ein Gegenstand der Vorstellung oder des Glaubens. Ferner heißt eine Gesamtheit von Handlungen Wesen (man kann sein Wesen/Unwesen treiben und ein großes Wesen/viel Wesens/Gewese um jemanden/etwas oder von jemandem/etwas machen); schließlich kann das Wort auch einfach ein Synonym für Bereich, Sektor sein (in Zusammensetzungen wie Bankwesen, Postwesen, Rechtswesen, Münzwesen usw.). Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit bezeichnete Wesen zudem eine Gesamtheit von Eigentum, Gütern sowie den Zustand einer Sache: Hausbesitzer mussten auf behördliche Anordnung ihr Wesen (›Anwesen, Grundstück‹) stets in gutem baulichem Wesen halten (›baulich in Stand halten‹), desgleichen die Hauswirtschaft (jemandem das Wesen führen, Hauswesen), die Lebensweise (ein ehrliches/ehrsames/lasterhaftes/liederliches Wesen führen) und den gesellschaftlichen Stand (in adeligem/handwerklichem/ehelichem Wesen leben), und man konnte auch sagen, jemandes Wesens (›Bleibens‹) sei irgendwo nicht länger oder jemand solle an einem Ort sein häusliches/heimliches/wohnliches Wesen (›Bleibe, Quartier‹) nehmen.

Allen diesen teilweise sehr unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten (besonders deutlich der zuletzt genannten) liegt eine gemeinsame Vorstellung zu Grunde: die des Bleibens, Dauerns. Das althochdeutsche Verb wesan hieß ursprünglich genau dies: ›bleiben, dauern, verweilen‹; es geht auf eine rekonstruierte indoeuropäische Wurzel ues- oder hwes- ›verweilen, wohnen übernachten‹ zurück. Verwandt ist das Verb währen (›dauern‹). Das Wesen ist ursprünglich das im Wechsel der Erscheinungsformen Gleichbleibende, dasjenige, was sich nicht ändert.    ⋄    Jochen A. Bär

(217) 5. August – Bagaluten

Wer in die gängigen Wörterbücher schaut, sucht unser heutiges Wort (vorgeschlagen von Audra Brinkhus-Saltys aus Bakum) vergebens. Selbst das Wörterbuch der deutschen Umgangssprache von Heinz Küper, das zwar selten wissenschaftlich belastbare Informationen liefert, in der Regel aber doch zumindest die Wörter listet und phantasievoll kommentiert, lässt uns im Stich.

Schon 2003 hatte die Gesellschaft für deutsche Sprache (seit Juni 2014 ist sie auch in Vechta vertreten) in ihrer Zeitschrift Der Sprachdienst eine Preisaufgabe ausgeschrieben, die allerdings keine brauchbaren Ergebnisse lieferte: „Zielführende und schlüssige Hinweise zur Deutung des Ausdrucks Bagaluten haben sich leider nicht ergeben.“ Vermutet worden war unter anderem, dass es sich um eine Verballhornung von Bakkalaureaten (›umherziehende, Possen treibende Scholaren des Spätmittelalters‹) handeln könne. Ebenfalls „angeboten“ wurde eine Verbindung zur Sprache der Gola bzw. Gula (Sierra Leone, Liberia bzw. Angola), in der das Wort bakaloo, bakalu oder bacaloo im Sinne von ›böse, verachtenswert‹ vorkomme, was über Sklaven und Hafenarbeiter seinen Weg nach Europa gefunden haben könne.

Dem offenbar gängigsten Erklärungsansatz hat sich die Internet-Enzyklopädie Wikipedia angeschlossen: „Bagalut, auch Bagalute, kommt aus der norddeutschen Umgangssprache bzw. dem Niederdeutschen, und bedeutet so viel wie ›Rüpel‹ oder ›Radaubruder‹, aber auch ›Schuft‹ oder ›Kleinkrimineller‹, jedoch mit einer derb-kameradschaftlichen Note. [...] Vermutet wird das Hervorgehen aus dem englischen bag o’loot (›Beutel voller Diebes- oder Plündergut‹) in alten Seefahrertagen. Ebenso ist bag o’louts (lout ›Lümmel, Rüpel, Flegel‹) als etymologische Wurzel nicht auszuschließen.“ Und weiter heißt es: „Die Mitglieder der Band Torfrock bezeichnen sich als Bagaluten. Deren Gründungsmitglied Klaus Büchner liefert auf Konzerten denn auch gerne die Erklärung für alle Nicht-Norddeutschen, was Bagaluten nun eigentlich sind: ‚Im Leben gibt’s die Bösen und die Guten. Und die dazwischen, das sind die Bagaluten.‘“

Die Studentinnen und Studenten der Germanistik an der Universität Vechta wundern sich jetzt wahrscheinlich, denn es wird ihnen gleich zu Beginn ihres Studiums eingeschärft, dass sie die Wikipedia nicht zitieren sollen, weil man dort oft Unsinn und Fehlinformationen liest. Merke: Wissenschaft bedeutet nicht gehorchen, sondern selber denken. Wer Sinn und Unsinn, Fakt und Fiktion zu unterscheiden versteht – im Fall von Bagaluten heißt das: wer am Ende nochmals darauf hinweist, dass die Wortherkunft dennoch ungeklärt ist –, darf auch hier und da die Wikipedia heranziehen.    ⋄    Jochen A. Bär

(218) 6. August – Kröte

Sollte man es glauben? Ein Alltagswort wie Kröte lässt, was seine Herkunft angeht, die Sprachwissenschaft im Dunkeln tappen. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, das einen über fünf eng bedruckte Spalten langen Artikel Kröte enthält, finden sich nur ein paar Vermutungen – unter anderem die, dass es mit dem gotischen usgrudja (›träge, schlaff‹) verwandt sein könnte, „da die kröte, dem hüpfenden frosche gegenüber, mit dem sie jeder vergleicht kriechend und lauernd träge erscheint“. (Rechtschreibung und Zeichensetzung sind original; sie entsprechen den von Jacob Grimm herrührenden Gepflogenheiten des Deutschen Wörterbuchs.) Tatsache ist, dass das nur im Deutschen und teilweise im Niederländischen vorkommende Wort seit dem Althochdeutschen in so vielen verschiedenen Formen belegt ist, dass man alles und nichts dahinter vermuten kann.

Für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen wurde Kröte von OV-Geschäftsführer Christoph Grote, der Wörter mit Umlaut – besonders solche mit ö und ü – gern mag und den Klang des Wortes Kröte lustig findet.

In Süddeutschland heißt die Kröte ohne Umlaut Krott. In einer schwäbischen Gemeinde hielt einmal ein Biologieprofessor einen Vortrag über Natur- und Umweltschutz und rief die Bevölkerung dazu unter anderem dazu auf, Feuchtbiotope anzulegen. Auf dem Heimweg fragte der Herr Häberle, der es nicht so ganz mitbekommen hatte, seinen Nachbarn, den Herrn Dimpflinger: „Was isch na des, ä Biotop?“ – Antwort: „Ha, des isch ä Krotteloch.“

Man kann Kröte freilich nicht nur im eigentlichen Sinne (nämlich in der Bedeutung ›Froschlurch‹, zoologielateinisch: ›Bufo‹) gebrauchen, sondern auch im übertragenen Sinne für Geld. In dieser Bedeutung kommt das Wort nur im Plural vor: meine letzten paar Kröten. Woher diese Verwendungsweise kommt, ist ebenso unklar wie die Wortherkunft überhaupt. Das Etymologische Wörterbuch des Deutschen von Wolfgang Pfeifer mutmaßt, es könne vom Bild der Schildkröte auf altgriechischen Münzen abgeleitet sein, Heinz Küpper im Wörterbuch der deutschen Umgangssprache hingegen, es könne aus niederdeutsch Grote (›Groschen‹) „entstellt“ sein.

Die im Mittelalter und der frühen Neuzeit verbreitete volksabergläubische Annahme, dass Kröten Gift speien, führte zu der Übertragung des Wortes auch auf Menschen. So können insbesondere bösartige („giftige“) Personen als Kröte bezeichnet werden (z. B. du kleine/durchtriebene/giftige/ekelhafte Kröte!). Das in Süddeutschland mit anlautendem k gesprochene grottig (›schlecht‹) hingegen hängt nicht mit Krott (›Kröte‹), sondern mit Grott (›Schlamm, Moder, Abfall‹) zusammen.    ⋄    Jochen A. Bär

(219) 7. August – Apostroph

Hilde Post aus Vechta hat Apostroph für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen. Das Wort steht für ein „Häkchen, das den Ausfall eines Lautes oder einer Silbe kennzeichnet“ (so der große Duden). Es ist ein sprachwissenschaftliches Fachwort, das auf das griechische apostréphein (›abwenden, abfallen‹) zurückgeht. In der Rhetorik kennt man zu derselben Wortbildungsbasis auch noch die Apostrophe. Darunter wird ein Stilmittel verstanden – die Hinwendung des Redners zum Publikum oder zu abwesenden Personen, manchmal auch die Anrede des Redegegenstandes selbst: „O Apostroph, was hast du unter der mangelnden Beherrschung der Zeichensetzung in diesem Lande zu leiden!“

Wie weithin bekannt, gibt es in diesem Lande einen intensiven laiensprachkritischen Diskurs (zu Deutsch: Leute, die selbst keine Ahnung von Sprache haben, regen sich über die Sprachfehler anderer Leute auf), in dem der Apostroph eine herausragende Rolle spielt. Grund: Auf Werbeplakaten, in Zeitungstexten, im Internet, allenthalben werden Apostrophe falsch gesetzt. Beispielsweise bei „Andrea’s Bierstube“. – Man denkt, das sei doch sinnvoll, weil man ja ,Andrea ihre Bierstube‘ von ,Andreas seiner Bierstube‘ unterscheiden können muss. Der Apostroph gehört aber halt nicht bei Andrea hin, sondern bei ihrem Bruder: „Andreas’ Bierstube“ wäre korrekt. Andrea sollte apostrophlos zapfen („Andreas Bierstube“).

So etwas wie „Schmidt’s Schnauze“, „Königsberger Klop’s“ oder „in Vechta gibt es nette Café’s“ ist orthographisch falsch und teilweise völlig ungrammatisch. Noch schlimmer wird es bei Schreibungen wie „im Herzen Thüringen‘s“, „Oma´s Geburtstag“ oder „neue und gebrauchte Auto`s“, weil dabei sogar noch die Zeichen als solche falsch sind. Ein Apostroph ist gewissermaßen ein hochgestelltes Komma: ’. Um 180 Grad verschieden ist das einfache Schlusszeichen (‘), und auch die Akzentzeichen Akut (französisch: accent aigu: ´) und Gravis (französisch: accent grave: `) sind etwas ganz anderes als der Apostroph.

Dennoch: Obwohl so viele Menschen keine Ahnung von Apostrophen haben, sind landläufige Bezeichnungen wie Deppenapostroph oder Idiotenapostroph nicht angebracht. Denn mangelnde Rechtschreibung hat mit mangelnder Intelligenz nun mal nichts zu tun. Eher mangelndes Denken. „Der Apostroph, ein geschundenes Wesen. Was muß dieses kleine Satzzeichen alles mitmachen“, liest man auf der Internetseite www.apostroph.de. Liebe Leute, ein Apostroph ist kein Satzzeichen! Satzzeichen dienen dazu, Sätze zu gliedern. Ebenso wie Bindestriche (die übrigens immer wieder gern mit Gedankenstrichen verwechselt werden), klassifiziert man Apostrophe besser als „Wortzeichen“.    ⋄    Jochen A. Bär

(220) 8. August – schmuddelig

„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“, sang Franz Josef Degenhardt. Das Lied handelt von einem Jungen aus „besserem Hause“, der von seiner Familie gezwungen wird, seine Freunde aus der Unterschicht zu meiden und Karriere zu machen. In seinem gleichnamigen Album von 1965 prangerte der Liedermacher mehrfach die Spießigkeit der Nachkriegszeit an und wies voraus auf die Studentenbewegung, die wenige Jahre später zum Angriff auf die Mentalität der bürgerlichen Gesellschaft blies.

Schmuddelkind steht im Duden: Es handelt sich dabei um ein „umgangssprachlich abwertend[es]“ Wort, das so viel bedeutet wie ›schmutziges Kind, das sich auf der Straße aufhält, herumtreibt‹. Das zugrunde liegende Verb schmuddeln stammt aus dem Niederdeutschen. Es ist eine Weiterbildung zu mittelniederdeutsch smudden ›schmutzen‹ und bedeutet ›unsauber, schlampig arbeiten; nachlässig, unordentlich mit etwas hantieren und dabei Schmutz machen‹, aber auch ›leicht schmuddelig werden, schmutzen‹ (das weiße Kleid schmuddelt schnell). Zurückzuführen ist schmuddeln, aber auch die verwandten Wörter Schmutz, Moder, niederdeutsch Modder sowie Moos auf eine indoeuropäische Wurzel meu- oder mu- mit der Bedeutung ›feucht, moderig; beschmutzen‹.

Zu schmuddeln kennt die deutsche Sprache eine ganze Reihe von Ableitungen und Weiterbildungen, so beispielsweise der Schmuddel (›an etwas haftender, etwas bedeckender unangenehmer, klebriger, schmieriger Schmutz‹, Schmuddelecke, Schmuddelei, das Adjektiv schmuddelig, das von Dr. Sigrid Heising für unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ vorgeschlagen wurde, das bereits erwähnte Schmuddelkind, aber auch das Schmuddelwetter. Letzteres lässt sich inhaltlich wohl am ehesten mit dem niederdeutschen smuddern in Verbindung bringen, das neben ›sich/etwas besudeln‹ auch ›fein regnen‹ bedeutet.

Die Wortsippe um schmuddeln scheint beliebt zu sein, wohl vor allem aufgrund des lautmalerischen Klangs der Wörter, die sich anhören, als ob sich ein Hund schüttelt. „Schmuddelbuddel baut ein Haus“, pflegt eine Kollegin meiner Frau zu sagen, wenn jemand bei Tisch gekleckert oder sonstwie Schmutz gemacht hat. Offenbar handelt es sich dabei aber um eine anverwandelnde Wiedergabe des Buchtitels Schnuddelbuddel baut ein Haus des Kinderbuchautors und Schriftstellers Horst Eckert, besser bekannt als Janosch.    ⋄    Jochen A. Bär

(221) 9. August – attraktiv

Sollte sich wirklich jemand ernsthaft fragen, ob es statt eines Fremdwortes ein deutsches Wort gibt, das genau das Gleiche bedeutet, so haben wir bei attraktiv einen Tipp: anziehend. Denn attraktiv, das über das Französische (attractif) aus dem Spätlateinischen (attractivus) zu uns gekommen ist, geht zurück auf das lateinische attrahere, wörtlich ad-trahere, (›an‹ + ›ziehen‹). Findet man jemanden attraktiv, so kann man in der Tat dafür auch anziehend sagen; die Bedeutung ist hier genau die gleiche.

Die Bedeutung eines Wortes ist das, was man – üblicherweise – damit meint. Sprachwissenschaftlich gedacht: eine bestimmte (in der Regel ziemlich große) Menge von anderen Wörtern, die jeweils in einer bestimmten Beziehung zu ihm stehen. Bei einem Wort wie Kuh beispielsweise Säugetier, Paarhufer, Rind, Stier, Kalb, Milch, geben, Euter, Horn, grasen, Weide, Stall usw. Es ist klar, dass die Beziehungen zwischen diesen Wörtern und Kuh jeweils unterschiedliche sind; man spricht von Hyperonymen („Oberbegriffen“: Säugetier, Paarhufer, Rind), Kompleonymen („Gegensatzwörtern“: Stier), Meronymen („Teil-Wörtern“: Euter, Horn) usw. Wenn die Menge der Beziehungen, in denen ein Wort steht, identisch ist mit der, in denen ein anderes Wort steht, dann lässt sich sagen, dass die beiden Wörter das Gleiche bedeuten: Sie sind synonym.

Kann man aber statt attraktive Reiseziele, attraktive Angebote oder attraktive Arbeitsbedingungen ohne weiteres auch anziehende Reiseziele usw. sagen? In unserer Kolumne Nr. 102 (schnieke) haben wir über die geringe Attraktivität der deutschen Hochschulsystems für Nachwuchskräfte sinniert. Man kann sagen, die Wissenschaft sei hierzulande für den Nachwuchs wenig attraktiv; würde man aber auch sagen, sie sei wenig anziehend? Eher nicht, und auch wenn man es umschreibt („hat hierzulande eine geringe Anziehungskraft“), kommt sinngemäß etwas leicht anderes dabei heraus. Merke: Fremdwörter sind nie überflüssig, sondern in aller Regel eine Bereicherung der Ausdrucksmöglichkeiten – sei es im Bedeutungsspektrum oder für stilistische Unterschiede.

Attraktiv wurde für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen von meinem Vechtaer Kollegen Prof. Wolfgang Mechsner. Für seine Vorschläge – Atmosphäre, attraktiv, ausgewogen, beste, exzellent, gewachsen, Identität, international, kulturell, modern, persönlich, regional, Selbstverständnis, Struktur, vertraut, weltweit – hat er den Werbetext auf der Homepage der Universität Vechta genommen und einfach nur die typischen PR-Schlagwörter notiert. Eine feinsinnig-subversive Idee. Intellektuell attraktiv!    ⋄    Jochen A. Bär

(222) 10. August – Jähzorn

Eigentlich weiß jeder, der das Deutsche einigermaßen beherrscht, was unter dem heutigen Stichwort, Jähzorn, zu verstehen ist, oder er kann es sich zusammenreimen, wenn er weiß, was jäh bedeutet und was Zorn. Wozu dann in den Wörterbüchern nachschlagen und nach Belehrung über etwas suchen, was einem bereits bekannt ist? Das tun nur Leute wie Jochen A. Bär, der Initiator dieser Serie, und seine Unterstützer (und finden, wie gelegentlich zu hören ist, dafür Interesse bei einer gewissen Sorte von Lesern dieser Zeitung und darüber hinaus). Zum Wörterbuch greifen aber auch und vornehmlich Menschen, denen die Bedeutung eines Wortes nicht vor Augen steht oder die sich unsicher sind, ob sie es recht verstehen und gebrauchen. Dies betrifft vor allem Leute, die das Deutsche als Fremdsprache lernen, und andere, die in die Sprache hineinwachsen – da könnte sich der Griff zum Wörterbuch lohnen. Und natürlich für alle bei Fremd- und Neuwörtern (aber mal ehrlich: Wann haben Sie zuletzt zum Wörterbuch gegriffen?). Bei Jähzorn handelt es sich aber weder um ein Fremd- noch ein Neuwort (eher das Gegenteil), und wenn der heutige Kolumnist nachschlägt, so nur, um seine Pflicht zu erfüllen – so dachte er jedenfalls am Anfang.

Im DWDS-Wörterbuch (im Internet), das auf das 1961 bis 1977 in der DDR erschienene Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache zurückgeht, wird das Wort mit ›plötzlich ausbrechender, wilder Zorn‹ definiert. Das Grundwort Zorn taucht in der Definition wieder auf – eigentlich ein Verstoß wider das Gebot, Unbekanntes nicht mit Unbekanntem zu erklären, denn nun müsste sich der, der nicht weiß, was unter Zorn zu verstehen ist, unter diesem Stichwort schlaumachen. Besser wird er in dieser Hinsicht in Wahrigs Deutschem Wörterbuch“ bedient: Jähzorn ›plötzlich auftretende Wut‹. Wenn er aber nun nicht weiß, was Wut ist? Dann schlägt er unter diesem Stichwort nach und erfährt: Wut ›heftiger Zorn‹. Wir sind unversehens in die Problematik jedes Wörterbuchs geraten, in dem die Wörter einer Sprache durch andere Wörter derselben Sprache erklärt werden. Man spricht vom „Circulus vitiosus“, dem Teufelskreis: Wut ist Zorn, und Zorn ist Wut. Bloß gut, dass man seine Muttersprache nicht aus dem Wörterbuch erlernen muss, sondern sie zum größten Teil im handelnden Umgang mit Mensch und Welt erwirbt.

Auch das hier des Öfteren herangezogene Duden-Universalwörterbuch enthält in der Definition das zu definierende Wort, ›plötzlich ausbrechender Zorn‹, fährt dann aber fort: ›... der auf einer Neigung zur Heftigkeit beruht und durch einen bestimmten Vorfall ausgelöst wird‹. Durch diesen Zusatz wird die Bedeutung des Wortes sehr viel genauer erfasst, aber wohl noch nicht ganz. Mit Jähzorn kann ein plötzlicher Ausbruch, ein Wutanfall, gemeint sein, es kann aber auch die Neigung, die in der Persönlichkeit eines Menschen angelegte Disposition zu solchen blindwütigen Ausbrüchen gemeint sein. Der Wahrig versucht beides zu erfassen: ›heftige Erregbarkeit, plötzlich auftretende Wut‹. Elegant ist die Definition in Pauls Deutschem Wörterbuch (10. Auflage, 2002): ›unbeherrschter Wutausbruch bzw. Neigung dazu‹. Was jeweils gemeint ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang: „in wildem Jähzorn zuschlagen“ (Wutausbruch), „von seinem Jähzorn übermannt werden“ (Neigung).

Vielleicht war der Einsender des heutigen Wortes gar nicht so sehr an den obigen Bedeutungsquisquilien interessiert, sondern mehr an der Herkunft des Wortes bzw. seiner Bestandteile (ein häufiger Beweggrund für den Griff zum passenden Wörterbuch). Zu lesen ist, dass die weitere Herkunft von Zorn unbekannt ist. Das Adjektiv („Eigenschaftswort“) jäh lautete im Mittelhochdeutschen gaehe, im Althochdeutschen gahi. Das heutige j im Anlaut wird auf mundartliche Aussprache des g zurückgeführt. Man denke an jwd – berlinerisch für ›janz weit draußen‹.    ⋄    Wilfried Kürschner

(223) 11. August – Ungemach

Wenn man dieser Tage gegenüber CSU-Mitgliedern das Wort Modellauto ausspricht ... wenn in der Wettervorhersage von „schweren Unwettern“ die Rede ist ... wenn das Ministerium in Hannover eine neue Hochschulreform ankündigt ... dann droht Ungemach.

Das dem gehobenen Sprachgebrauch zuzurechnende Substantiv Ungemach bedeutet ›Unannehmlichkeit, Ärger, Widerwärtigkeit, Kummer, Unglück, Not‹; es ist mit dem Negationspräfix un- zu dem Grundwort Gemach gebildet. Dieses gehört gleichfalls zum gehobenen Sprachgebrauch. Man versteht heute darunter erstens einen Wohnraum, ein Zimmer; zum Beispiel: Die gnädige Frau weilt in ihren Gemächern oder Goethes berühmtes Mignon-Lied aus dem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), wo es heißt: „Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach, / Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach“. Zweitens heißt Gemach so viel wie ›Bequemlichkeit, Ruhe, Gelassenheit‹, kurzum: der Zustand, in dem man sich befindet, wenn man gemächlich ist: Gemach, Gemach! (›Nur die Ruhe!‹).

Gemach ist ein bereits im Althochdeutschen bekanntes Wort, das zunächst wohl ›Einrichtung, Gestaltung, Zustand, Verhältnis‹ oder Ähnliches bedeutete, insbesondere ›glücklicher, schöner Zustand‹, zum Beispiel im Himmel. Es kommt von dem bis heute als Allerweltswort gebräuchlichen machen, das ursprünglich wohl ›zusammenfügen, kneten‹ bedeutete. Man verwendete es zunächst im Zusammenhang mit Brotteig oder auch mit Lehm, später erweiterte sich dann die Bedeutung im Sinne von ›verfertigen, zubereiten, einrichten‹, so dass bei Gemach die Bedeutungen ›Wohnraum‹ oder auch ›Zustand, in dem man es gut, bequem hat‹ verständlich werden.

Sowohl gemach als auch ungemach waren früher auch Adjektive: gemach oder auch allgemach bedeutete ›gemächlich, ruhig, unangestrengt, langsam, nach und nach‹, ungemach gehörte in den Gegensatzbereich (›unbequem, mühsam, berunruhigend‹): ein ungemach läger (›unbequemes Lager‹) kennt beispielsweise Martin Luther, von ungemachen werken (›anstrengender, harter Arbeit‹) ist bei dem Barockdichter Martin Opitz die Rede. So völlig ausgestorben kann dieser Sprachgebrauch allerdings bis heute nicht sein: Das Adjektiv ungemach hat Marlies Middelbeck (Universität Vechta) für unsere Kolumne vorgeschlagen.    ⋄    Jochen A. Bär

(224) 12. August – Altan

Ein Wort das man heutzutage kaum noch kennt, erklärt man am besten durch ein anderes Wort, das man heutzutage kaum noch kennt: Ein Altan (so steht es auch im Duden): das ist ein Söller.

Alles klar? Natürlich nicht; wie gesagt: beide Wörter sind mittlerweile außer Gebrauch und finden allenfalls noch fachsprachlich Verwendung. Das Wort Altan, dem man das Fremdwort im wahrsten Sinne des Wortes anhört (die Betonung liegt anders als bei ursprünglich deutschen Wörtern, auf der Nebensilbe), kommt vom lateinischen altus (›hoch‹) und bedeutet ›vom Erdboden aus gestützter balkonartiger Anbau‹. Das Gleiche bedeutet auch Söller, ein sehr deutsch aussehendes und klingendes Wort, das aber ebenfalls aus dem Lateinischen kommt. Zugrunde liegt lateinisch solarium in der Bedeutung von ›Ort, welcher der Sonneneinstrahlung ausgesetzt ist‹. Man erkennt an dem Wortpaar Altan und Söller sehr schön den Unterschied zwischen einem Fremdwort (Altan) und einem so genannten assimilierten Lehnwort (Söller), das so eingedeutscht ist, dass man ihm die fremde Herkunft nicht mehr ansieht.

Altan und Söller haben zwar gleiche Bedeutungen, sind aber deshalb noch lange nicht gleichbedeutend. Wie das gehen soll? Ganz einfach: Söller weist neben ›vom Erdboden aus gestützter balkonartiger Anbau‹ noch mindestens zwei weitere Bedeutungen auf, die Altan nicht kennt: ›Dachboden‹ und (in der Schweiz) ›Fußboden‹.

In der Literatursprache des 19. Jahrhunderts war Altan ein durchaus gängiges Wort. Der Ur-Brockhaus von 1809 erklärt nicht etwa Altan, sondern mittels dieses Wortes das Wort Plattform: „Die Plate-Forme (a[us] d[em] Franz[ösischen]): der Altan auf einem Hause; ein flaches Dach, worauf man umhergehen kann.“

Sieht man übrigens nicht nur in die Wörterbücher, sondern in die literarischen Zeugnisse selbst, so stellt man fest, dass Altan offenbar noch eine ganz andere Bedeutung hatte: ›Zwerchhaus‹ (ein quer zum Giebel aus dem Dach hervortretender, in einer Ebene mit der Fassade abschließender Gebäudeteil in der Form eines Häuschens; vgl. unsere Kolumne Zwerchfell vom 25. März). So berichtet Goethe in einem Brief an Charlotte von Stein: „Mir hat Philipp noch einen Eyerkuchen gebacken und drauf hab ich [mich] in blauen Mantel gehüllt auf die Altan, an den Boden in ein trocken Winckelgen gelegt und im Bliz Donner und Regen herrlich geschlummert, dass mir sogar mein Bett nachher fatal war.“ Offenbar ist Altan hier kein offener Dachbalkon, sondern eine Dachgaube. An anderer Stelle heißt es entsprechend: „Ich hatte mich um achte auf einen Strohsack im Altan Stübgen niedergelegt und war glücklich eingeschlafen“.    ⋄    Jochen A. Bär

(225) 13. August – Axtstiel

Die deutsche Sprache wird – aus der Sicht von Sprachen wie dem Italienischen oder auch dem Japanischen – oft als hart klingend beschrieben. Einer der Grund dafür ist, dass im Deutschen das Verhältnis von Vokalen und Konsonanten weniger ausgewogen ist als in anderen Sprachen: Unsere Wörter weisen prozentual mehr Konsonanten als Vokale auf. Manchmal sogar in ausgefallenen Kombinationen. Während zum Beispiel im Polnischen die ebenfalls kompliziert anmutende Buchstabenfolge prz (unter anderem in dem Vornamen Przemyslaw) einfach als psch ausgesprochen wird, kennt das Deutsche abstruse Kombinationen wie pfschm (in Kopfschmerz) oder auch kstst (gesprochen: kstscht: in Axtstiel). Für Menschen, in deren Muttersprachen Vokale und Konsonanten immer nur abwechselnd vorkommen, ist so etwas tatsächlich kaum auszusprechen.

Das Wort Axtstiel kommt in den uns zur Verfügung stehenden Quellen zur deutschen Literatur (über 500 Autoren von Martin Luther bis Kurt Tucholsky, mehr als 600.000 Seiten) immerhin siebenmal vor. Am bekanntesten ist wohl der Beleg aus Theodor Fontanes Ballade Der Tag von Hemmingstedt, welche die Schlacht besingt, in der am 17. Februar 1500 die Dithmarscher Bauern das Heer des Dänenkönigs besiegten. Der Bauer Reimer soll dabei seine Streitaxt in den Brustpanzer eines Ritters geschlagen und ihn auf diese Weise vom Pferd gezogen haben: „Da riß der Reimer und wuchtete [...] am Axtstiel ihn hernieder“.

Die beiden Wortbestandteile haben auch für sich eine interessante Geschichte. Axt (›scharfes Hauwerkzeug‹) kannte man – als ackus bzw. ackes – bereits im Alt- und Mittelhochdeutschen. Ob es sich dabei um ein altes indoeuropäisches Wort handelt, das mit Achse und Achsel verwandt ist (dann wäre die ursprüngliche Bedeutung ›die Schwingende‹) oder ob es sich, wie man auch vermutet hat, um eine frühe Wortentlehnung aus einer kleinasiatischen Sprache handelt, ist bis heute in der Forschung umstritten. Das auslautende t, das auch bei Wörtern wie Habicht und Obst vorkommt, wurde seit dem 13. Jahrhundert fester Wortbestandteil, die Schreibung mit x setzte sich spätestens im 16. Jahrhundert durch.

Das Wort Stiel ›Pflanzenstengel‹, auch ›Griff eines Werkzeugs‹ ist bereits im 8. Jahrhundert aus lateinisch stilus (›Pfahl, Stengel‹) entlehnt worden – aus demselben Wort, das (in der Bedeutung ›Schreibgriffel‹) im 15. Jahrhundert noch einmal übernommen wurde und uns heute als Stil (›Schreibart‹) bekannt ist. Seinen Stil an dem Wort Stiel zu schärfen, ist daher besonders naheliegend – zumal wenn es ein Axtstiel ist.    ⋄    Jochen A. Bär

(226) 14. August – Stoppelmarkt

Lesern dieser Zeitung braucht wohl niemand zu erklären, was es mit dem Stoppelmarkt auf sich hat. Jeder weiß, dass er Mitte August stattfindet, immer unter Einschluss des katholischen Feiertages Mariä Himmelfahrt (am 15.) oder, wenn dieser Tag auf einen Mittwoch fällt, vom Donnerstag darauf bis zum nächsten Dienstag. Man hört und liest auch (www.stoppelmarkt.de), dass es sich mit 800.000 Besuchern (wer die nur alle gezählt hat?) um einen der größten Märkte in Nordwestdeutschland handelt.

Nun könnte ein Außenstehender fragen, wie es angehen kann, dass an sechs Tagen so viele Leute einen Markt aufsuchen, wenn er dem Verständnis des Wortes Markt folgt, wie es etwa im Universalwörterbuch des Duden niedergelegt ist: ›Verkaufsveranstaltung, zu der in regelmäßigen Abständen an einem bestimmten Platz Händler und Händlerinnen [!] zusammenkommen, um Waren des täglichen Bedarfs an (fliegenden) Ständen zu verkaufen‹. Das trifft zwar auf den Vechtaer Stoppelmarkt auch zu, aber man sucht ihn in erster Linie doch nicht deshalb auf, um „Waren des täglichen Bedarfs“ zu kaufen und schon gar nicht „an fliegenden Ständen“. Zwar kann man dort auch Einkäufe tätigen, der Hauptzweck des Stoppelmarktbesuchs ist aber das Vergnügen, das kein bloßer Markt, wohl aber ein Jahrmarkt bietet. Ein Jahrmarkt ist, wie es in Wahrigs Deutschem Wörterbuch heißt, ein ›(zu bestimmten Zeiten) jährlich stattfindender Markt mit Karussells, Schaustellungen usw.‹ (in Vechta mit Betonung des „und so weiter“). Richtig müsste unser Zentralereignis also „Stoppeljahrmarkt“ heißen. An eine Umbenennung ist aber überhaupt nicht zu denken. Denn er trägt seinen Namen seit seiner Verlagerung vor die Tore der Stadt im Jahre 1577 (um der Pest zu entgehen – die Anfänge liegen über 700 Jahre zurück).

Das Vorderglied, Stoppel, besagt, dass der Markt an oder auf den gemähten Feldern abgehalten wird, auf denen vor dem Umpflügen noch die Stoppeln stehen, die ›nach dem Mähen stehengebliebenen Halmreste‹. Ursprünglich handelte es sich, wie es Franz Hellbernd in seiner verdienstvollen Marktgeschichte darstellt, um einen Markt im erstgenannten Sinn, den wir uns aber nicht wie einen heutigen Wochenmarkt – einen ›regelmäßig an einem oder mehreren Wochentagen stattfindenden Markt (besonders für Gemüse, Obst, Geflügel, Blumen)‹ – vorstellen sollten; es handelte sich vielmehr und für lange Zeit um einen Markt mit einem viel umfassenderen Warenangebot und -umschlag.

Die beiden Bestandteile des Wortes stammen übrigens aus dem Lateinischen. Stoppel geht zurück auf stupula/stipula, ›(Stroh-)Halm‹. In die Hochsprache wurde es in seiner niederdeutschen Form übernommen, sonst müsste es „Stopfel“ heißen (wie man am Beispiel AppelApfel sehen kann). Markt kommt aus dem lateinischen mercatus (›Handel, Markt‹), das zugrundeliegende Verb („Tätigkeits-, Zeitwort“) ist mercari (›Handel treiben‹) und gehört zu merx („merks“), ›Ware‹. Beide Bestandteile kommen uns nicht mehr wie Fremdwörter vor, sie sind völlig eingedeutscht.

Man spricht von Lehnwörtern, die wie viele andere mehr zeigen, dass die Römer, was Landwirtschaft, Handel und vieles andere angeht, unseren Vorfahren so überlegen waren, dass diese Vorhandenes mit Wörtern aus dem Lateinischen benannten und bei neuen Sachen nicht nur diese, sondern dazu auch gleich die Benennungen übernahmen (wie wir es jetzt auch tun, aber aus dem Englischen, dem neuen Latein: aus dem Schlussverkauf wird der Sale, das Internet haben wir so übernommen, nur die Freaks sprechen vom Netz).    ⋄    Wilfried Kürschner

(227) 15. August – Leumund

In unserer Kolumne Nr. 17 vom 17. Januar hatten wir alle Wörter vorgestellt, die sich auf und reimen, darunter Mund, Leumund und Vormund. Die beiden letztgenannten sind keine Zusammensetzungen mit Mund, sondern ganz eigenständige Wortbildungen. In Vormund steckt das alte Wort Mund oder Munt (nicht der, sondern die Mund/Munt), das so viel wie ›Schutz, Rechtsschutz, Schirm‹ bedeutet. Der Vormund (althochdeutsch foramundo) ist somit nicht derjenige, der für jemanden spricht (›den Mund öffnet‹), sondern derjenige, der jemanden rechtlich beschützt. Verwandt sind Mündel (›Person, die unter jemandes Vormundschaft steht‹) und das Wort Münter, das heute allenfalls noch als Familienname vorkommt (beispielsweise bei der expressionistischen Malerin Gabriele Münter). Ebenfalls verwandt ist das Verb verleumden, eine Verkürzung aus verleumunden.

Leumund, mittelhochdeutsch liumunt, althochdeutsch (h)liumunt hingegen ist verwandt mit laut und bedeutet eigentlich ›das Gehörte‹. Dem großen Dudenwörterbuch zufolge ist Leumund der ›gute oder schlechte Ruf, in dem jemand aufgrund seines Lebenswandels bei seiner Umgebung steht‹. Jemand hat einen guten oder schlechten Leumund, man kann jemandem einen einwandfreien Leumund bescheinigen oder auch ein Leumundszeugnis ausstellen; die Wendung böser Leumund bedeutet so viel wie ›üble Nachrede; Verleumdung‹. „Alles andre war ihr jetzt gleichgültig, sie sann darauf, wie sie diesen bösen Leumund falscher Zungen zerstreue“, heißt es in Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter (1817).

Die ursprüngliche inhaltliche Nähe zu Ausdrücken wie Klatsch und Tratsch oder Gerede lässt sich auch an Belegen wie dem Folgenden erkennen: „Kein Leumund mehr über den Saufaus, den Sachsenwirt, der sein Vatererbe hinuntergegurgelt“ (Louise von François, 1868).

Heute bedeutet Leumund tatsächlich weniger ›Gerede über jemanden‹, sondern eher ›gesellschaftliches Ansehen‹. Hinreichend deutlich wird dies aus dem Bericht eines Privatdetektivs an einen Auftraggeber: „Der Angefragte hat seit einigen Jahren eine Vertretung für Schweinefutter, davon lebt er zusammen mit seiner Familie. Mütterlicherseits ist ihm nichts nachzusagen, väterlicherseits aber säuft er. Leumund hat er fast gar keinen mehr. Er macht zunächst einen ungünstigen Eindruck, verliert aber bei näherer Bekanntschaft.“    ⋄    Jochen A. Bär

(228) 16. August – Sommerfrische

Das zusammengesetzte Wort Sommerfrische, vorgeschlagen von Heinz Plagemann aus Vechta, scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich zu sein. Man muss sich fragen: Wie kann es im Sommer frisch sein? Ist nicht der Sommer die heiße Jahreszeit? Muss es nicht also vielmehr Sommerhitze oder Winterfrische heißen? Aber eben diesen Widerspruch zwischen sommerlicher Hitze und erquickender Kühle will das heute veraltete Wort Sommerfrische ausdrücken. Noch im 19. Jahrhundert wurde es für die Flucht der Städter auf das Land, ins Gebirge oder an die See verwendet. Man erfrischte sich dort, wo Wälder Schatten spendeten oder eine frische Brise ging.

Sommerliche Landflucht war aber nicht schon immer gleichzusetzen mit „Erholungsaufenthalt der Städter auf dem Lande zur Sommerzeit“ oder „Landlust der Städter im Sommer“, wie das Wörterbuch der Brüder Grimm umschreibt. Schon in der Antike reiste der Adel auf das Land, jedoch nicht, um sich dort zu erholen, sondern um den landwirtschaftlichen Betrieb zu beaufsichtigen. Erst in der Neuzeit wurde es üblich, im Frühjahr das Stadtpalais zu verlassen und den Landsitz aufzusuchen, um dort beim Lustwandeln Kühlung zu nehmen. Später, mit Beginn der Industrialisierung, war es nicht mehr nur en vogue, die Stadt in den heißen Monaten zu verlassen, sondern geradezu lebensnotwendig: „Ja, wir fressen jetzt Staub hier, Tag für Tag, er dringt in alle Poren“, klagte 1895 im Juni der Schriftsteller Alfred Kerr und reiste nach Heringsdorf auf Usedom, einer ehemaligen Fischeransiedlung, aber damals schon ein Seebad.

Sommerfrische, das hieß Abstand vom Alltag: den Geist abschalten. Nicht selten zog diese Zeit der Zerstreuungen deshalb Ehekrisen nach sich, musste doch der Mann immer mal wieder in die Stadt zurück, um seinen beruflichen Pflichten nachzukommen. Was sich dann in Heringsdorf und anderswo am kühlen Gestade ereignete, nennt man heute Urlaubsflirt.

Sich nicht den Kopf verdrehen lassen und auch nicht den Verstand an der Garderobe abgeben, das wollte hingegen der Wiener Schriftsteller Arthur Schnitzler. Er mischte sich im Kurort Bad Ischl daher nicht unter die „herumsitzenden und quatschenden Sommerteppen und -teppinnen“, wie er die Sommerfrischler nannte, sondern arbeitete lieber – ebenso wie die Kolumnistin, während sie an einem heißen Sommertage in Leipzig diesen Text schreibt. Und heimlich von einem der vielen Ferienhäuser mit Namen „Sommerfrische“ träumt. Denn ist das Wort auch im Volksmund nicht mehr präsent, so ist es doch noch immer ein beliebter Namensbestandteil in der Sprache der Tourismusbranche.    ⋄    Pamela Steen

(229) 17. August – Tingeltangel

Unser heutiges Wort wurde von Elisabeth Möllers aus Lohne vorgeschlagen. Es handelt sich um eine jener ablautenden Wiederholungsformen, die in aller Regel lautmalerisch sind: klipp-klapp, pitsch-patsch, piff-paff, ding-dong, Ticktack (kindersprachlich ›Uhr‹), Flickflack (›Handstandüberschlag‹) oder eben Tingeltangel.

Wer bei Tingeltangel an eine Rummelbude denkt – zumal ja just in Vechta das Jahresereignis Nummer eins stattfindet: der Stoppelmarkt – irrt leider. Eher schon trifft es ›Essen mit Varieté‹, allerdings von der eher billigen Sorte: sei es das Essen oder das Varieté oder (meistens) beides. Der Blick ins große Dudenwörterbuch hilft weiter: Tingeltangel war ursprünglich berlinisch und stand für ein Café mit Musik-, Gesangsdarbietungen, genauer gesagt: lautmalend für die hier gespielte Musik. Das Wort war immer schon abwertend und ist heute zudem im Begriff zu veralten. Drei Bedeutungen des Wortes verzeichnet der Duden: 1. ›als niveaulos, billig empfundene Unterhaltungs-, Tanzmusik‹ (das Tingeltangel der Musikautomaten), 2. ›Lokal, in dem verschiedenerlei Unterhaltung ohne besonderes Niveau geboten wird‹ (sie arbeitet als Tänzerin in einem Tingeltangel) und 3. ›Unterhaltung, wie sie in einem Tingeltangel (im Sinne von 2) geboten wird‹: „hätte man das deutsche Tingeltangel [...] als exotische Attraktion präsentieren sollen?“ (Klaus Mann).

Nimmt man den Duden-Band 7 („Richtiges und gutes Deutsch“) zur Hand – eines der Standardwerke der Sprachberatung, das auch beim Vechtaer Sprachtelefon zum Alltag gehört –, so findet man dort zudem folgende Information: „Das Substantiv Tingeltangel kann sowohl maskulines als auch (österreichisch nur) neutrales Genus haben: der Tingeltangel oder das Tingeltangel. Die Formen lauten im Genitiv: des Tingeltangels, im Plural: die Tingeltangel.“

Von Tingeltangel abgeleitet oder besser gesagt rückgebildet ist übrigens ein Verb: tingeln. Es bedeutet ›als Akteur im Schaugeschäft abwechselnd an verschiedenen Orten bei Veranstaltungen unterschiedlicher Art auftreten‹ (Hannes hat jahrelang in verschiedenen Bars getingelt) und ›tingelnd (im gerade genannten Sinne) umherziehen oder umherreisen‹ (Hannes ist durch Kasinos und Kneipen getingelt). Wieder einmal sieht man: Verben der Bewegung bilden im Deutschen die Perfektform mit dem Hilfsverb sein (ist getingelt), solche, die für andere Handlungen stehen, mit dem Hilfsverb haben (hat getingelt).    ⋄    Jochen A. Bär

(230) 18. August – sintemal

Ein schönes, altes und heute nahezu ausgestorbenes Wort ist sintemal. Es bedeutet so viel wie ›weil‹ oder auch ›zumal‹: „Die Jünglinge [...] johlten gar geistreich [...]. Diese Töne hörte ich noch lange in der Ferne; doch die holden Sänger selbst verlor ich bald völlig aus dem Gesichte, sintemal sie ihre Pferde, die im Grunde einen deutsch langsamen Charakter zu haben schienen, gar entsetzlich anspornten und vorwärtspeitschten. Nirgends wird die Pferdeschinderei stärker getrieben als in Göttingen, und oft, wenn ich sah, wie solch eine schweißtriefende, lahme Kracke [...] abgequält ward oder wohl gar einen ganzen Wagen voll Studenten fortziehen mußte, so dachte ich auch: ‚O du armes Tier, gewiß haben deine Voreltern im Paradiese verbotenen Hafer gefressen!'“ (Heinrich Heine).

Sintemal ist eine Kontraktion („Zusammenziehung“) aus dem mittelhochdeutschen sint dem male (wörtlich: ›seit dem Zeitpunkt‹). Es ist heute, wie gesagt, völlig veraltet: so sehr, dass man es allenfalls noch scherzhaft verwenden kann: „sintemal und alldieweil“ anstelle von einfachem weil. In den digitalen Archiven des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, der größten Textsammlung zur deutschen Gegenwartssprache mit aktuell neun Milliarden Wörtern (das entspricht etwa 22,5 Millionen Buchseiten), finden sich für die Zeit zwischen 1994 und 2011 lediglich 34 Belege für sintemal, die meisten davon sind zudem Zitate aus der älteren deutschen Literatur, beispielsweise aus der Bibelübersetzung Martin Luthers. Einer der wenigen Fälle, in denen es sich um nicht zitierenden Wortgebrauch handelt, stammt aus der Wochenzeitung Die Zeit (27. 5. 2004): „Die Menschen lieben nun einmal die Logik. Sie gehört irgendwie dazu. Aber die Menschen lieben auch Anke Engelke, und hier wird es schwierig, fast drängt es auf eine Art Entscheidungskampf hin, sintemal Frau Engelke wiederum mit der Logik im Clinch liegt“. Auch das ist nicht etwa deutsche Standardsprache, sondern ironisch-geschraubte Bildungssprache.

Das mittelhochdeutsch sint (›seit, seitdem, nachher, später; weil‹) hat übrigens mit dem Sint- in Sintflut – bei dem Wetter der letzten Wochen liegt die Assoziation freilich nahe – nichts zu tun. Der Wortbestandteil sin- (das t wurde aus lautlichen Gründen später eingefügt) bedeutete ›all, ganz, gesamt‹. Die Sintflut war diejenige Flut, die laut Gen. 6-8 die ganze Erde überflutete. Die alte Form Sündflut, die man bei Autoren des 17. bis 19. Jahrhunderts häufig findet, ist eine spätere volksetymologische Umdeutung; dahinter steckt die Vorstellung, dass Gott die Menschen mit der „Sündflut“ für ihre Sünden strafen wollte.    ⋄    Jochen A. Bär

(231) 19. August – Anmut

Unser heutiges Wort ist – wieder einmal – eines, dessen Sinn sich im Laufe der Sprachgeschichte sehr verändert hat. In mittelhochdeutscher Zeit bedeutete der anmuot wörtlich den an etwas gesetzten Mut (›Sinn, Absicht, Bestreben‹), also die Lust, die Begierde auf etwas, das Vergnügen an etwas. Man konnte folglich einen anmut zu etwas haben. Unter fleischlichem anmut verstand man die sexuelle Begierde.

Auch die Anmut bedeutete zunächst ›Lust, Begierde, Verlangen‹, nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn. So schrieb im 16. Jahrhundert der Goldschmied und Wunderdoktor Leonhard Thurneysser, dass „die menschliche natur von jugent auf ein sonderliche, geistliche anmut, begierd und liebe hat zu den metallis“.

Im 18. Jahrhundert änderte sich dann die Bedeutung von Anmut (nur noch das Femininum, also die Anmut, war nun gebräuchlich): Das Wort stand nicht mehr für das Begehren, sondern für das Lust Erregende und Befriedigende, die Grazie. Wesentliche Impulse zu dieser Entwicklung gab die Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. So erklärte der Aufklärungsphilosoph Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771-1774): „Die allgemeine Bestrebung der schönen Kunst muß [...] dahin abzielen, alle Werke der Menschen [...] zu verschönern [...]. Sie muß der Natur zu Hülfe kommen, um alles, was wir zu unsern Bedürfnissen selbst erfunden haben, um uns her zu verschönern. Ihr kommt es zu, unsre Wohnungen, unsre Gärten, unsre Geräthschaften, besonders unsre Sprache, die wichtigste aller Erfindungen, mit Anmuth zu bekleiden [...].“

Einen der wichtigsten Beiträge zur Theorie der Anmut hat 1793 Friedrich Schiller in seinem Aufsatz Über Anmuth und Würde geliefert. In einer für ihn typischen Verbindung von Ästhetik und Ethik definiert er Anmut als die Schönheit der willkürlichen (›absichtlichen, willentlichen‹) Bewegung. „Willkührlichen Bewegungen allein kann“, so schreibt er, „Anmuth zukommen, aber auch unter diesen nur denjenigen, die ein Ausdruck moralischer Empfindungen sind. Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bey aller Willkührlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmuth erhebet.“

Mit anderen Worten: „Anmuth ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freyheit; die Schönheit derjenigen Erscheinungen, die die Person bestimmt. Die architektonische Schönheit macht dem Urheber der Natur, Anmuth und Grazie machen ihrem Besitzer Ehre. Jene ist ein Talent, diese ein persönliches Verdienst.“    ⋄    Jochen A. Bär

(232) 20. August – bräsig

Eine kleine Umfrage bei sprachinteressierten Mitmenschen hat Unsicherheiten hinsichtlich Bedeutung und Verwendung des heutigen Wortes, bräsig, ergeben, das Marlene Schwegmann vorgeschlagen hat. Einigen erschien die Definition im Duden-Universalwörterbuch einleuchtend: ›nicht imstande oder willens, sich auf jemanden oder etwas einzustellen; dickfellig‹. Andere fanden die des Wahrig’schen Deutschen Wörterbuchs zutreffender: ›behäbig, dösig, dümmlich‹, konnten aber wenig mit dem Beispielsatz „Sie hat sich bei der Klausur bräsig angestellt“ anfangen.

Einig sind sich die beiden Wörterbücher darin, dass das Wort aus dem Niederdeutschen in die Hoch- oder Standardsprache gelangt ist und eigentlich so viel wie ›kräftig, wohlgenährt‹ bedeutet. Dies wird von den Plattdeutschwörterbüchern bestätigt: ›wohlgenährt, mit roten Wangen versehen‹, heißt es in Wolfgang Lindows Plattdeutschhoch-deutschem Wörterbuch (1998), mit Verweis auf brösig: ›keck, stolz, übermütig‹. Der Neue Sass (2007) kennt dagegen nur die letztgenannte Variante.

Im maßgebenden Niedersächsischen Wörterbuch (das noch nicht abgeschlossen ist, sondern erst bis zum Stichwort Reise reicht) werden drei Unterbedeutungen aufgeführt: 1. ›prahlerisch, protzig, herausfordernd‹, 2. ›von Gesundheit strotzend‹, 3. ›wirr im Kopf‹. Wie es zu der Bedeutungsverschiebung im Hochdeutschen gekommen ist, wird nirgendwo erklärt – vielleicht steht im Hintergrund das Bild vom wohlgenährten, rotwangigen Bauern, der aber (vom sich überlegen dünkenden Städter) als geistig und charakterlich etwas minderbemittelt angesehen wird. Der Leser frage sich vor diesem Hintergrund einmal, wie er den Satz aus der Frankfurter Allgemeinen vom 23. Juli des Jahres versteht: „Wenn man Hunger hat und es schnell gehen muss, dann halten bräsige Leute bei McDonald’s den Betrieb mit ihren Extrawürsten auf: Softdrinks, Softeis, Nippes für Kinder – lauter Sachen, die man anderswo viel besser kaufen kann.“

Dieser Artikel wäre unvollständig, wenn wir nicht noch auf die Figur zu sprechen kämen, die unser Wort im Namen trägt: Zacharias Bräsig, besser bekannt als „Onkel Bräsig“, die Hauptfigur in Fritz Reuters Roman Ut mine Stromtid (1862–1864) und in einigen anderen Werken Reuters. Für den nur Hochdeutsch Sprechenden (mit den eingangs genannten Bedeutungen im Kopf) ist der Name geeignet, falsche Vorstellungen von seinem Träger hervorzurufen.

So ist wohl zu erklären, dass in einem Wiederabdruck der fiktiven Briefe des Herrn Inspektors Bräsig an Fritz Reuter in einer „ungekürzten Feldpostausgabe“ von 1943 zum Titel eine erläuternde Fußnote angebracht wird: „Der Name bezeichnet einen frisch, rot aussehenden Menschen.“

„Entspekter“ (Inspektor, Gutsverwalter) Zacharias Bräsig verkörpert im mecklenburgischen Landstand, in dem der genannte Roman angesiedelt ist, „das moderne aufklärerische Denken, propagiert den Fortschritt, hat ein junges Herz und ein Herz für die Jugend“, wie es in Kindlers Literaturlexikon (1970) heißt. Hervorgehoben werden seine „pfiffige Weltklugheit, sein treuer, uneigennütziger Rat, seine resolute Hilfsbereitschaft“, kurz „seine Grundanständigkeit“. Zur Glaubwürdigkeit der Figur tragen „der schlaue Witz, der schalkhafte Humor“, aber auch die „Lächerlichkeit seiner äußeren Erscheinung“ bei.

An „seiner eigenartig gedrechselten Art des Sprechens, seiner Vorliebe für hochdeutsche Wendungen und dem Gebrauch halbverstandener Fremdwörter“ kann sich wenigstens annäherungsweise auch der Leser der hochdeutschen Übertragung des Romans (Das Leben auf dem Lande, 1975) erfreuen. Zur Beliebtheit von Fritz Reuters populärster Figur haben in den 1970er und 80er Jahren sicher auch die Fernsehserien Onkel Bräsig und Onkel Bräsig erzählt mit Fritz Hollenbeck in der Titelrolle beigetragen.    ⋄    Wilfried Kürschner

(233) 21. August – Dingenskirchen

Ein Wort-Vorschlag von Christine Gröneweg (Universität Vechta): Dingenskirchen. Ein typisch norddeutscher Ausdruck, den ich – in der Kurpfalz aufgewachsen – zuerst in den frühen 1990er Jahren in Heidelberg kennenlernte: von einer Kollegin, die aus Schleswig-Holstein stammte.

Dingenskirchen ist der Name eines erfundenen Ortes, den man verwendet, um zu sagen, dass es auf den echten Namen eines Ortes nicht ankommt oder auch, dass einem der Name gerade nicht einfällt: Der Dingsda aus Dingenskirchen heißt so viel wie ›der Sowieso aus was weiß ich wo‹. Gemeint sein kann auch ein sehr provinzieller Ort (so beim „Sommerfest des Meerschweinchenzüchtervereins Dingenskirchen“: ein Internetbeleg für ein Ereignis ohne Nachrichtenwert). Ähnliches wie Dingenskirchen bedeuten Klein-Siehstenicht, Klein-Kleckersdorf oder Hintertupfingen.

Auch Ersatz für einen Familiennamen kann Dingenskirchen sein: „der Stephan Dingenskirchen da in Hannover, unser Ministerpräsident ...“ (will sagen: auf den Namen komme ich grade nicht“).

In Dingenskirchen steckt das Allerweltswort Ding, das wir bereits am 14. März erläutert hatten (Kolumne Nr. 73: dingfest). Man kann mit ihm, auch und insbesondere mit den Formen das Dings oder (norddeutsch) das Dingens, nahezu jeden Gegenstand unspezifisch bezeichnen. Ding(e)s und Dingens sind ursprünglich Formen des Genitiv („Wes-Falls“); man erklärt sie als Genitivus partitivus („Genitiv des Teils“): das Ding(en)s wäre dann ursprünglich so viel wie ›dasjenige aus einer ‚Ding‘-Menge, wovon gerade die Rede ist‹. Der zweite Wortbestandteil, -kirchen, kommt häufig in Ortsnamen vor und soll ebenfalls die Beliebigkeit der Bezeichnung zum Ausdruck bringen.

Dingenskirchen ist, „wortbildungsproduktiv“, wie man sprachwissenschaftlich zu sagen pflegt. Das heißt, man kann mit ihm neue Wörter bilden, beispielsweise durch Zusammensetzung oder durch Ableitung. Meine Heidelberger Kollegin aus Schleswig-Holstein pflegte mit Dingenskirchen ein Verb zu bilden, wenn sie Wortfindungsschwierigkeiten hatte: „Ich suche seit gestern meinen Kugelschreiber. Irgendwie hab ich den wohl ... äh ... verdingenskircht.“

Die norddeutsche Verortung von Dingenskirchen ist übrigens für Süddeutsche offensichtlich. So war am 3. 3. 2000 in den Nürnberger Nachrichten zu lesen: „Wenn einer seinen geographischen Horizont zwischen Dingenskirchen, Sauerland-Linie und Pütt festmacht, wird er mit höchster Wahrscheinlichkeit aus westfälischem Holz geschnitzt sein. Solch einem Individuum verzeiht man gerne, dass er ‚Griass Eana‘ leicht mal mit ‚Grüß Erna‘ übersetzt.“    ⋄    Jochen A. Bär

(234) 22. August – Brombeere

Wieder einmal eines dieser Alltagswörter, die wir alle kennen, selbstverständlich gebrauchen – und in der Regel nicht erklären können. Warum heißt die Brombeere Brombeere? Eine Frage, die auch Studierende des Fachs Germanistik („Deutsch“) meist nicht beantworten können. Beeren kennt man, und bei Wörtern wie Stachelbeere ist auch klar, warum das Ding so heißt. Aber was bedeutet Brom-?

Schon früher hatten wir – in unseren Kolumnen vom 11. Januar (Nr. 11: Schonsteinfeger) und vom 26. Mai (Nr. 146: Kaulquappe) – erläutert, dass es im Deutschen Wortbestandteile gibt, die nur ein einziges Mal vorkommen. Man nennt sie unikale Morpheme. Brom- in Brombeere ist ein solches unikales Morphem, und auch Him- in Himbeere. Ersteres geht zurück auf das althochdeutsche Wort brama (›Dornbusch, dorniger, stacheliger Strauch‹); im Niederdeutschen kennt man Bram oder Brambusch teilweise in der Bedeutung ›Ginster‹. In der Himbeere steckt das althochdeutsche Wort hinta (›Hinde, Hirschkuh‹); das Wort bedeutete daher wohl ursprünglich ›Gesträuch, in dem sich die Hirschkuh mit ihren Jungen verbirgt‹ oder auch ›Beere, die Hirschkühe gern fressen‹.

Man sollte allerdings nicht so tun, als sei das Wort Beere viel klarer als der Wortbestandteil Brom-. Warum die Beere so heißt, wie sie heißt, wissen ebenfalls die Wenigsten. Und daher wird auch die folgende Information interessant sein: Im Althochdeutschem gab es das beri (im Englischen immer noch: berry ›Beere‹). Der Plural dieses Wortes – die bere – wurde später nicht mehr als solcher verstanden, sondern als Singular interpretiert. Dadurch kam auch der Wechsel im grammatischen Geschlecht zustande: Es ist heute nicht mehr das, sondern die Beere.

Möglicherweise geht das Wort auf eine indoeuropäische Wurzel mit der Bedeutung ›glänzen, leuchten, scheinen‹ zurück, die auch der Bake (›feststehendes Seezeichen, Feuerzeichen, Leuchtfeuer‹) und dem griechischen phainein (›sichtbar machen, erscheinen lassen‹), der Basis des Wortes Phänomen (›Erscheinung, Erscheinungsform‹) zugrunde liegt. Die ursprüngliche Bedeutung von Beere wäre demnach ›leuchtend rote Frucht‹.

Dass man eine Pluralform für einen Singular hielt und somit ein neues Wort entstand, ist übrigens nicht nur bei Beere der Fall, sondern auch bei Träne. Althochdeutsch trahan (später zusammengezogen zu tran) bedeutete ›Tropfen‹ (später speziell das durch Erhitzen aus dem Fett von Meeressäugetieren gewonnene Öl); der umlautende Plural trehene (zusammengezogen: trene oder träne) wurde als Singular gesehen und bekam eine neue Pluralform: Tränen.    ⋄    Jochen A. Bär

(235) 23. August – Ferkel

„Was hast du denn da schon wieder angestellt? Du altes Ferkel!“ – Wer so etwas als unbeteiligter Dritter hört, braucht gar nicht hinzuschauen oder weiter nachzufragen, sondern kann sich schon denken, was da angestellt wurde: irgendeine Schmutzerei. Denn ein Ferkel, das ist eigentlich ein junges Schwein, und Schweine gelten nun mal als unsauber – so sehr, dass Juden und Moslems der Verzehr von Schweinefleisch durch ihre Religion verboten ist.

Ferkel ist ein sehr altes Wort, das es bereits in der frühesten Periode unserer Sprachgeschichte, dem Althochdeutschen gab. Althochdeutsch sprach und schrieb man (wenn man schreiben konnte, was nur für die wenigsten galt) von der Mitte des 8. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts.

Das althochdeutsche far(a)h, mittelhochdeutsch dann varh (›Frischling, Ferkel, Schwein‹), ist verwandt mit dem lateinischen porcus (›Schwein‹) und vermutlich auch mit dem deutschen Wort Furche. Vermutlich liegt eine indoeuropäische Wurzel mit der Bedeutung ›wühlen‹ zugrunde.

Das Wort Ferkel für Menschen zu gebrauchen, ist sprachlich nichts Besonderes. Man nennt dergleichen eine übertragene Verwendung, auch bekannt als Metapher. Interessant ist aber, dass bei den Ferkel-Beschimpfungen oft von einem alten Ferkel die Rede ist – wo doch Ferkel gerade keine alten, sondern eben junge Schweine sind.

Offensichtlich heißt alt hier aber gar nicht ›reich an Jahren‹. In Heinz Küppers „Wörterbuch der deutschen Umgangssprache“ wird die stattdessen hier vorliegende, angeblich seit dem 19. Jahrhundert existierende Bedeutung des Wortes alt mit ›leidig, unangenehm, widerlich‹ angegeben. Man wolle, so Küpper, „zum Ausdruck bringen, daß der Betreffende seit langem als ein solcher bekannt ist, wie ihn das Substantiv bezeichnet“.

Diese Erklärung greift aber wohl zu kurz. Das Adjektiv alt wurde, wie das „Frühneuhochdeutsche Wörterbuch“ von Oskar Reichmann belegt, in der Bedeutung ›abgefeimt, sündig, verrucht, verworfen‹ bereits im 14. Jahrhundert verwendet, hauptsächlich im Zusammenhang mit theologischen Inhalten. Alt war offenbar das, was durch die Erlösungstat Christi noch nicht neu gemacht worden war, z. B. die alte Schlange oder der alte Drache (beides bezeichnet den Teufel). Von dieser Bedeutung des Bösen, Schlechten her dürfte sich dann durch Übertragung auf nicht theologische Zusammenhänge – ebenfalls bereits im 14. Jahrhundert – die abwertende Funktion von alt herausgebildet haben, die bei du altes Ferkel erkennbar wird.    ⋄    Jochen A. Bär

(236) 24. August – Schwerenöter

Unser heutiges Wort wurde vorgeschlagen von Judith Peltz (Universität Vechta). Ein Schwerenöter, das ist laut Dudenwörterbuch ein „Mann, der durch seinen Charme und eine gewisse Durchtriebenheit Eindruck zu machen und sich etwas zu verschaffen versteht“. Jemand, „dem man die Schwerenot wünscht“, ergänzt das Grimm'sche Wörterbuch: ein „arger Schalk, durchtriebener Gesell“. Man verwendet das Wort dem Grimm zufolge „ernsthaft und scherzend“, ebenso wie verfluchter Kerl. Insbesondere ist der Schwerenöter ein in erotischen Dingen durchtriebener Bursche, ein „Schürzenjäger“, wie das „Etymologische Wörterbuch des Deutschen“ von Wolfgang Pfeifer schreibt.

Schwerenot, eine Zusammenziehung aus schwer und Not, steht für körperlichen Schmerz und Krankheit, insbesondere für die Fallsucht (Epilepsie), von der man glaubte, dass sie einem Menschen durch schwarze Magie „angehext“ werden könne. Entsprechend gab es Flüche wie „Die Schwerenot soll dich kriegen!“ oder „Dass dich die Schwerenot!“, mit denen man jemandem eben die Fallsucht an den Hals wünschte. Auch der Ausruf Schwerenot! allein konnte als Fluch, freilich auch als Ausdruck der Anerkennung dienen. Verstärkungen wie Kreuzschwerenot! oder Tausend Schwerenot! waren insbesondere in der „Geniezeit“ des Sturms und Drangs beliebt. Auch der Ausruf Schockschwerenot! gehört dazu. Der erste Wortbestandteil hat nichts zu tun mit der Schock (französisch: choc: ›seelische Erschütterung‹), sondern mit dem veralteten das Schock (›Haufen‹, als Mengenangabe auch: ›60 Stück‹, z. B. in drei Schock Eier).

Zu Schwerenöter (wie seit der Auflage von 1993 zu jeder männlichen Personenbezeichnung) findet man übrigens im Duden auch die weibliche Form: Schwerenöterin. – Ein weiblicher Schwerenöter? Gibt es das überhaupt?

Klar, warum denn nicht? Und es gibt tatsächlich sogar auch das Wort Schwerenöterin. Zwar nicht in den digitalen Textsammlungen des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache, die vor allem Zeitungsbelege enthalten. Aber im Internet. Und zwar nicht nur auf irgendwelchen dubiosen Seiten, sondern auch in neueren literarischen Texten, von denen man teilweise größere Leseproben erhält.

Der älteste uns verfügbare Schwerenöterin-Beleg ist sogar immerhin gut 200 Jahre alt und stammt mithin aus der klassischen Periode der deutschen Literatur: von dem Goethezeit-Autor Johann Paul Friedrich Richter, besser bekannt unter seinem Pseudonym Jean Paul: „Daß dich alle Schock-Kreuz-Mohren-Schwerenot! Du Schwerenöterin!“    ⋄    Jochen A. Bär

(237) 25. August – Maislabyrinth

Maislabyrinth wurde von der Klasse 6a (nach Ende der Sommerferien: Klasse 7a) der Realschule Lohne vorgeschlagen. „Wir wissen, dieses Wort meint ein Labyrinth aus Mais, aber es klingt so geheimnisvoll“, haben die Schülerinnen und Schüler dazu geschrieben.

Geheimnisvoll – genau das sind Maislabyrinthe. Ein tolles Erlebnis für Familien oder auch für Schulklassen. Dabei handelt es sich um Irrgärten, die manche Bauern in Maiskulturen anlegen. Es gibt sie jedes Jahr wieder. Auch derzeit an unterschiedlichsten Orten in Deutschland: unter anderem in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Thüringen und weiteren Bundesländern – und natürlich auch im Oldenburger Münsterland.

Auf größeren Flächen ist ein Wegenetz von mehreren Kilometern Länge möglich. Das Labyrinth wird vorab geplant und dann durch Ausfräsen bzw. Schneiden nach dem ersten Wachstum der Maispflanzen angelegt. Manche Maislabyrinthe werden mit weiteren Attraktionen kombiniert: mit Strohburgen, Rätselspielen und Wettbewerben, Streichelzoos oder Ponyreiten. Das erste bekannte Maislabyrinth wurde 1993 im US-Bundesstaat Pennsylvania angelegt. Es wurde von dem Irrgarten-Designer Adrian Fisher entworfen.

Sprachhistorisch ist Folgendes hinzuzufügen: Die Getreideart Mais stammt ursprünglich aus Mittelamerika und wurde durch die Spanier nach Europa gebracht. Zusammen mit der Pflanze kam ihr Name; in der Sprache der Taino auf Haiti lautete er mahis. Über das Spanische maíz wurde das Wort in andere europäische Sprachen vermittelt. Im Deutschen kannte man es schon im 16. Jahrhundert als Maytz, Maiz oder Mays. Auf die fremde Herkunft anspielend, nannte man den Mais auch Welschkorn – vgl. unsere Kolumne Nr. 133 (Kauderwelsch) – türkischer Weizen oder Türkisch Korn.

Das Wort Labyrinth wurde ebenfalls im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache aufgenommen. Es ist eine Entlehnung aus lateinisch labyrinthus (›Irrgarten‹), das über das Griechische vermutlich bis auf das lydische Wort labrys (›Doppelaxt‹) zurückgeht. Die Doppelaxt war anscheinend eine königliche Insignie; griechisch labyrinhtos wäre dann eigentlich das ›Haus der Doppelaxt‹ oder auch das ›königliche Haus‹: nämlich dasjenige Gebäude mit verschlungenen Gängen, in dem, der griechischen Mythologie zufolge, König Minos von Kreta den Minotaurus, ein stierköpfiges Ungeheuer, gefangen hielt. Der Minotaurus wurde von dem Helden Theseus getötet. Theseus fand seinen Weg aus dem Labyrinth heraus, weil er am Eingang einen roten Faden befestigt und das Fadenknäuel mit sich hineingenommen hatte. Er musste dem Faden nur noch zurückfolgen.

Eine gute Idee auch fürs Maislabyrinth ...    ⋄    Jochen A. Bär

(238) 26. August – zauberhaft

Petra Huckemeyer (Vechta) hat zauberhaft für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen. Dieses Adjektiv gehört zu den affektiven oder emotiven Ausdrücken, mit denen man seine Einstellung gegenüber demjenigen deutlich machen kann, worüber man redet.

Mit zauberhaft bringt man eine unmittelbare, innige Begeisterung zum Ausdruck. Das Wort bedeutet ›entzückend, in intensiver Weise positiv berührend‹. In etwas älteren Wortbelegen – aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert – kommt noch deutlich zum Ausdruck, dass der Aspekt des Unwirklichen, Überirdischen, Magischen, eben des Zaubers mitgedacht war: „Alle Deine früheren Bedenken sind wie märchenhaft-zauberhaft plötzlich gelöscht“, schreibt Peter Altenberg 1919.

Glaubt man dem Grimm’schen Wörterbuch, so ist aber die wörtliche Bedeutung (›zauberisch, magiekundig‹) nicht die ursprüngliche. Das Wort zauberhaft dient hauptsächlich dem Ausdruck eines Zaubers oder Reizes in übertragener Bedeutung, nur die letzten Ausklänge des mittelalterlichen Zauberwesens, die künstliche Magie, prägen sich noch in ihm aus. „In der heidnischen Zeit habe [...] eine gottlose, zauberhafte Jungfrau das Land beherrscht“, heißt es beispielsweise bei Jacob Grimm in den Deutschen Sagen.

In der Autobiographie der Sozialistin und Frauenrechtlerin Lily Braun (1909) erkennt man hingegen deutlich, dass die Bedeutung ›magisch, unerklärlich‹ nur metaphorisch zu vestehen ist: als ›auf unerklärliche Weise schön, anrührend‹: „Am [...] Morgen [...] schlüpfte ich hinaus. Zauberhaft still und einsam war es; nur ein heimliches Vogelzwitschern, ein fernes Flüstern der Ilm verriet das Leben.“

Das Grundwort Zauber, das auch den Ableitungen zaubern, Zauberer, Zauberin/Zaubrerin (beide Formen sind sprachlich korrekt, nicht hingegen Zaubererin), Zauberei, zauberisch sowie allerlei Zusammensetzungen zugrunde liegt, geht bis auf das Germanische zurück. Der Wortstamm taubra- oder taufra- (er ist nicht belegt, kann aber durch Sprachvergleich wissenschaftlich erschlossen werden) bedeutete so viel wie ›Magie, Zauberei, Zaubermittel‹. Möglicherweise ist das altenglische Wort teafor (›Roteisenstein, Rötel‹) verwandt, da man des roten Stein als Färbemittel für Zauberzeichen (eingekerbte Runen) benutzt haben könnte.

Schaut man heutzutage ins Internet, so bringt die Eingabe eines Suchbefehls in eine Suchmaschine wie durch Zauberhand in weniger als einer halben Sekunde über 680000 Belege für zauberhaft. Beliebt ist das Wort offenbar vor allem als Name von Einrichtungshäusern und Deko-Läden. Es hätte demnach immer noch etwas mit Farbe zu tun.    ⋄    Jochen A. Bär

(239) 27. August – Hasenfuß

Unser heutiges Wort erläutern wir auf Vorschlag der ehemaligen Klasse 6b (nach Ende der Sommerferien: 7b) der Vechtaer Liebfrauenschule. „Woher kommt das Wort?“, fragen die Kinder.

Ein Hasenfuß ist ein ›überängstlicher, schnell zurückweichender, Entscheidungen lieber aus dem Weg gehender Mensch‹: So steht es im Duden. Wörtlich ist ein Hasenfuß natürlich der Fuß eines Hasen. Da Hasen bekanntlich sehr schnell rennen können und sich lieber durch Flucht als durch Angriff verteidigen, wird ihnen im Volksmund seit jeher Furchtsamkeit zugeschrieben. Diese Furchtsamkeit hat man mit dem Wort für dasjenige Körperteil des Hasen benannt, mit dem er die Flucht zustande bringt: eben den Fuß. Wenn man eine Sache mit dem Ausdruck für einen Bestandteil dieser Sache bezeichnet – auch beispielsweise ein Lebewesen mit dem Ausdruck für eines seiner Körperteile –, so nennt man dies eine Metonymie. Einen Menschen einen klugen Kopf zu nennen, ist eine Metonymie, denn er ist ja eigentlich kein Kopf, sondern hat einen. – Wird ein Ding mit dem Wort für ein anderes Ding bezeichnet, weil es zwischen beiden Dingen irgendwelche allgemeinen Ähnlichkeitsbeziehungen gibt, so nennt man diesen Wortgebrauch eine Metapher. Hasenfuß ist also sowohl eine Metonymie (man nennt den Hasen wie seinen Fuß) als auch eine Metapher (man überträgt die Bezeichnung für den Hasen auf den Menschen).

Hasen waren immer schon eine beliebte Jagdbeute und kommen daher in Sprichwörtern und Redewendungen häufig vor. Beispiele: Wissen, wie der Hase läuft (›gut Bescheid wissen‹ – der erfahrene Jäger lässt sich vom Hakenschlagen des Hasen nicht beeindrucken und achtet nur auf die Hauptrichtung seiner Flucht). Der alte Hase, der schlau und rasch genug war, dem Jäger immer wieder zu entwischen, weiß sich zu helfen.

Die bekannte Redensart Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts hat allerdings mit Hasen nichts zu tun. Vielmehr ging es ursprünglich, wie der Wortlaut auch noch erkennen lässt, um eine Person mit Namen Hase, genauer gesagt um einen Heidelberger Studenten namens Victor Hase. Das war zu einer Zeit, in der die schlagenden Studentenverbindungen noch einflussreich und studentische Duelle (obgleich verboten) an der Tagesordnung waren. Ein Freund von Victor Hase hatte das Pech, im Zweikampf einen Kommilitonen zu töten. Victor verhalf ihm zur Flucht, wurde aber der Beihilfe verdächtigt und vor den Senat der Universität geladen. Er betrat den Sitzungssaal mit den Worten: „Hohe Versammlung, mein Name ist Hase, ich verneine die Kardinalfragen: Ich weiß von nichts.“    ⋄    Jochen A. Bär

(240) 28. August – Antlitz

Anders als beispielsweise das neutrale Gesicht und die abwertend-derben Fresse und Visage gehört Antlitz zur gehobenen Stilebene: vgl. unsere Kolumne Nr. 147 (entzwei, 27. Mai). Dies liegt daran, dass Antlitz dabei ist zu veralten. Man hört und liest es nicht mehr oft (Gesicht wird 35 Mal häufiger verwendet), dadurch ist es „un-alltäglich“ und klingt nach etwas Besonderem.

Bei Wörtern wie Antlitz denkt man unwillkürlich an die klasssische Periode der deutschen Literaturgeschichte – genauer: die zweite klassische Periode, nämlich die so genannte Weimarer Klassik um 1800. (Die erste, die mittelhochdeutsche oder staufische Klassik, datiert um 1200; zu ihr gehören Autoren wie Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg und Walther von der Vogelweide.) Betrachtet man allerdings exemplarisch das Werk eines der Protagonisten der Weimarer Klassik, nämlich Goethes, so stellt man fest, dass auch er schon Antlitz ziemlich selten und nur in herausgehobenen Zusammenhängen verwendet. So schreibt er am 26. Dezember 1825 an den König Ludwig I. von Bayern: „Daß ein so lange gehegter, so wohlwollend aufgenommener Wunsch ganz nahe der Erfüllung sey, vernehm ich durch den von Ew. Majestät Antlitz zurückkehrenden Major v. Germar, welcher mich auch des allergnädigsten Andenkens [...] versichert.“

Die Belegstelle ist charakteristisch. Denn schlägt man im bedeutendsten Wörterbuch der Goethezeit nach, dem vierbändigen „Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart“ von Johann Christoph Adelung, so findet man dort unter Antlitz Folgendes: Das Wort sei „eine Benennung des Angesichtes, welche aber im gemeinen Leben nicht mehr üblich ist, sondern nur in der höhern Schreibart gebraucht wird, besonders von dem Angesichte solcher Personen, welchen man Ehrerbiethung schuldig ist“.

Antlitz war schon im Althochdeutschen (als antlizzi) bekannt. Es ist zusammengesetzt aus der Vorsilbe ant- (›entgegen‹) und einem in der heutigen deutschen Sprache ausgestorbenen Wortstamm, der so viel wie ›sehen, blicken‹ hieß. Die ursprüngliche Bedeutung von Antlitz wäre demnach ›das Entgegenblickende‹. Zur gehobenen Sprache gehörte es schon seit dem 16. Jahrhundert, als Martin Luther es in seiner Bibelübersetzung verwendete.

Im heutigen Sprachgebrauch kommt Antlitz durchaus noch vor – speziell dort, wo andere Ausdrücke für ›Gesicht‹ profan anmuteten. So schreibt beispielsweise die Koblenzer Rhein-Zeitung am 9. Oktober 2013: „Egal, ob Tassen, Trockentücher oder T-Shirts – Souvenirs mit dem Antlitz der Queen oder dem jungen Elternpaar William und Kate sind in Großbritannien ein rentabler Markt.“    ⋄    Jochen A. Bär

(241) 29. August – Geburtstag

Wer mag das Wort Geburtstag nicht? Feiern, Geschenke, Kuchen, alle sind lieb zu einem ... Schon kleine Kinder finden Geburtstag gut. Ein Kollege berichtete unlängst von seiner vierjährigen Tochter: „Papa, kannst Du mir ein Tzuju-Lied singen?“ – ??? – „Heppibörsdeytzuju, Heppibörsdeytzuju. Kennst Du das nicht?“

Den Geburtstag zu feiern, war hierzulande bis ins 19. Jahrhundert nur vereinzelt und nur in höheren Gesellschaftsschichten üblich: vorrangig in den protestantischen Gebieten. Dagegen war es im katholischen Kulturraum üblich, zum Namenstag (dem liturgischen Gedenktag des oder der Heiligen, dessen/deren Namen die Person trägt) zu gratulieren. In manchen katholischen Gegenden ist der Namenstag bis heute wichtiger als der Geburtstag oder wenigstens ebenso wichtig.

Mein Großvater, der es liebte, andere zu verbessern, pflegte die Geburtstage „korrekt“ zu zählen. Ich wollte ihn seinerzeit zu meinem zwölften Geburtstag einladen. Darauf er: „Du meinst zu deinem dreizehnten.“ – Ich: „Nein, ich werde erst zwölf.“ – Er: „Das ist dein dreizehnter Geburtstag. Denn dein erster Geburtstag war der Tag, an dem du geboren wurdest, und als du ein Jahr alt wurdest, war das schon dein zweiter Geburtstag.“

Wäre ich damals schon Professor für Sprachwissenschaft gewesen, hätte ich antworten können: Geburtstag in „zwölfter Geburtstag“ bedeutet nicht ›Tag der Geburt‹, sondern ›Jahrestag der Geburt. So steht es sogar im Dudenband 9 („Richtiges und gutes Deutsch“). In Recht und Verwaltung pflegt man übrigens, um Missverständnisse auszuschließen, von „vollendeten Lebensjahren“ zu sprechen. So regelt der Paragraph 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches: „Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein.“ Also wenn jemand 18 wird. Oder eben (allgemeinsprachlich): am 18. Geburtstag.

In Geburtstag steckt Geburt, abgeleitet von gebären. Wie bereits in unserer Kolumne vom 9. Juli (Nr. 190: wundervoll) erklärt, steckt darin das alte Wort für ›tragen‹; gebären bedeutet wörtlich ›austragen, bis zum Ende tragen‹.

Gestern hatte Goethe Geburtstag, den zweihundertfünfundsechzigsten (nein, Opa: nicht den zweihundertsechsundsechzigsten ...). Er legte besonders viel Wert darauf, dass man an seinen Geburtstag dachte – weshalb wir das hiermit nachholen. Heute wurden unter anderem geboren: der Philosoph John Locke (1632), der Maler Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780), der Schriftsteller Hermann Löns (1866), die Schauspielerin Ingrid Bergman (1915), der „King of Pop“ Michael Jackson (1958) und die Rallye-Fahrerin Jutta Kleinschmidt (1962). Und natürlich viele andere. Herzlichen Gückwunsch!    ⋄    Jochen A. Bär

(242) 30. August – Routine

Ein Fachwort aus der Informatik und Computertechnologie machte 2012 im Politik- und Medienjargon Karriere: Unter einer Rettungsroutine versteht man ein Computerprogramm, das bei einer Störung, z. B. einem Stromausfall, automatisch Daten sichert, so dass diese nicht verloren gehen.

Das Zweitglied des zusammengesetzten Wortes, Routine, stammt aus dem Französischen. Es handelt sich um das Diminutivum, also die Verkleinerungsform von Route (›Straße, Weg‹, über altfranzösisch rute zurückgehend auf lateinisch via rupta ›gebrochene Bahn, Bresche‹) und steht für einen (Lösungs-)Weg, den jemand gewohnheitsmäßig einzuschlagen pflegt. Wer routiniert handelt, verhält sich, insbesondere in brenzligen Situationen, automatisch richtig, ohne groß nachdenken zu müssen. Von Rettungsroutine kann somit auch gesprochen werden, wenn jemand bestimmte Rettungsabläufe oft geübt hat und sie deshalb auch unter Stress sicher beherrscht.

Das Nichtnachdenkenmüssen birgt jedoch zugleich eine Gefahr. Neben der guten Routine, die im Alltag hilft, gibt es auch eine schlechte Routine: Man neigt selbst in Situationen, die eben doch ein besonderes Nachdenken erfordern, dazu, sich mit dem Standardprogramm zu begnügen.

Genau dieser Aspekt findet sich – als Kritik – in der Art, in der Rettungsroutine 2012 die Medien beherrschte. Das Wort erscheint dabei im Zusammenhang mit den Bemühungen um einen Ausweg aus der europäischen Staatsschuldenkrise. Die überhandnehmende Verschuldung von Ländern wie Spanien, Portugal, Griechenland, Italien und selbst Frankreich und die Herabstufung ihrer Kreditwürdigkeit durch internationale – in der Regel amerikanische – Rating-Agenturen führte dazu, dass die betroffenen Länder nur noch zu hohen Zinsen neue Kredite aufnehmen konnten. Ihre Schuldenlast nahm dadurch immer weiter zu. Als Instrument dagegen wurde in der Europäischen Union der Euro-Rettungsmechanismus entwickelt. Die Tatsache, dass Deutschland als finanzstärkstes Euroland für den Löwenanteil der Rettungsmilliarden geradestehen sollte, trug allerdings der Rettungsschirm-Politik der Bundesregierung zunehmend Ablehnung ein.

Einer der sprachlich interessantesten Vorwürfe: Der Rettungsroutine fehle es an Rettungsroutine: „Es ist mittlerweile der 19. EU-Gipfel seit dem Beginn des Schuldendramas in Griechenland vor mehr als zweieinhalb Jahren. Doch eine Rettungsroutine will sich bei den Staats- und Regierungschefs, die sich am Donnerstag auf ein Neues in Brüssel versammelten, nicht einstellen.“ (Potsdamer Neueste Nachrichten, 29. 6. 2012.)    ⋄    Jochen A. Bär

(243) 31. August – hundeelend

Unser heutiges Wort behandeln wir auf Vorschlag der (mittlerweile ehemaligen) Klasse 6b der Vechtaer Liebfrauenschule. Die Kinder fragen sich, was Hunde mit Elend zu tun haben: „Hunde sind doch oft ganz lustig.“

Wie früher (Kolumne Nr. 85 – verhunzen – vom 26. März) bereits erwähnt, war der beste Freund des Menschen nicht zu allen Zeiten das geliebte Haustier. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurden streunende Hunde, da man sie als Gefahr ansah und ihnen nicht traute, oft schlecht behandelt. Und auch heute geschieht dergleichen leider noch. Beispielsweise werden, insbesondere zu Ferienzeiten, Hunde einfach ausgesetzt, weil ihre Besitzer sich nicht mehr um sie kümmern wollen. Und wer in bestimmten südlicheren Ländern Urlaub macht, begegnet leicht herrenlosen Hunden, die dort zum Alltag gehören. Manche Familien kommen aus solch einem Urlaub mit einem zusätzlichen Familienmitglied wieder, weil sie sich in einen der Herumtreiber verliebt haben und ihn in seinem Hundeleben nicht zurücklassen wollen.

Das Wort Elend heißt übrigens ursprünglich nichts anderes als ›Ausland‹: Das althochdeutsche elilenti, wörtlich ›alle Lande‹ (das heißt alle anderen Lande als das eigene), bedeutete so viel wie ›Fremde, Verbannung, Exil‹ sowie das, was man dort erleidet: ›Not, Trübsal‹.

Die Redewendung leiden wie ein Hund bemühte übrigens der weiland CSU-Parteivorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber im November 2005, als er seiner Partei die große Koalition und seine Entscheidung, nicht als Superminister nach Berlin zu gehen, sondern als Regierungschef in Bayern zu bleiben, schmackhaft machen wollte. „Es tut mir leid, dass ich mit meiner Entscheidung unsere Partei und Sie alle hier in eine nicht einfache, in eine schwierige Lage gebracht habe“, sagte Stoiber vor den rund 200 Delegierten des kleinen CSU-Parteitags in München. „Ich leide selbst außerordentlich, ich leide wie ein Hund.“

Damals nahm ihm seine Partei den Dackelblick noch ab. Zwei Jahre später legte sie ihm nahe, seinen Hut zu nehmen. Seine Vasallen Erwin Huber und Günther Beckstein beerbten ihn – für ein Jahr, nämlich bis zum Beginn der Ära Horst Seehofer – in den Ämtern des Parteivorsitzenden und des Ministerpräsidenten. In solchen Fällen pflegt man zu sagen, dass „der Schwanz mit dem Hund wedelt“.    ⋄    Jochen A. Bär