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Germanistische Sprachwissenschaft

Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten

Das Jahr der Wörter

(91) 1. April – elegisch

Wer sich mit Wörtern befasst, der weiß, dass sie oft überraschen: Viele bedeuten weit mehr als man auf Anhieb er­kennt. Häufig erlebt man zum Beispiel, dass nicht nur das, was man freilich an Bedeutung schon kennt, in einer Wort­gestalt steckt, sondern viel mehr an Gehalt: gleichsam Schichten von Geistesgeschichte, halb vergrabener Sinn, der nur entfernt sich noch zeigt. Worthistoriker sind daher Archäologen des Wissens: Sie ergründen den Grund, den ein Wortgebrauch hat. Ebenso wirken auch andere Dimensionen der Sprache mit hinein: Dialekt, Fachspezifik und mehr.

Wenn man elegisch – ein Ausdruck, den Philipp van Buyten aus Vechta unsrer Kolumne empfiehlt – vollumfänglich begreift, kann es nicht sein Bewenden haben mit der Bedeutung, die der Gebildete kennt: ›wehmütig, klagend, betrübt, melancholisch, voll Schwermut‹; denn damit ist knapp nur die Hälfte dessen im Blick, was das Wort, wenn man es recht versteht, meint.

Unser Eigenschaftswort hat ein Substantiv („Hauptwort“) zur Basis: Elegie; und zu ihm liest man im Wörterbuch dies: Griechisch élegos hieß ›Gesang der Trauer, begleitet von der Flöte‹ zunächst, weiter dann auch allgemein ›klagendes Lied‹. Bei den Griechen war das elegische Versmaß stets das Distichon (›Doppelzeiler‹ zu Deutsch), das, wie der Name schon zeigt, immer zwei Zeilen enthalten muss. Die erste erscheint als ein Hexameter, wohingegen die zweite pentametrisch gebaut ist (beides ist ebenfalls je eine metrische Form).

In Hexameter steckt das griechische hex(a), das ›sechs‹ heißt: Der Hexameter weist sechs Betonungen auf. Pente hingegen heißt ›fünf‹; doch leitet der Terminus irre, denn der Pentameter ist ebenfalls sechsfach betont. Leicht unter­scheiden lässt er sich vom Hexameter trotzdem: Keine Senkung folgt Hebung drei und sechs; so kommt eine Zäsur inmitten des Verses zustande.

Distichen gibt es zuhauf. Schon die Antike gebraucht sie in der Dichtung gern, und ebenso auch die Moderne. Un­nach­ahmlich jedoch hat, was ein Distichon ist, Friedrich Schiller gezeigt in einem Gedicht von zwei Zeilen, das, in Distichon-Form, selber Distichon heißt: „Im Hexameter steiget des Springquells flüssige Säule. / Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.“

Wenn man nun also das Wort elegisch als Fachwort verwendet, meint man damit einen Text, der, wie die Elegie, in bestimmtem Versmaß – dem Distichon eben – verfasst ist. So wie dieser hier. Na? beim Lesen bemerkt?    ⋄    Jochen A. Bär

Wer sich mit Wörtern befasst, der weiß, dass sie oft überraschen:
    Viele bedeuten weit mehr   als man auf Anhieb er­kennt.
Häufig erlebt man zum Beispiel, dass nicht nur das, was man freilich
    an Bedeutung schon kennt,   in einer Wort­gestalt steckt,
sondern viel mehr an Gehalt: gleichsam Schichten von Geistesgeschichte,
    halb vergrabener Sinn,   der nur entfernt sich noch zeigt.
Worthistoriker sind daher Archäologen des Wissens:
    Sie ergründen den Grund,   den ein Wortgebrauch hat.
Ebenso wirken auch andere Dimensionen der Sprache
    mit hinein: Dialekt,   Fachspezifik und mehr.

Wenn man elegisch – ein Ausdruck, den Philipp van Buyten aus Vechta
    unsrer Kolumne empfiehlt –   vollumfänglich begreift,
kann es nicht sein Bewenden haben mit der Bedeutung,
    die der Gebildete kennt:   ›wehmütig, klagend, betrübt,
melancholisch, voll Schwermut‹; denn damit ist knapp nur die Hälfte
    dessen im Blick, was das Wort,   wenn man es recht versteht, meint.

Unser Eigenschaftswort hat ein Substantiv („Hauptwort“) zur Basis:
    Elegie; und zu ihm   liest man im Wörterbuch dies:
Griechisch élegos hieß ›Gesang der Trauer, begleitet
    von der Flöte‹ zunächst,   weiter dann auch allgemein
›klagendes Lied‹. Bei den Griechen war das elegische Versmaß
    stets das Distichon   (›Doppelzeiler‹ zu Deutsch),
das, wie der Name schon zeigt, immer zwei Zeilen enthalten
    muss. Die erste erscheint   als ein Hexameter,
wohingegen die zweite pentametrisch gebaut ist
    (beides ist ebenfalls   je eine metrische Form).

In Hexameter steckt das griechische hex(a), das ›sechs‹ heißt:
    Der Hexameter weist   sechs Betonungen auf.
Pente hingegen heißt ›fünf‹; doch leitet der Terminus irre,
    denn der Pentameter ist   ebenfalls sechsfach betont.
Leicht unter­scheiden lässt er sich vom Hexameter trotzdem:
    Keine Senkung folgt   Hebung drei und sechs;
so kommt eine Zäsur inmitten des Verses zustande.

Distichen gibt es zuhauf.   Schon die Antike gebraucht
sie in der Dichtung gern, und ebenso auch die Moderne.
    Un­nach­ahmlich jedoch   hat, was ein Distichon ist,
Friedrich Schiller gezeigt in einem Gedicht von zwei Zeilen,
    das, in Distichon-Form,   selber Distichon heißt:
„Im Hexameter steiget des Springquells flüssige Säule.
    Im Pentameter drauf   fällt sie melodisch herab.“

Wenn man nun also das Wort elegisch als Fachwort verwendet,
    meint man damit einen Text,   der, wie die Elegie,
in bestimmtem Versmaß – dem Distichon eben – verfasst ist.
    So wie dieser hier.   Na? beim Lesen bemerkt?

(92) 2. April – Schlafittchen

Wer kennt nicht die Redewendung jemanden am Schlafittchen packen oder auch nehmen oder fassen oder kriegen oder haben? (Zweifellos kennt sie Alfred Kuhlmann aus Ellenstedt: Er hat Schlafittchen für unsere Reihe „Das Jahr der Wörter vorgeschlagen.) Aber wer kennt das Wort außerhalb der der Redewendung? Eigentlich niemand, zumindest nicht, wenn man dem großen Duden Glauben schenken darf. Der gibt nämlich an, dass Schlafittchen ausschließlich in genau dieser Redewendung (alternativ allenfalls noch beim Schlafittchen packen usw.) üblich ist.

Allerdings gibt es, wie üblich, natürlich Ausnahmen. So ist Schlafittchen der Name einer Figur in dem Singspiel Traumfresserchen von Wilfried Hiller (Text von Michael Ende). Die Prinzessin Schlafittchen leidet unter schlimmen Träumen, seit sie das Traumfresserchen verjagt hat. Ihr Name ist zweifellos eine Verbindung von schlafen und Schneewittchen; linguistisch nennt man eine solche Wortkreuzung eine Kontamination (eine zusammenziehende Wortbildung, bei der sich zwei Wörter teilweise überlagern). Beispiele aus dem Englischen sind Smog (aus smoke und fog) oder Brunch (aus breakfast und lunch), im Deutschen gibt es unter anderem den Kurlaub (aus Kur und Urlaub) und den Besserwessi (aus Besserwisser und Wessi ›Person aus Westdeutschland).

Das Schlafittchen der Redewendung, um das es hier gehen soll, erklärt sich freilich ganz anders. Es lässt sich als Verschleifung des Wortes Schlagfittich deuten. Gemeint sind zunächst die Schwungfedern des Gänseflügels, dann (aufgrund seiner entfernt ähnlich Form und seiner Eigenschaft des Flatterns) der Rockschoß oder Rockzipfel. Am Schlafittchen packen hieß also eigentlich ›an oder bei den Flügeln packen‹ bzw. ›am Rockschoß, am Jackenzipfel packen‹. In Zeiten, in denen Rockschöße nicht mehr in Mode sind, kann auch jeder andere Teil der Kleidung, z. B. das Revers oder der Kragen gemeint sein. Meist wird die Redewendung ohnehin nur allgemein im Sinne von ›packen, ergreifen‹ gebraucht. So berichtet Heinrich Heine von einer Französin seiner Bekanntschaft: „Als sie erfuhr, daß ich Deutscher sei, war sie sehr zufrieden und bat mich, ihr ein Bärenfell zu schenken, denn seit Jahren, sagte sie, wünschte sie sich, ein Bärenfell zu besitzen, um daraus einen Bettvorleger zu machen [...]! Sie hielt mich für nördlicher, als ich war, und wahrscheinlich bilden sich diese Damen ein, daß man in meiner Heimat nur die Hand auszustrecken braucht, um einen Bären am Schlafittchen zu packen [...].“

Der Kolumnist kann nicht umhin, mit Nachdruck zuzustimmen: Bären am Schlafittchen zu packen, das geht gar nicht!    ⋄    Jochen A. Bär

(93) 3. April – malochen

Mit dem Verb malochen, das Elisabeth Wielenberg aus Damme für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen hat, werden umgangssprachlich körperlich schwere Arbeiten bezeichnet. Bedeutungsverwandt sind u. a. klotzen, schaffen oder schuften. Durch Bergarbeiter aus Oberschlesien wurde malochen besonders in den Kohleabbaugebieten des Ruhrgebiets verbreitet. So ist der Ausdruck heute (häufig in der Konstruktion am Malochen sein) regional typisch für das Ruhrdeutsche und sozial typisch für Bergleute.

Die Verwendung des Wortes ist aber bei weitem nicht regional auf das Ruhrgebiet und sozial auf Bergleute eingeschränkt. So hat Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung vom 10. November 1998 gesagt, dass die Deutschen sich „von der Vorstellung trennen müssen, nur die in der unmittelbaren Produktion erbrachte körperliche Maloche“ sei „wirkliche Arbeit“. Schröder deutete damit an, dass diejenigen, die nicht körperlich malochen – gemeint sein könnten unter anderem Geisteswissenschaftler –, auch hart arbeiten. Dementsprechend wird das Wort malochen in der ganzen Sprachgemeinschaft gebraucht. Von Politikern etwa auch dann, wenn sie sich volksnah zeigen wollen, z. B. gerne mit Bauhelm auf dem Kopf im Kontext medial begleiteter Fabrikbesichtigungen o. Ä. – wir alle kennen diese Bilder.

Malochen ist erst seit neuerer Zeit in der deutschen Umgangssprache und im allgemeinen Sprachgebrauch geläufig. Das Substantiv zu malochen ist Maloche, das erstmals 1980 im Rechtschreibduden stand. Allerdings sind nach dem Sprachwissenschaftler Hans Peter Althaus die Ausdrücke malochen und Maloche im Rotwelschen, der sogenannten Gaunersprache, schon seit dem 18. Jahrhundert bezeugt. Malochen soll im Rotwelschen ›arbeiten, machen, tun, verfertigen‹ und – ›schreiben‹ bedeutet haben: Schreiben soll für Gauner damals eine harte Arbeit gewesen sein. In vereinzelten Quellen wird malochen auch in der Bedeutung von ›plündern‹ verwendet.

Neben der Erklärung, das Wort malochen sei über das Rotwelsche ins Deutsche gelangt, erscheint plausibel, dass es aus dem Jiddischen melocho entlehnt wurde. Dieses geht auf das hebräische Ausgangswort mela'ka(h) oder meläkä zurück, das so viel bedeutet wie ›Arbeit‹. Arbeit hat hier allerdings eine spezifische religiöse und, wenn man so will, auch sozialpolitische Prägung. Im Judentum wird Arbeit definiert als das Schaffen einer neuen Situation, etwa indem man ein Werk herstellt oder eine Tätigkeit verrichtet. Eine Arbeit, die im jiddischen Gebrauch des Wortes als Maloche klassifiziert war, fiel unter das Ruhegebot des jüdischen Glaubens, sprich: Sie war am Sabbat verboten.    ⋄    David Römer

(94) 4. April – durchaus

Einige Wörter unserer Sprache sind schon ein bisschen sonderbar. Wortwörtlich verstanden bedeuten sie so ziemlich genau das Gegenteil dessen, was sie tatsächlich bedeuten. Gefälligst ist ein solches Wort: Eigentlich bedeutet es so viel wie ›wenn es Ihnen/dir gefällt‹, scheint also der angesprochenen Person – und sogar im Superlativ (der „Höchststufe“) – die Wahlfreiheit zu lassen. „Halten Sie gefälligst den Mund!“ ist aber eine sehr direkte (und dadurch ziemlich unhöfliche) Aufforderung. Entscheidungsspielraum ist das Letzte, worum es hier geht.

Ebenfalls ein solches Zwiderwort ist die Partikel durchaus, um die es heute geht. Für unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ vorgeschlagen wurde es von Kathrin Schmidt aus Vechta. Wörtlich bedeutet es das, was seine beiden Bestandteile ausdrücken: durch (›hindurch‹) und aus (›fertig, zu Ende‹) – in der Kombination also so viel wie ›bis zum Ende, ganz und gar, vollkommen‹. Genau so ist es in dem wohl bekanntesten Beleg zu verstehen, den die deutsche Literatur zu bieten hat. Wie so oft stammt er aus Goethes Faust: „Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. / Da steh' ich nun, ich armer Tor, / Und bin so klug als wie zuvor!“ – „Durchaus studiert“, das heißt nicht ›einigermaßen‹ und ›irgendwie hab ich mir schon immer Mühe gegeben‹, sondern das heißt bis zum Ende, zum vorgeschriebenen Schluss, also zum Examen. Faust hat mehrere Universitätsabschlüsse („Heiße Magister, heiße Doktor gar“), weiß also ganz genau, wovon er da redet.

Dass man die zitierte Stelle erklären muss, zeigt aber schon: Das Wort durchaus wird heute in der Regel anders gebraucht. Es dient nicht als Ausdruck der uneingeschränkt höchsten Qualitätsstufe, sondern im Gegenteil als Relativierung: Wenn man auf eine Frage wie „Können Sie Französisch?“ mit „Ja, durchaus“ antwortet, so ist das viel schwächer, als wenn man mit „Ja, sehr gut“ antwortete. Durchaus bedeutet hier so viel wie ›einigermaßen schon‹.

Die Sprachwissenschaft nennt Partikeln – Wörter, die man nicht flektieren („beugen“) kann –, wenn sie in dieser Weise zur Abschwächung oder Einschränkung einer Aussage verwendet werden, Abtönungspartikeln. Gleiche Funktion können auch Adjektive haben, beispielsweise ganz (wörtlich: ›vollständig, vollkommen‹). Welche Wirkung so ein unscheinbares Wort entfalten kann, zeigt die Geschichte von dem jungen Mann, der zum ersten Mal bei den Eltern seiner künftigen Verlobten – so die Planung – zum Essen eingeladen war. Gefragt, ob es ihm denn geschmeckt habe, antwortete er freundlich: „Ja, ganz gut.“    ⋄    Jochen A. Bär

(95) 5. April – Scharmützel

Ginge es nach dem äußeren Eindruck, so könnte man auf den Gedanken kommen, unser heutiges Wort Scharmützel von Schar und Mütze abzuleiten. Dass das wohl aber kaum sein kann, merkt man spätestens in dem Moment, wenn man sich die Bedeutung des Wortes vor Augen führt: Scharmützel heißt dem großen Dudenwörterbuch zufolge so viel wie ›kurzer, auf kleinen Raum beschränkter Zusammenstoß weniger gegnerischer Soldaten, bei dem es zu einem kleinen Feuergefecht kommt‹. Ein bedeutungsähnliches Wort (Synonym) ist Geplänkel. Die Schar, das könnte man in diesem Zusammenhang noch einsehen; aber die Mütze?

Genau so weit ist auch Frank Müller aus Goldenstedt gekommen, der uns den Vorschlag Scharmützel eingesandt hat; er fragt sich und uns nach der tatsächlichen Wortherkunft.

Spätestens an dieser Stelle erweist sich, dass man nicht notwendigerweise alles glauben sollte, was man liest – selbst dann nicht, wenn es in einem ansonsten zuverlässigen Wörterbuch steht. Denn im bereits zitierten Duden findet man unter Scharmützel neben der Bedeutungserläuterung folgende Behauptung: „Herkunft ungeklärt“. Immerhin steht dort auch noch ein Hinweis auf das italienische Wort scaramuzza oder scaramuccia (›Gefecht‹); Scharmützel ist also ein Lehnwort aus dem Italienischen.

Wenigstens etwas genauer äußert sich das Duden-Herkunftswörterbuch. Es nennt neben dem italienischen Wort noch das ebenfalls ›Gefecht‹ bedeutende französische escarmouche und erklärt: „Herkunft und Entstehung der romanischen Wörter sind umstritten.“

„Umstritten“ ist immerhin etwas präziser als „ungeklärt“, aber viel weiter ist man nun immer noch nicht. Ein Glück nur, dass es noch das Etymologische Wörterbuch des Deutschen von Wolfgang Pfeifer gibt. Dort findet man nämlich die Vermutung, dass als Wurzel der ganzen Wortfamilie das altniederfränkische Verb skirmjan (›schützen‹: es steckt auch in unseren Wörtern schirmen und Schirm) anzusehen ist. Davon abgeleitet wurden die altfranzösischen Wörter escremir (›fechten, verteidigen, schützen‹) und escremie (›Kampf, Gefecht‹), die als Grundlage von escarmouche anzusehen sind.

Zur gleichen militärischen Wortsippe gehört übrigens auch der Name einer Figur der italienischen Commedia dell’arte: Der Typus des prahlerischen, polternden Soldaten – er ist der Gegenspieler des Arlecchino – heißt dort Scaramuz. Und wer Mantel-und-Degen-Filme liebt, erinnert sich vielleicht auch an den Streifen Scaramouche, der galante Marquis mit Stewart Granger, Janet Leigh und Mel Ferrer von 1952, der die nach verbreiteter Auffassung beste Fechtszene der Filmgeschichte beinhaltet.    ⋄    Jochen A. Bär

(96) 6. April – Freiheit

wird – fragt man sich selbst, was einem als Erstes dazu einfällt – im Allgemeinen am ehesten als ein erstrebens- bzw. behaltenswerter Zustand der Unabhängigkeit verstanden. Frei fühlt man sich von Zwängen oder von Bevormundung in der ungehinderten Ausübung des eigenen Willens, unfrei hingegen in derjenigen Art der Einschränkung, die dem Gewollten entgegensteht.

Man griffe freilich zu kurz, wollte man unter Freiheit nur Freiheit von jemandem/etwas verstehen. Darauf weist schon der Sprachgebrauch, der ja nicht nur die Wendung sich von etwas befreien, sondern auch zu oder für etwas frei sein kennt. Darauf weist aber auch die Wortherkunft.

Frei lässt sich auf die indoeuropäische Wurzel prai- bzw. prî- (›lieben, gern haben, schonen‹) zurückführen. Das p im Anlaut wurde bereits vor der Zeitenwende zum f (wie bei piscis ›Fisch‹), das lange i erst später, im Mittelalter, zum ei (wie bei mîn ›mein‹ und dîn ›dein‹). Die Entwicklung von ›lieb‹ zu ›frei, unabhängig‹ erklärt sich aus einer Vorstellung ›zu denen gehörig, die man gern hat und schont‹: zu den Verwandten und Stammesgenossen (im Gegensatz zu den stammesfremden Unfreien und Kriegsgefangenen). Zu derselben Wortsippe zählen Freund (ursprünglich: ›Nahestehender‹, auch ›Verwandter‹), freien (›heiraten wollen, werben‹) und Friede (ursprünglich: ›Zustand des Wohlwollens, der Schonung‹). Freiheit war also ehemals das, was man dem Freund gewährte; ihn ließ man in Frieden, schonte ihn, wohingegen man sich des Feindes, des Fremden (›Entfernten‹, nicht Nahestehenden) bemächtigte, ihn zum Gefangenen und Sklaven machte.

Freiheit hatte, wie sich zeigt, für die, auf deren Sprache die unsere zurückgeht, ursächlich mit Liebe zu tun. In diesem Sinne definierte der Philosoph Martin Heidegger Freiheit als „Seinlassen“, womit er nicht ›etwas unterlassen, sich davon abwenden‹ meinte, sondern ›etwas es selbst sein lassen, ihm seine Eigentümlichkeit erlauben‹. Also nicht: sich von etwas, sondern für etwas frei machen. Und dabei vielleicht eine Freundschaft, eine unbekannte Verwandtschaft des Wesens entdecken. Vielleicht aber auch den Doppelcharakter der Freiheit, die, recht verstanden, auch Unfreiheit immer mit einschließt: Denn „im liberalen Sinne heißt liberal nicht nur liberal“ (Loriot).

Das ist ein alter Gedanke, der allerdings in früheren Zeiten deutlicher religiös-moralische Züge trug. Wahre Freiheit meint zugleich Dienst aus Liebe. In Martin Luthers exemplarischer Formulierung: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“    ⋄    Jochen A. Bär

(97) 7. April – Lust

Das Wort Lust ist etymologisch nicht geklärt. Denkbar wäre die Zuordnung zu einer indoeuropäischen Wurzel las (›gierig, mutwillig, ausgelassen sein‹), die unter anderem im altindischen lásati (›begehrt, hat Verlangen nach‹), im lateinischen lascivus (›mutwillig, ausgelassen, zügellos, geil‹) und im russischen láska (›Liebkosung, Wohlwollen‹) steckt.

Das ist aber nur eine mögliche Deutung. Eine zweite leitet Lust von einem germanischen Verb lutan her, das so viel bedeutet wie ›sich niederbeugen, neigen‹; Lust wäre also ursprünglich die Neigung zu etwas.

Eine dritte Erklärung sieht in Lust eine Substantivierung zu demselben Verb, das auch im neuhochdeutschen verlieren steckt. Wäre dies der Fall, so wäre Lust etymologisch verwandt mit los und lösen und übrigens auch mit dem griechischen Verb lyein (›lösen‹), das beispielsweise in Analyse steckt.

Das verlieren zugrunde liegende einfache Verb, das im Neuhochdeutschen lieren lauten dürfte, ist nicht belegt und kann nur erschlossen werden. Hierzu gibt die Wortfamilie verlieren Hinweise: Das r im Stamm von verlieren war in der älteren Sprache ein s (althochdeutsch: firliosan, mittelhochdeutsch: verliesen); man sieht es heute noch an dem Substantiv Verlies (›Kerker‹, eigentlich: ›Ort, an dem man verloren ist‹). Auch das von verlieren abgeleitete Verlust hat das alte s behalten. Lust wäre demnach ebenso auf liesen/lieren zurückzuführen wie Verlust auf verliesen/verlieren. Ein Indiz dafür wäre die Tatsache, daß Lust in der älteren Sprache (im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen) oft maskulin verwendet wurde – der Lust –, und in manchen Mundarten bis heute verwendet wird. Clemens Brentano beispielsweise gestand seiner Geliebten und späteren Frau Sophie Mereau seinen ungeheuren Lusten, sie zu beschlafen.

Damit wäre die Analogie zwischen Lust und Verlust vollständig. Das alte liesen dürfte so viel geheißen haben wie ›sich trennen, abgelöst werden‹, und Lust könnte also dasjenige sein, was im Zustand der Trennung empfunden wird und was nach Befriedigung durch Vereinigung verlangt. Das lässt an die platonische Fabel vom Urmenschen denken: Dieser wurde in zwei verschiedengeschlechtliche Wesen gespalten, von denen fortan beide nicht ohne einander sein konnten und das Bedürfnis nach Wiedervereinigung verspürten.

Ob es sich so verhält mit der Etymologie, ob wir sprachgeschichtlich tatsächlich einen Verlust von liesen zu konstatieren haben, das Lust zugrunde liegt – wir wissen es nicht. Aber wenn es deutlich gekennzeichnet wird, darf Wortforschung auch dies sein: Lust zur Spekulation.    ⋄    Jochen A. Bär

(98) 8. April – Reibach

Unser heutiges Wort ist offenbar beliebt: Gleich zweimal wurde es für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen, nämlich von Christine Gröneweg (Cloppenburg) und Günther-Bernd Ruhnke (Steinfeld). In diesem Zusammenhang ein Hinweis, da die Frage öfter gestellt wird: Die Auswahl der Wörter, die in dieser Kolumne behandelt werden, wurde im November 2013 von einer Jury getroffen; Vorschläge, die jetzt noch eingesandt werden, können leider nicht in der Reihe berücksichtigt werden (es sei denn, dass sie ohnehin schon ausgewählt waren).

Redewendungen wie einen Reibach erwarten, auf Reibach hoffen, den schnellen, den großen Reibach machen oder ähnliche mehr sind bekannt. Das Wort Reibach bedeutet so viel wie ›finanzieller Gewinn‹. Oder, wie es im großen Dudenwörterbuch steht: ›(durch Manipulation erzielter) unverhältnismäßig hoher Gewinn bei einem Geschäft‹.

Wer denkt, dass hier eine Ableitung von dem Verb reiben vorliege, irrt. Vielmehr kommt das Wort von jiddisch Rebbach oder Rebbes, das seinerseits auf hebräisch ribiyt (›Zinsen‹) zurückgeht. Auch die Form Reiwach ist in deutschen Mundarten nachgewiesen, besonders im Berlinischen. In die deutsche Literatur ist das Wort kaum vorgedrungen; der einzige uns bekannte Beleg stammt aus Heinrich Lautensacks Drama Hahnenkampf von 1908. Im Rotwelschen ist das Wort jedoch schon seit dem 18. Jahrhundert bekannt.

Rotwelsch ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von Sondersprachen sozialer Randgruppen. Umgangssprachlich als „Gaunersprache“ bezeichnet, handelt es sich um Sprachformen, die seit dem späten Mittelalter besonders bei Bettlern, beim fahrenden Volk (den so genannten Vaganten) und in kriminellen Kreisen Verwendung fanden (oft als „Geheimsprache“, um von Außenstehenden nicht verstanden zu werden). Seit dem 17. Jahrhundert (mit der Ansiedlung von Gruppen ehemals Nichtsesshafter) wurde das Rotwelsche auch in regionalen Sprachformen greifbar. Die Herkunft des Wortes Rotwelsch (es ist um 1250 in der Form rotwalsch ›betrügerische Rede‹ erstmals belegt), ist nicht ganz sicher. Das Adjektiv welsch hieß ursprünglich so viel wie ›romanisch‹ (nämlich französisch oder italienisch), hat aber auch die Bedeutung ›fremdartig‹ bzw. ›unverständlich‹, wie in der Zusammensetzung Kauderwelsch. Der Wortbestandteil rot wird mit dem rotwelschen Wort rot (›Bettler‹) erklärt, das seinerseits mit rotte (›Bande‹) oder mit mittelniederländisch rot (›faul, schmutzig‹) in Verbindung gebracht.

Trotz seiner Kenntnisse des Rotwelschen: Der Kolumnist macht keinen Reibach: Er bezieht – eine Frage, die ebenfalls öfter gestellt wird – für seine Texte kein Honorar.    ⋄    Jochen A. Bär

(99) 9. April – entsetzt

Der Kolumnist ist ein bisschen entsetzt: Wie die Zeit vergeht! Die heutige Schnapszahl zeigt an, dass unsere Wörter-Reihe morgen das erste Hundert Beiträge erreicht hat. Dann übrigens wird der Kolumnist auch entsetzt: durch Professor Kürschner, der den hundertsten Beitrag übernommen hat.

Entsetzt ist ein Vorschlag von Prof. Dr. Alwin Hanschmidt (Universität Vechta). Möglicherweise hatte er just diese Mehrdeutigkeit des Wortes im Sinn: Entsetzt kann so viel wie ›erschrocken‹ heißen – aber auch ›unterstützt‹ oder ›abgelöst‹. In der Militärsprache heißt jemanden/etwas entsetzen so viel wie ›ihm zu Hilfe kommen‹. Wer beispielsweise eine Stadt oder eine Festung entsetzt, der bringt nicht Entsetzen, sondern Entsatz: Er durchbricht den Belagerungsring, und das bedeutet frische Truppen, Nahrungsmittel, Munition.

Wer sich für Sprache interessiert, wird sich fragen, wie es kommt, dass ein und dasselbe Wort so Unterschiedliches bedeuten kann. Wie oft in solchen Fällen, ist auch hier Metaphorik im Spiel: Das Wort wird im übertragenen Sinne verwendet. Und zwar mehrfach und in jeweils unterschiedlichem Sinne. Ursprünglich bedeutet nämlich entsetzen, ganz wörtlich verstanden, das Gegenteil von setzen. Letzteres heißt ›machen, dass jemand oder etwas sitzt‹; ent-setzen hingegen bedeutet ›machen, dass jemand oder etwas aufhört zu sitzen‹, mit anderen Worten: ›jemanden/etwas von einem Platz wegbewegen‹.

Eine übertragene Verwendung liegt schon dann vor, wenn man die Bewegung nicht im rein körperlichen Sinne versteht: Jemanden (s)eines Amtes entsetzen heißt so viel wie ›ihn entlassen, des Amtes entheben‹. Im frühneuzeitlichen Deutsch konnte jemanden eines Gutes entsetzen dann bedeuten, dass man ihm das Gut wegnahm, also das Besitzverhältnis beendete. Und in der Fachsprache der Medizin konnte entsetzen damals auch ›abführen‹ bedeuten: Man befreite den Körper von seiner Belastung.

Die heute allein noch einigermaßen gebräuchliche Verwendung im Sinne von ›jemanden erschrecken, jemandem Angst machen‹ (auch sich entsetzen: ›einen Schrecken bekommen‹) erklärt sich so: Mit Furcht und Schrecken ist nicht selten ein Auffahren oder Aufspringen verbunden. Der Schreck beendet gewissermaßen das ruhige Dasitzen, er lässt uns mit Sitzen aufhören, setzt uns aus der Ruhe in Unruhe. Wer entsetzt ist, der ist in diesem Augenblick nicht derselbe wie sonst: Er ist außer sich.

In diesem Sinne entsetzlich wird es zumindest im „Jahr der Wörter“ nach dem heutigen Beitrag nicht zugehen: Wir setzen die Reihe in aller Ruhe fort.    ⋄    Jochen A. Bär

(100) 10. April – Pampe

Unser heutiges Wort, das hundertste in Folge, klingt mit etwas Phantasie schon ein bisschen nach der Sache, die es bezeichnet, und wird daher in den Wörterbüchern als „wohl ursprünglich lautmalend“ gekennzeichnet. Pampe meint zum einen eine ›dicke, breiige Masse aus Sand oder Ähnlichem und Wasser‹ und kommt damit dem Matsch in seinen ursprünglichen Erscheinungsformen als ›feuchter, breiiger Schmutz; nasse, schmierige Erde; halbgetauter, schlam­mi­ger Schnee‹ recht nahe. Daher sprechen Kinder wohl auch gern von Matsche­pampe, aber noch lieber matschen sie darin herum.

Neben Pampe steht Papp, und hierzu gehört dann auch die Pappe. Die Zusammenhänge liegen nicht gleich ganz klar auf der Hand. Ausgangspunkt ist wohl Papp in den Bedeutungen ›dicker (Mehl-)Brei‹ und ›klebrige Masse, Kleister‹. Zu diesem nassen, klebrigen Material stellt sich die harte, steife, trockene Pappe, was ein­sich­tig wird, wenn man sich klar macht, dass sie aus klebrigem Papierbrei durch Zusammenpappen entsteht. (Dass der salopp so benannte Führerschein längst nicht mehr aus Pappe und schon gar nicht von Pappe ist und dass er in der älteren Form zutreffend Lappen genannt wurde, während der Plast oder die Plaste für die neueste Erscheinungsform im Scheckkartenformat wohl noch nicht als liebevolle Bezeichnung in Verwendung ist, sei nur am Rande erwähnt.)

Die andere Bedeutung von Papp, ›Brei‹, macht sich bemerkbar in der Redewendung nicht mehr papp sagen können (wenn einer sehr satt ist). Denn: „Wenn man den Mund voll hat, können nur noch Nasale [= Nasenlaute, wie „mhmm“] ordentlich artikuliert werden – bei Verschlusslauten (hauptsächlich Labialen [= Lippenlauten, wie„p“]) würde das Essen aus dem Mund fallen“ – dies die lebensnahe Unterrichtung aus Kluges Etymologischem Wörterbuch.

Papp ist auch als Nachname gebräuchlich, und zwar soll es, wie unter www.deunamen.com zu lesen ist, in Deutsch­land der 5751-häufigste sein. Ein (nicht nur) mir bekannter Träger dieses Namens führt ihn aber nicht auf das hier behandelte Wort für Breiiges zurück, sondern auf ungarisch pap (gesprochen „popp“) mit der Bedeutung ›Pfarrer, Priester‹. Die deutsche Entsprechung dieses auch im slawischen Sprachraum verbreiteten Wortes, Pope, bezeichnet einen ›niederen orthodoxen Weltgeistlichen‹, abwertend kann damit (wie auch mit Pfaffe) ein Geistlicher allgemein gemeint sein.

Pampe wäre unvollständig ohne seine Ableitung pampig. Bei uns im Norden kann dieses Adjektiv („Eigen­schafts­wort“) im Sinne von ›breiig‹ gebraucht werden (die Suppe ist pampig), aber auch wie im übrigen Sprachgebiet im Sinne von ›in grober Weise frech, patzig‹: ein pampiger Kellner, eine pampige Antwort; sie wurde richtig pampig (so die Beispiele im Universalduden).    ⋄    Wilfried Kürschner

(101) 11. April – einzigartig

Für Petra Huckemeyer (Vechta), die sich einzigartig in unserer Reihe gewünscht hat, gehört es zu denjenigen Wörtern, „die ich sehr gern habe und oft benutze“. Das Adjektiv („Eigenschaftswort“) ist, ähnlich wie das etwas schwächere großartig, das Allerweltswort toll, die im „Jahr der Wörter“ ebenfalls schon behandelten hinreißend, geil und krass und viele andere mehr ein emotives Wort. Das heißt, es hat zwar nicht die gleiche Bedeutung und auch nicht die gleiche stilistische Qualität wie die genannten, dient aber ebenso wie sie dem Ausdruck einer Einstellung oder Wertungshaltung gegenüber dem Redegegenstand.

Einzigartig bedeutet nicht ›von einziger Art‹, sondern ›einzig in seiner Art‹. Damit ist nicht notwendig gesagt, dass etwas der einzige Vertreter seiner Art sein muss, so wie die im Juni 2012 im Alter von gut 100 Jahren gestorbene Galapagos-Riesenschildkröte „Lonesome George“ nach derzeitigem Kenntnisstand die letzte ihrer Art (zoologisch: Chelonoidis nigra abingdoni) war. Ein einzigartiges Erlebnis, ein einzigartiges Kunstwerk oder Naturschauspiel ist so geartet, dass es einzeln dasteht, nicht seinesgleichen hat. Einzigartig ist dabei immer positiv wertend: Wort­ver­bindungen wie einzigartiger Frust, einzigartige Sauerei oder einzigartiges Desaster würde man kaum verwenden.

Sprachlich interessant ist die Wortstruktur. Das Adjektivsuffix (die „Endung“) -ig dient dazu, aus anderen Wörtern Adjektive zu machen (abhängen > abhängig, ein > einig, Fluss > flüssig, Zeit > zeitig usw.), übrigens durchaus auch aus Wörtern, die selbst schon Adjektive sind (wahrhaft > wahrhaftig). Es funktioniert auch bei zusammengesetzten Wörtern (Halbjahr > halbjährig, Überzahl > überzählig) und sogar bei Wortgruppen (Ausdrücken, die aus mehr als einem Wort bestehen). Wörter wie rotgesichtig, mehrgeschossig oder zehnminütig lassen sich nur so erklären, dass man ein Wortbildungsmuster „Wortgruppe + -ig“ ansetzt, denn es gibt ja kein „Rotgesicht“, kein „Mehrgeschoss“ und keine „Zehnminute“, sondern nur die Fügungen rotes Gesicht, mehrere Geschosse und zehn Minuten.

Einzigartig verhält sich aber offenbar anders als rotgesichtig, mehrgeschossig und zehnminütig. Denn es be­deu­tet ja eben gerade nicht ›von einziger Art‹, so dass man es nicht als „Wortgruppe einzige Art + -ig“ deuten kann. Übersetzt man einzigartig mit ›so beschaffen, dass es einzig ist‹, liegt es nahe, das Wort als Zusammensetzung aus einzig und artig (nicht ›brav‹, sondern ›geartet‹) zu interpretieren. Dasselbe gilt für großartig, holzschnittartig, neuartig und viele andere. Grammatisch gesehen ist einzigartig also gar nicht einzigartig.    ⋄    Jochen A. Bär

(102) 12. April – schnieke

Manchmal reicht eine einzige Kolumne gar nicht aus, um zu erzählen, was es über ein Wort zu berichten gibt. So war beispielsweise am 31. März bei schicken nicht Raum genug, zu berichten, dass das Adjektiv schick (›elegant‹) und auch das entsprechende Substantiv (der) Schick (›Eleganz‹), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem französischen chic entlehnt wurden – bis heute ist daher auch die französische Schreibung korrekt und wird oft verwendet – nichts anderes sind als Rückentlehnungen. Denn das Wort ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Deutschen Schick (›gute Art, richtiges Verhalten‹), das von (sich) schicken (›für etwas geschickt sein, zu etwas passen; sich gehören‹) kommt, ins Französische entlehnt worden. Schick galt schon im 18. Jahrhundert als veraltet und nicht literatursprachlich und kam erst als vermeintlich französisches Wort zu neuen Ehren.

Umwege wie dieser sind in der Sprachgeschichte wie im täglichen Leben durchaus keine Seltenheit. Der Prophet gilt im eigenen Vaterland bekanntlich nichts (Matth. 13,57), und wer sich an einer deutschen Universität habilitiert, darf dort nicht Professor oder Professorin werden – es sei denn, es gelingt nach ein paar Jahren an einer anderen Universität die Rückkehr. Das soll intellektuelle Inzucht vermeiden, ist aber alles andere als familienfreundlich, da Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oft bis Anfang vierzig zögern, sich irgendwo fest niederzulassen oder, falls sie es doch tun, später nicht selten Hunderte von Kilometern pendeln müssen und nur am Wochenende zu Hause sein können. Dergleichen ist durchaus nicht (s)chic(k) und macht die Wissenschaft hierzulande für den Nachwuchs wenig attraktiv.

Für die Bedeutung ›schön, hübsch, attraktiv, elegant‹ gibt es im Deutschen eine Reihe von Wörtern. So auch schnieke, das eigentlich Gegenstand der heutigen Kolumne ist, und das von Dr. Sigrid Heising vorgeschlagen wurde. Es kommt von dem niederdeutschen snikke(r) oder snigge(r) (›hübsch, nett zurechtgemacht, schlank, flink, zierlich‹), ist besonders im Berlinischen bekannt und hat seine Schreibung mit ie, die ein langes i anzeigt, aufgrund einer Anlehnung an das Verb schniegeln ›(übertrieben) sorgfältig zurechtmachen‹.

Schnieke ist ein familiär-umgangssprachliches Wort. Man kann sich schnieke anziehen oder schnieke essen gehen, kann einen schnieken Job, ein schniekes Auto oder eine schnieke Villa haben. Kaum denkbar wäre eine schnieke Formulierung oder schnieke Lösung eines Problems, und auch dass die Wissenschaft hierzulande für den Nachwuchs wenig schnieke sei, würde man, wenngleich es stimmt, wohl nicht sagen.    ⋄    Jochen A. Bär

(103) 13. April – Kirche

Das heutige Wort, wie die meisten anderen Wörter auch, hat mehr als eine Bedeutung. Die Sprachwissenschaft nennt solche Wörter polysem (im Gegensatz zu monosemen Wörtern wie Föhre, Hopfen oder Mörtel, die nur eine einzige Bedeutung haben). Kirche bedeutet zunächst das geweihte Gebäude, in dem man Gottesdienst feiert. Eine Kirche hat mindestens einen Altar, an dem liturgische Handlungen vollzogen werden, und hierzulande in der Regel mindestens einen (Glocken-)Turm. Eine kleine Kirche, insbesondere dann, wenn sie hauptsächlich für Andachten und nicht für regelmäßige Gottesdienste dient, kann auch Kapelle heißen (nach lateinisch capella ›Mäntelchen‹: im merowingischen Frankenreich war die capella ursprünglich der Ort, an dem der Mantel des heiligen Martin aufbewahrt wurde, und der capellanus – unser heutiger Kaplan – der Geistliche, der für diese Reliquie zuständig war). Eine große Kirche mit erhöhter Mittelhalle nennt man Basilika (nach griechisch basilikë stoá ›königliche Halle‹) eine große Kirche, die zu einem Bischofssitz gehört, nennt man Kathedrale (von lateinisch ecclesia cathedralis ›Kirche des [bischöflichen] Stuhls‹) oder auch Dom (von lateinisch domus ›Haus‹) – wobei ein Dom nicht notwendigerweise eine bischöfliche Kirche sein muss. Eine Stiftskirche heißt Münster (von lateinisch monasterium ›Einsiedelei‹: ein Münster geht oftmals auf die Stiftung eines Klosters zurück; ebenso wie in lateinisch monachus, deutsch Mönch, und übrigens auch in dem eingangs erwähnten Fachwort monosem steckt darin das griechische mónos ›allein, einzeln‹).

Kirche kann aber auch den Gottesdienst bedeuten, den man in einer Kirche feiert. (Rasch die OV-Sonntagslektüre beenden: Die Kirche fängt gleich an.) Eine Gemeinschaft von christlichen Gläubigen heißt ebenfalls Kirche: z. B. in die katholische/evangelische Kirche, im Slogan Wir sind Kirche usw., und auch die Institution, die kirchliche Hierarchie kann man so nennen (die Kirche entscheidet beispielsweise etwas oder äußert sich zu einer Frage).

Das Substantiv („Hauptwort“) Kirche ist ein sehr altes Wort; es war bereits im frühesten Vorläufer unserer heutigen Sprache, dem so genannten Althochdeutschen bekannt (in der Form kirihha). Da es kein einheimisches Wort ist – es kommt vom griechischen kyriaké oikía (›Haus des Herrn‹) –, man ihm das aber längst nicht mehr ansieht, wird Kirche nicht als Fremdwort, sondern als Lehnwort eingestuft. Lehnwörter (in Schreibung und Aussprache eingedeutscht) sind beispielsweise auch Mauer (lateinisch murus), Suppe (französisch soupe), Kasse (italienisch cassa) oder Streik (englisch strike).    ⋄    Jochen A. Bär

(104) 14. April – Karwoche

Die Bezeichnung für die laufende Woche, die Karwoche, ist, linguistisch gesehen, ein halb durchsichtiges Komposi­tum. Der zweite Teil der Zusammensetzung benennt das, worum es sich handelt, um eine Woche eben, der erste Teil ist aus sich heraus nicht mehr verständlich. Kar... geht zurück auf die früheste Periode der deutschen Sprach­ge­schichte, das Althochdeutsche. Ab dem 9. Jahrhundert bis ins Mittelhochdeutsche hinein gab es das Wort kara (auch chara geschrieben) mit der Bedeutung ›Trauer, Wehklage‹. Einen Nachklang des im Deutschen unter­ge­gan­ge­nen Wortes haben wir im englischen Wort care, das ›Sorge, Kummer‹, aber auch ›Vorsicht‹ (take care!) und ›Für­sorge‹ bedeutet. Gemeint ist mit Kar... im christlichen Sinn die Trauer, die Klage über die Kreuzigung Jesu am Kar­frei­tag.

Neben dem Karfreitag steht der Karsamstag (auch stiller Samstag genannt). Der Donnerstag der Karwoche trägt einen eigenen Namen, Gründonnerstag. Das Bestimmungswort ist hier, da sind sich die Wörterbücher einig, ziemlich sicher wörtlich zu verstehen. Dieser Tag, so der Etymologieduden, „ist wohl nach dem weitverbreiteten Brauch benannt, an diesem Tag etwas Grünes, besonders Grünkohl, zu essen“.

In den romanischen Sprachen heißt unsere Karwoche die „heilige Woche“: spanisch Semana Santa, italienisch settimana santa, französisch semaine sainte. Diese Benennung hat auch das Englische übernommen: Holy Week. Dort heißt der Karfreitag übrigens Good Friday und der Gründonnerstag Maundy Thursday. Das Wort maundy stammt, wie so vieles im Englischen, aus dem Französischen und geht auf das lateinische mandatum ›Befehl, Weisung‹ zurück. Es steht für die Fußwaschung, die Jesus an seinen Jüngern vornahm (Johannes 13, 1–11), und auch für das letzte gemeinsame Abendessen, bei dem sie stattfand.

In den gerade erwähnten romanischen Sprachen gibt es für die einzelnen Wochentage keine speziellen Namen. Gründonnerstag heißt „heiliger Donnerstag“, Karfreitag „heiliger Freitag“. Lediglich im Spanischen ist für Kar­sams­tag Sábado de Gloria in Gebrauch. Und im Englischen heißt dieser Tag außer Holy Saturday auch Easter Saturday, eine Bezeichnung, die, obwohl nicht ganz korrekt, auch im Deutschen als Ostersamstag anzutreffen ist und für Verwirrung sorgen kann, da damit eigentlich der letzte Tag der Osterwoche, also der Samstag vor dem Weißen Sonntag, gemeint ist. Für den ersten Tag der Karwoche, den Palmsonntag (nach der biblischen Geschichte vom in Jerusalem einreitenden Jesus, der mit Palmzweigen empfangen wurde – Johannes 12, 13), sind in allen hier betrachteten Sprachen entsprechende Bezeichnungen üblich: Domingo de Ramos, Domenica delle Palme, les Rameaux, Palm Sunday.

Kürzlich fand sich in einer Broschüre der Vechtaer katholischen Pfarrgemeinde die zusammenfassende Benennung Kartage für die sieben Tage der Karwoche. Dies ist eine Erweiterung des Begriffs, der sonst auf Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag als die Tage des Gedenkens an das Leiden und Sterben Jesu Christi beschränkt ist.    ⋄    Wilfried Kürschner

(105) 15. April – Bäuerchen

Ein Bäuerchen ist ein kleiner Bauer. Damit meint man aber in der Regel keinen Nachwuchslandwirt und auch keinen kleinwüchsigen, sondern einen leichten Rülpser, ein zartes Aufstoßen, insbesondere bei Babys.

Rülpsen mit Bauern in Verbindung zu bringen, geht auf Zeiten zurück, in denen Bauern noch pauschal als Menschen mit schlechten Manieren galten. Das ist falsch, wie man längst weiß, und so gab es bereits mehrfach den Versuch, das Wort Bäuerchen zu verbieten, weil es nicht politisch korrekt sei; beispielsweise wurde von einem Landwirt gefordert, es aus dem Duden zu streichen. Noch hat sich die Sprachgemeinschaft hier freilich nichts vorschreiben lassen, und das freut besonders die Klasse 3c der Vechtaer Overbergschule, deren Lieblingswort Bäuerchen ist. Für die Kinder hört es sich „witzig“ und „außergewöhnlich“ an, und: „Jeder hat es schon mal gemacht“.

Politische Korrektheit (englisch political correctness) ist der Versuch, gesellschaftliche Diskriminierung, insofern sie sprachlich geschieht, zu verhindern. Ausdrücke, die jemand als kränkend empfindet, sollen demnach vermieden werden.

Dass man niemanden beleidigen sollte, versteht sich von selbst, und darüber nachzudenken, dass man möglicherweise auch unabsichtlich die Gefühle anderer verletzen kann, hat noch niemandem geschadet. Der grundsätzlich sehr sinnvolle und begrüßenswerte Ansatz wird jedoch dort problematisch, wo er in konkrete Sprachregelungsversuche mündet – insbesondere dann, wenn dabei erkennbarer Unsinn entsteht. So gab es beispielsweise in den USA den Vorschlag, das negativ wertende dwarfed (›kleinwüchsig‹) durch einen positiv klingenden Ausdruck zu ersetzen: vertically challenged (›vertikal herausgefordert‹). Und wenn in dem unterstützenswerten Bemühen, Frauen gleichberechtigt sprachlich in Erscheinung treten zu lassen, Redeweisen wie „die Mitgliederinnen und Mitglieder des Vereins“ oder „liebe Erstsemesterinnen und Erstsemester“ entstehen, dann zeigt die redende Person eigentlich nur, dass sie vor lauter korrektem Empfinden nicht mehr korrekt denken kann: Es ist das Mitglied und das Erstsemester, nicht der; ohne männliche Form aber braucht es keine weibliche zur Ergänzung.

Schöne neue Sprachwelt! Konsequenterweise müsste man in ihr auch Aussagen wie „Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln“ verpönen, da die Verbindung von Bauer und dumm ebenfalls diskriminierend ist. Vorschläge, wie man den gemeinten Sachverhalt politisch korrekt zum Ausdruck bringen könnte, gibt es bereits: „Die voluminöse Expansion subterraner Agrarprodukte ist umgekehrt proportional zur intellektuellen Kapazität ihrer Produzenten.“    ⋄    Jochen A. Bär

(106) 16. April – adrett

Unser heutiges Wort gehört zu den Lieblingswörtern von Maria Schmidt (Vechta): „Es klingt ein bisschen altertümlich und man denkt an Sauberkeit und Ordnung. Ein Wort, das etwas Ähnliches bedeutet, reimt sich sogar darauf: nett.“

In der Tat: Wenn man sich adrett anzieht oder zurechtmacht, kann man durchaus auch nett dafür sagen: Beides geht in die gleiche Richtung. Nett, das spätestens Ende des 15. Jahrhunderts aus dem Französischen entlehnt wurde und über italienisch netto (›rein, glatt‹) auf lateinisch nitere (›glänzen, blinken‹) zurückgeht, bedeutet, dem großen Duden zufolge, unter anderem ›hübsch und ansprechend, so dass es jemandem gefällt‹. Adrett hingegen heißt laut demselben Wörterbuch ›sauber und ordentlich in der äußeren Erscheinung und deshalb einen gefälligen, angenehmen Eindruck machend‹.

Adrett kommt ebenfalls aus dem Französischen, allerdings erst im 17. Jahrhundert. Es ist eine Variante von adroit (›gewandt, geschickt, beweglich‹) und leitet sich vom lateinischen ad-directus (›ausgerichtet, wohlorientiert‹) ab. Zugrunde liegt das lateinische regere (›lenken, richten‹) beziehungsweise dirigere (›etwas leiten, etwas auf etwas hin ausrichten‹), Wörter, die wir heute noch als regieren bzw. dirigieren kennen. Regere und sein Partizip („Mittelwort“) rectus sind eng verwandt mit den deutschen Wörtern Recht, recht, richten, richtig usw. In adrett steckt also ursprünglich die Vorstellung des Angemessenen, Passenden, Richtigen; sich oder jemanden adrett zurechtmachen wäre demnach fast schon eine Tautologie („doppelt gemoppelt“), weil adrett alleine schon so viel heißt wie ›zurechtgemacht: so, wie es sich gehört‹. In nett hingegen steckt ursprünglich der Gedanke des Schönen, des äußerlich Ansprechenden; es geht mehr in Richtung des Ästhetischen.

Ästhetik und Ethik gehen aber seit jeher oft ineinander über. Schon die Antike kannte das Ideal der Kalokagathie (griechisch kalos kai agathos ›schön und gut‹), wonach etwas, das schön ist, zugleich auch moralisch gut sein muss – oder umgekehrt: Was unanständig, verwerflich usw. ist, kann nicht wahrhaft schön sein.

Auch in dem Wort Ehre (›gesellschaftliches Ansehen aufgrund offenbaren oder vorausgesetzten – besonders sittlichen – Wertes‹) steckt ursprünglich möglicherweise die Vorstellung des Schönseins: Jacob Grimm zumindest vermutet eine Verwandtschaft mit lateinisch aes (›Erz, blinkendes Metall‹) und dem deutschen Erz, das ursprünglich gleichfalls ›das Blinkende, Glänzende‹ bedeutet haben soll. Ehre wäre also im übertragenen Sinne der Glanz, den das Gute erzeugt. Eine nette Vorstellung.    ⋄    Jochen A. Bär

(107) 17. April – Lebensfreude

Es gibt Wörter, die klingen schön, und es gibt Wörter, die bedeuten etwas Schönes. Lebensfreude, unser heutiges Wort – Harald Rösler aus Steinfeld hat es als eines seiner Lieblingswörter für unsere Reihe vorgeschlagen –, gehört wohl eher zur letzten Kategorie; zumindest ist die Wortgestalt nicht auffallend klangschön. Inhaltlich aber steht es für ein sehr erfreuliches Gefühl, das gerade in dieser Jahreszeit nicht nur der Mensch empfindet.

In Leben steckt ursprünglich wohl die Bedeutung ›übrig bleiben, überleben (nach einem Kampf‹); Freude (mittelhochdeutsch vröude, althochdeutsch frewida oder frouwida) ist eine Substantivbildung zu froh, das ursprünglich ›lebhaft, schnell‹, dann ›erregt, bewegt‹ hieß. Wie an der althochdeutschen Wortgestalt gut zu erkennen, weist Freude das alte Suffix (die Endung) -ida auf, die so viel wie ›Gestalt, Erscheinungsform‹ bedeutete. Sie steckt beispielsweise auch in Getreide (althochdeutsch gitregida, von tragen: ›Frucht, die das Feld trägt‹).

Ins Auge fällt bei aufmerksamer Betrachtung das Fugen-s zwischen den beiden Wortbestandteilen Leben und Freude. Historisch gehen Fugenelemente bei Komposita (Wortzusammensetzungen) auf Genitiv-Endungen des ersten Bestandteils zurück (des Königs Mantel > Königsmantel, des Bischofs Stab > Bischofsstab). Neben dem Fugen-s gibt es auch noch andere Fugenzeichen, beispielsweise das Fugen-n in Sonnenschein oder das -en in Frauenschuh. Auch sie gehen auf alte Genitiv-Singular-Endungen zurück: Früher hieß es der Strahl der Sonnen oder der Schuh einer Frauen – Formen, die sich im Laufe der Zeit abgeschliffen haben (heute: der Strahl der Sonne bzw. der Schuh einer Frau). Es gibt selbstverständlich auch Zusammensetzungen ohne Fugenelement (Amtmann – allerdings: Amtsperson, mit Fugen-s). Und es gibt Fälle, in denen ein -s erscheint, obwohl historisch keine entsprechende Genitiv-Endung zugrunde liegen kann: so bei Universitätsstraße (der Genitiv von Universität hatte nie die Endung -s) oder bei Bischofskonferenz (es ist nicht die Konferenz eines Bischofs, sondern mehrerer Bischöfe). Hier lässt sich das Fugenelement durch Analogiebildung erklären, das heißt durch Anlehnung an Beispiele, in denen eine echte Genitiv-Endung vorlag (etwa beim schon erwähnten Bischofsstab).

Lebensfreude weist auch solch ein unorganisches Fugen-s auf: Es ist ja nicht die Freude des Lebens, sondern die Freude am Leben. Aber man kann sich sehr wohl des Lebens freuen, und hierin ist wohl die Analogiebildung motiviert.    ⋄    Jochen A. Bär

(108) 18. April – Gott

Über das Wort Gott lässt sich aus etymologischer Sicht, also was seine Herkunft angeht, nicht viel Sicheres sagen. „H. u.“ (›Herkunft unbekannt‹), so lautet lapidar die erste Auskunft im Duden-Universalwörterbuch. Sicher ist, dass das Wort in dieser Form nur in den germanischen Sprachen existiert (in den romanischen Sprachen geht sein Gegenstück auf lateinisch deus zurück, griechisch heißt es theos [wie in Theologie], und in den slawischen Sprachen liegt die Wurzel bog zugrunde): hoch- und niederdeutsch Gott, englisch, niederländisch, schwedisch god, dänisch, norwegisch gud. Zur Herkunftsfrage fügt das Universalwörterbuch dann doch noch zwei Vermutungen an: „viell. eigtl.“ (›vielleicht eigentlich‹) „das (durch Zauberwort) angerufene Wesen) oder das (Wesen), dem (mit Trankopfer) geopfert wird“.

Grammatisch gesehen liegen im Deutschen zwei unterschiedliche Verwendungen des Wortes vor, die mit seinen Bedeutungen zu tun haben: Es kann einerseits in beiden Numeri, im Singular („Einzahl“) und im Plural („Mehrzahl“), stehen und mit einem Artikel („Bestimmungswort“) verbunden werden: der Gott des Krieges, heidnische Götter und so weiter. Die Bedeutung wird für diesen Fall als „(im Polytheismus) kultisch verehrtes übermenschliches Wesen als personal gedachte Naturkraft, sittliche Macht“ angegeben.

Andererseits steht das Wort Gott, wenn es so viel bedeutet wie „(im Monotheismus, besonders im Christentum) höchstes übernatürliches Wesen, das als Schöpfer Ursache allen Geschehens in der Natur ist, das Schicksal der Menschen lenkt, Richter über ihr sittliches Verhalten und ihr Heilsbringer ist“, nur im Singular, und es lässt keinen Artikel zu (also nicht der Gott, ein Gott), es sei denn, dass es eine nähere Bestimmung zu sich nimmt: der liebe Gott; der Gott der Christen, der Juden, der Muslime. In beiden Bedeutungen kommt das Wort in vielen festen Wendungen vor: zum einen wie ein junger Gott (spielen, tanzen), das wissen die Götter, zum anderen im Gruß (Grüß Gott), im Ausruf des Erschreckens (Gott steh mir bei), in einer Drohung (gnade dir Gott!), in einem scherzhaften Ausdruck (wie Gott sie erschaffen hat), um nur einige zu nennen.

Unbesorgt um Etymologie, Grammatik und Semantik (aber nicht um die Orthografie) begründen die Kinder der Klasse 2a der Overbergschule Vechta ihren Vorschlag, Gott im „Jahr der Wörter“ zu behandeln: „Ich finde, dass das Wort nur aus schönen Buchstaben besteht, das o mag ich besonders“, „Ich glaube, dass der liebe Gott mich immer beschützt, darum finde ich auch das Wort schön“, „Es ist leicht, Gott richtig zu schreiben, darum mag ich das Wort“, „Ich kenne das Wort von meiner Oma, weil sie mir manchmal etwas von Gott erzählt“, „Wir benutzen es fast jeden Tag, zum Beispiel wenn wir morgens gemeinsam beten“.    ⋄    Wilfried Kürschner

(109) 19. April – Vergissmeinnicht

Die Sprache ist ein System von Lautzeichen bzw. Schriftzeichen, die unterschiedlich komplex sind. Wortelemente (z. B. be-, un-, ver-, -heit, -nis, -ung) bestehen aus einfachen Lauten bzw. Buchstaben. Wörter bestehen aus Wortelementen. Wortgruppen (z. B. Sätze) bestehen aus Wörtern. Und Texte, so wie diese Kolumne, bestehen aus Sätzen. Es gibt aber auch Texte, die bestehen aus nur einem einzigen Satz („Eltern haften für ihre Kinder“) oder nicht einmal das: „Anlieger frei“ oder „Betreten des Rasens verboten“ sind Texte, d. h. zusammenhängend strukturierte, in sich geschlossene sprachliche Handlungen, aber keine Sätze (da ihnen das Verb fehlt). Und es ist sogar noch komplizierter: Manche Sätze bestehen nur aus einem Wort („Komm!“, „Geh!“), manche Wörter hingegen bestehen aus einem ganzen Satz.

Ein solches Satzwort ist das, mit dem wir uns heute befassen: Vergissmeinnicht. Der Name der bekannten kleinen Blume, die derzeit in vielen Gärten blüht, ist grammatisch ein vollständiger Satz. Er besteht aus dem Imperativ („Befehlsform“) des Verbs vergessen, aus dem Pronomen („Fürwort“) mein und der Verneinungspartikel nicht, die als Adverbial (nähere Bestimmung des Verbs) dient. Das Pronomen steht in der altertümlichen Kurzform: Eigentlich wäre Vergiss meiner nicht zu erwarten. Und vergessen erscheint, ebenfalls altertümlich, mit Genitiv (jemandes/einer Sache vergessen: heute ist der Akkusativ üblich: vergiss mich nicht).

In vergessen steckt nicht etwa essen, wie man zunächst denken könnte, sondern ein Verb gessen, das es im Gegenwartsdeutschen nicht mehr gibt, das aber im englischen to get vorliegt und das ›bekommen, erlangen‹ bedeutet (so nachzulesen im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen von W. Pfeifer). Noch das Althochdeutsche kannte dieses Verb in der Form gezzen. Die zugrunde liegende indoeuropäische Wurzel ist vermutlich ghe(n)d (›anfassen, ergreifen‹, auch ›geistig erfassen‹), das auch in lateinisch prehendere (›fassen, ergreifen‹) erkennbar ist. Durch die Vorsilbe ver- wird die Bedeutung ins Negative gewendet: ›nicht mehr ergreifen können, aus seinem geistigen Besitz verlieren‹.

Das leuchtend blaue, sich leicht verbreitende und daher von Jahr zu Jahr üppiger wuchernde Vergissmeinnicht gilt als Symbol der Freundschaft und Erinnerung: daher der Name. Früher legte oder klebte man getrocknete Vergissmeinnicht gern in Poesiealben, häufig zusammen mit sinnigen Sprüchen wie: „Rosen, Tulpen, Nelken, / alle Blumen welken; / nur die eine nicht: / die heißt Vergissmeinnicht.“    ⋄    Jochen A. Bär

(110) 20. April – Ostern

Woher kommt eigentlich das Wort Ostern? Diese Frage wird – verständlicherweise insbesondere zu Ostern – oft gestellt. Doch wer eine wissenschaftlich völlig gesicherte Antwort erwartet, wird enttäuscht. Die Sprachwissenschaft ist sich nämlich, wie oft bei etymologischen Fragen, nicht einig. Es gibt mindestens drei Theorien:

1) Jacob Grimm, einer der Gründerväter der deutschen Philologie, nahm an, es habe eine germanische Frühlingsgöttin namens Ostara gegeben, von der das „Frühjahrsfest“ Ostern seinen Namen habe. Diese Ansicht gilt allerdings heute als überholt, da eine solche Göttin nicht nachweisbar ist.

2) Ostern hat etwas mit dem Wort Osten zu tun. Letzteres bildet gemeinsam mit lateinisch auster (›Südwind‹), altslawisch zaustra (›Morgen‹) und griechisch Eos/lateinisch Aurora (›Morgenröte‹) eine Wortsippe. Ostern wäre demnach das Fest des Morgens, des Sonnenaufgangs (was allerdings theologisch nicht zutrifft: Beim Osterfest, dem Fest der Auferstehung Christi, ist die Nacht, nicht der Morgen von zentraler Bedeutung).

3) Der Leipziger Sprachwissenschaftler Jürgen Udolph schlägt vor, Ostern mit Wörtern wie altnordisch ausa (›Wasser schöpfen, gießen‹) und austr (›begießen‹) in Verbindung zu bringen. Das Wort Ostern könnte demnach etwas mit der Taufe zu tun haben: Diese war nämlich im frühen Christentum mit dem Osterfest verbunden. Der Übertritt heidnischer Germanen zum Christentum fand als „Sammeltaufe“ besonders häufig zu Ostern statt.

Ostern wird heutzutage in der Regel als Form des Singulars (der „Einzahl“) verstanden: „Ostern fällt in diesem Jahr auf den 20. und 21. April.“ Ursprünglich war es aber ein Wort im Plural (der „Mehrzahl“), wie noch der Wunsch „Frohe Ostern“ (nicht: „Frohes Ostern“) zeigt. Martin Luther übersetzt Matth. 26,18 so: „Ich will bei dir die Ostern halten mit meinen Jüngern.“

Das Fest ist mehrtägig, daher der Plural. Udolphs Herleitung des Wortes Ostern könnte aber noch ein zusätzliches Argument liefern: Traditionell wurde der Täufling dreimal mit Wasser begossen: die Ostern (›Begießungen‹).

Im Volksglauben ist Ostern seit jeher das klassische Frühlingsfest. Fruchtbarkeitssymbole wie der Hase und das Ei lassen dies bis heute erkennen. Woher der Brauch kommt, an Ostern Eier zu verschenken, ist allerdings ebensowenig klar wie die Wortherkunft von Ostern. Vielleicht geht er auf eine Abgabe zurück, zu der Bauern am Gründonnerstag ihren Grundherren verpflichtet waren. Das Wort Osterei erscheint jedenfalls erstmals im 14. Jahrhundert in der Bedeutung ›zu Ostern abzulieferndes Zinsei‹.    ⋄    Jochen A. Bär

(111) 21. April – Tornister

Ein Tornister ist, dem großen Duden zufolge, ein „auf dem Rücken getragener größerer Ranzen der Soldaten“. Landschaftlich nennt man auch den Schulranzen so. Theodor Fontane berichtet über seinen Vater, der 1813 als junger Mann die Befreiungskriege gegen Napoleon mitgemacht hatte: „Mein Vater erhielt eine Kugel in den Tornister, die, nach Durchbohrung eines kleinen Wäschevorrats, in den Pergamentblättern einer dicken Brieftasche steckenblieb. Diese Brieftasche, mit der Kugel darin, hab ich mir oft zeigen lassen. ‚Du mußt wissen, mein lieber Sohn, es war kein Schuß von hinten; wir stürmten einen Hohlweg, auf dessen Rändern rechts und links französische Voltigeurs standen. Also Seitenschuß.' Das unterließ er nie zu sagen; er war vollkommen unrenommistisch [›nicht ruhmredig, kein Angeber‹], aber darauf, daß dies ein ‚Seitenschuß' gewesen sei, legte er doch Gewicht.“ – Klar: Da man den Tornister auf dem Rücken zu tragen pflegt, liegt es nahe, dass der Schuss von hinten getroffen habe. Das aber hätte bedeutet, dass der Soldat dem Feind den Rücken gekehrt habe, also geflohen sei.

Obwohl die ›Wendung‹ oder ›Umkehr‹, ›das Umdrehen‹ naheliegt, und obwohl er manchmal fälschlich „Turnister“ ausgesprochen wird, hat der Tornister nichts mit französisch tourner, lateinisch tornare (›drehen, umdrehen, wenden‹) zu tun, das in turnen, aber auch in Tour (eigentlich: ›Rundreise‹) und in Tourist und Tourismus steckt. Tornister – für unsere Reihe vorgeschlagen von Ulrike Kuhlmann-Warning aus Damme – ist eine Umbildung aus Tanister und als solches wohl eine Entlehnung aus dem Slawischen. In einigen polnischen und tschechischen Mundarten findet sich das Wort tanistra (›Ranzen‹). Es geht wohl auf (mittel)griechisch tágistron (›Futtersack‹) zurück.

Nicht Schulkinder (hoffentlich!), wohl aber Soldaten haben in ihren Tornistern manchmal Behältnisse, in denen sich Hochprozentiges befindet: Feldflaschen, Flachmänner oder Ähnliches. (Allein schon das Wort Flachmann zeigt, dass und warum das nichts fürs Kind ist: Es wäre sonst ein Flachkind ...).

Apropos: Das „Jahr der Wörter“ hat schon wieder einmal eine Schnapszahl erreicht. Wir könnten also durchaus mal im Tornister nach Geistigem schauen ... wartete da nicht gleich im Anschluss die nächste Kolumne. Und im Gegensatz zu dem Philosophen Hegel, von dem es heißt, dass er seine Philosophie des Geistes nicht unter 2,0 Promille formulieren konnte, arbeitet der Vechtaer Professor besser nüchtern.    ⋄    Jochen A. Bär

(112) 22. April – Lorbass

(so die offiziell korrekte Schreibung) oder Lorbas, ein Vorschlag von Ludger Niehaus aus Lohne, ist ein Wort, das oft für niederdeutsch gehalten wird. Tatsächlich findet man es im Westniederdeutschen, unter anderem im Ruhrgebiet. Ursprünglich kommt es aber aus dem Ostpreußischen; es geht zurück auf litauisch liùrbis, lettisch lurbis und bedeutet laut Duden so viel wie ›Lümmel, Taugenichts‹. Heinz Küpper im Wörterbuch der deutschen Umgangssprache gibt die Bedeutung mit ›ungeschickter, plumper, flegelhafter Bursche, grobschlächtiger Mann oder Draufgänger‹ an. Ein langer Lorbass ist ein großwüchsiger Mensch.

Im 19. Jahrhundert galt Lorbass als kräftiges Schimpfwort, konnte aber auch durchaus liebevoll im Sinne von ›Lümmel, ungezogener frecher Junge‹ verwendet werden. Lorbe bedeutet ›in die Erde gehauener Keil zum Abstützen eines Gerüsts, Hauklotz‹.

Wirft man einen Blick in die digitalen Textsammlungen des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache (IDS), die größte Datenbank zur deutschen Gegenwartssprache, so findet man heraus, dass Lorbas oder Lorbass auch als Eigenname diverser Tiere (so von Katzen, Hunden und Pferden) und von Lokalen (z. B. in Gelnhausen) verwendet wird. Ein Lorbaß heißt zudem ein 1967 erschienenes Theaterstück des DDR-Autors Horst Salomon (1929-1972), und in der Gegend von Braunschweig gibt es eine Folkband namens Lorbass, über die 2008 in der Braunschweiger Zeitung zu lesen war: „Mit eigenen Arrangements traditioneller und volkstümlicher Stücke in serbischer, ungarischer, italienischer, englischer, spanischer und deutscher Sprache stellten sie Geselligkeit, Lebensfreude und die Liebe zur Musik in den Mittelpunkt. Unterhaltsam waren die sich durch das Konzert ziehenden Anekdoten um den mysteriösen Namensgeber und Mentor der Band, Lorbass. Diese fiktive Figur war aus einem Spaß heraus bei den Proben entstanden und ist seitdem fester Bestandteil der Konzerte: Lorbass, der ewig Reisende, versorgt die fünf Familienmitglieder mit immer neuen Liedern, ist aber auch strenger Überwacher aller Vorgänge der Musiker. Zuhörer, die dem ostpreußischen Idiom oder der Mundart im Ruhrgebiet mächtig waren, konnten sogleich erahnen, dass es sich bei Lorbass wörtlich um einen Schlingel oder Bösewicht handeln musste.“

Ja, Sie haben schon richtig gelesen: „dem ostpreußischen Idiom oder der Mundart im Ruhrgebiet mächtig“. Das ist natürlich Deutsch für Lorbasse (so laut Duden die Mehrzahl). Alle anderen gebrauchen mächtig mit dem Genitiv („Wesfall“).    ⋄    Jochen A. Bär

(113) 23. April – tönern

Auf tönernen Füßen steht mancherlei: das globale Klima, aktuell der Friede in Osteuropa und auch noch an ein paar anderen Orten, die man darüber fast schon wieder vergessen zu haben scheint. Ebenfalls einsturzgefährdet wirkt die Allgemeinbildung einiger Zeitgenossen. So beispielsweise bei einer jungen Britin, die unlängst „Barraco Barner“ für den Präsidenten ihres Heimatlandes hielt und dies über Twitter auch die Öffentlichkeit wissen ließ. Die First Lady der Vereinigten Staaten von Großbritannien heißt dann zweifellos Michello Barner, die Erde ist eine Scheibe und etwas Tönernes (›aus Ton Bestehendes‹) hat seinen Namen daher, dass es einen Ton gibt, wenn man es zerdeppert.

Aus dem Alten Testament (Dan. 2,31–35) kennt man die Redewendung auf tönernen Füßen stehen (›ein schwaches Fundament/keinen festen Stand haben, gefährdet sein‹). Der Prophet Daniel erläuterte dem babylonischen König Nebukadnezar, der einest Tages schlecht geträumt hatte, was dessen Traum bedeutete: Ein riesiges Standbild hatte der König gesehen, dessen Kopf aus Gold, Brust und Arme aus Silber, Bauch und Lenden aus Bronze und Füße teils aus Eisen, teils aber auch aus Ton waren. Die Statue wurde, so träumte er, durch einen Stein, der vom Himmel fiel, zum Einsturz gebracht. Daniel sagte das Ende des Reiches voraus; wenige Jahre später wurde Babylon von den Persern erobert.

Auch die Vermutung, das Material Ton (›verwittertes Sedimentgestein‹) habe etwas mit dem Ton (›Klang‹) zu tun, steht auf tönernen Füßen. In Wahrheit handelt es sich um zwei ganz verschiedene, lediglich gestaltgleiche Wörter Ton und Ton. Das eine (Mehrzahl: die Töne) leitet sich vom lateinischen tonus (›Spannung‹) ab; es wurde zunächst auf die Spannung der Saiten eines Musikinstruments bezogen, später dann auch auf den Klang, der durch sie erzeugt werden kann. Das andere (Mehrzahl: die Tone ›Tonsorten‹) geht auf althochdeutsch dâha zurück und ist mit gedeihen verwandt; es bedeutet ursprünglich ›das, was beim Austrocknen dicht wird‹.

Interessant ist, dass das Adjektiv tönern den Umlaut von o zu ö aufweist. Dies ist allgemein der Fall bei Ableitungen mit -ern (gläsern, hölzern, stählern, wächsern), wohingegen Material-Adjektive, die auf -en gebildet werden, heute meist ohne Umlaut auskommen (golden, metallen, samten). Allerdings ist neben hanfen (›aus Hanf‹) auch die Form hänfen korrekt, und zu golden gibt es die altertümliche Form gülden: Auch hier liegt ein Umlaut vor.    ⋄    Jochen A. Bär

(114) 24. April – blümerant

Es soll doch tatsächlich Leute geben, die denken, dass blümerant (›flau, schwach, unwohl‹) etwas mit Blumen zu tun hat. Vermutlich stellt man sich vor, dass jemandem, der sich blümerant fühlt, bunt vor Augen ist, so als ob er in einen Strauß Blumen blicke. Wer sich an die Jahr-der-Wörter-Kolumne Nr. 51 (20. Februar: Muckefuck) von Professor Kürschner erinnert, denkt vielleicht auch an den Blümchenkaffee, der so schwach ist, dass man durch ihn hindurch das Blümchenmuster auf dem Boden der Tasse sieht.

Dem Sprachhistoriker wird dabei allerdings ganz blümerant. Denn das Wort kommt nicht von Blume, sondern ist entstellt aus französisch bleu mourant (wörtlich: ›sterbendes Blau‹). Gemeint ist damit ein blasses, mattes Blau.

Man erkennt den Zusammenhang von blümerant und blau gut an der landschaftlich auftretenden Doppelung blaublümerant. Angeblich hat sich im 17. Jahrhundert von Frankreich aus das Blassblau oder Graublau als Modefarbe ausgebreitet. Als man später dieser Farbe überdrüssig wurde, soll sich daraus die übertragene Bedeutung für etwas entwickelt haben, das Unwohlsein hervorruft.

Ob diese Erklärung so wirklich stimmt, müssen wir offen lassen. Immerhin finden sich hier und da in der Literatur auch noch andere Herleitungsansätze: so beispielsweise, dass es jemandem, der betrunken („blau“) ist, graublau vor Augen flimmert. Und ebenfalls ist zu lesen, dass sich blümerant fühlen mit dem englischen feeling blue (›schwermütig sein‹) zu tun habe, dem die Musikrichtung des Blues ihren Namen verdankt.

A propos hier und da: In Norddeutschland kennt man für das Gefühl des Unwohlseins, des Sich-flau-Fühlens hier und da auch kodderig: „Mir is schon den ganzen Tach 'n büschn kodderich.“ Und in Oberschwaben sagt man, wie in Lutz Röhrichs Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten nachzulesen: Mir ist ganz maria-magdalenisch (›ich habe ein komisches, unerklärliches Gefühl, mir ist blümerant‹). Das bezieht sich wohl auf die biblische Maria Magdalena (Luk. 8,2), aus der Jesus sieben Teufel ausgetrieben hat.

Für unsere Reihe vorgeschlagen wurde blümerant von gleich zwei Personen: Marlene Schwegmann und Heinz Plagemann (beide Vechta). Umgangssprachlich findet man es in vielen deutschen Mundarten, beispielsweise in Schleswig-Holstein: „Em wor blämerantig to Moot“. Bisweilen kommt es zu Bedeutungsverschiebungen, z. B. rheinisch: „Et es me ze blümerant, wo de Jupp et Jeld herkrit“ („Es ist mir schleierhaft, woher Jupp das Geld hat“) oder mecklenburgisch „Du bist'n schönen Blümerant“ („Du bist ein ganz Übler“).    ⋄    Jochen A. Bär

(115) 25. April – Engerling

Maikäferlarven heißen Engerlinge – so lernt man es bereits in der Grundschule. Warum sie so heißen, lernt man in der Regel nicht. Zoologen wissen normalerweise nur etwas über die Tiere, nicht über ihre Namen, und auch der Sprachwissenschaftler muss erst die einschlägige Literatur zurate ziehen. Dort findet er dann folgende Information: Engerling wird nicht nur die Larve des Maikäfers genannt, sondern auch diverse andere Käferlarven und auch sonstige Maden. In der Fachsprache der Jäger heißen beispielsweise die Maden der Dasselfliege Engerlinge. Darauf bezieht sich das Grimm'sche Wörterbuch: Es definiert Engerlinge zunächst als Maden, die in der „Winterszeit dem Wildpret unter der Haut wachsen und sich tief in dasselbe einfressen, daß es wie gespickt aussiehet“, teilt dann aber auch noch mit, es gebe „mancherlei Maden oder Larven von Fliegen und Käfern, für die sich der name Engerling eignet“.

Das große Dudenwörterbuch erläutert Engerling als „weißlich gelbe, augenlose, als Pflanzenschädling auftretende Larve (z. B. des Maikäfers)“ und teilt darüber hinaus mit, das Wort gehe zurück auf mittelhochdeutsch enger(l)inc, althochdeutsch engiring – beides Wörter, die ›Made‹ bedeuten. Sie leiten sich (mit dem Suffix, also der „Nachsilbe“ -ling, das eine Art- oder Familienzugehörigkeit anzeigt) ab von dem ebenfalls ›Made‹ bedeutenden mittelhochdeutschen anger oder enger (althochdeutsch angar), von denen angenommen wird, dass sie mit dem Wort Unke verwandt sind. Dieses Wort bedeutet so viel wie ›Kröte‹, in der älteren Sprache aber auch ›Schlange‹. So beispielsweise noch bei Ludwig Bechstein: „In einem Dorfe diente eine ehrliche Magd, die wartete gar fleißig und getreulich ihres Viehes; im Stalle aber, darin die Kühe ihres Herrn standen, wohnte eine Unke, so heißen in manchen Orten die Schlangen oder Nattern.“

In dem Wort Unke sind zwei ursprünglich verschiedene Wörter (althochdeutsch unc ›Schlange‹ und althochdeutsch ûcha ›Kröte‹) zusammengefallen. Beide, Schlangen wie Kröten, spielten im Volksaberglauben eine große Rolle als etwas Unheimliches, Abstoßendes.

Als abstoßend empfinden viele Menschen auch Maden und Käferlarven. Aber das Wort Engerling ist es offenbar nicht – zumindest nicht für Sandra Biestmann aus Damme, die es für unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ vorgeschlagen hat.    ⋄    Jochen A. Bär

(116) 26. April – Stift

Die Klasse 7d der Vechtaer Liebfrauenschule hat (unter anderem) das Wort Stift für unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ vorgeschlagen. „Wo kommt es her?“, schreiben die Schülerinnen und Schüler: „Wir haben es ausgesucht, weil wir uns gefragt haben, warum es Stift heißt und nicht Schreiber oder so, da es ja auch schreiben heißt und nicht stiften.“

Das leuchtet ein. Konsequent zu Ende gedacht, müsste es dann allerdings entweder Schreib heißen („Kannst du mir mal 'nen Schreib leihen?“) – oder aber Stifter. Und das zeigt schon: Der Stift, also das Schreib- oder Zeichengerät, kann nicht von dem Verb („Zeitwort“) stiften abgeleitet sein. Vielmehr liegt wieder einmal die unseren regelmäßigen Leserinnen und Lesern mittlerweile wohlvertraute Homonymie vor, also die Ausdrucksgleichheit zweier verschiedener Wörter. Von dem Verb stiften (›gründen, einrichten‹) leitet sich zwar tatsächlich ein Substantiv („Hauptwort“) Stift ab; es ist aber das Stift (›von jemandem gestiftete geistliche oder weltliche Einrichtung‹ bzw. ›das zu einer solchen Einrichtung gehörige Gebäude‹).

Demgegenüber steht der Stift zunächst für einen länglichen, zugespitzten Gegenstand, insbesondere für einen Nagel ohne Kopf. Es geht zurück auf das althochdeutsche steft (›Stachel, Zapfen‹) und ist wahrscheinlich verwandt mit steif (ursprünglich: ›unbiegsam, starr, aufrecht‹), dem englischen stiff (›steif‹) und dem lateinischen stipula bzw. stupula (›Getreidehalm‹), von dem wiederum das deutsche Stoppel abgeleitet ist. (Ob man damit dann auch schon gleich zum Vechtaer Stoppelmarkt gelangt oder ob dieses Wort nicht doch eine andere Herkunft hat, ist eine Frage, die ein andermal gestellt werden soll.)

Stift im Sinne von ›Schreib-, Zeichen- oder Malgerät‹ jedenfalls ist erst im 17. Jahrhundert gebräuchlich geworden, und zwar vermutlich als Kurzwort: als Rückkürzung aus Zusammensetzungen wie Schreibstift oder Zeichenstift. Noch jüngeren Datums sind (ebenso wie die damit bezeichneten Dinge) Wörter wie Filzstift oder Lippenstift.

Vermutlich eine Metonymie – das heißt hier: eine Wortverwendung, bei der das Wort für das Teil einer Sache das Ganze bezeichnet – liegt dort vor, wo Stift für einen kleinen Jungen oder auch einen Lehrling steht. So wie in der uralten Scherzfrage, die da lautet: Wie nennt man einen Lehrling beim Zoll? – Antwort: Filzstift. Welches (Körper-)Teil, das Stift heißen könnte, gemeint ist, lässt sich zweifellos leicht genug erraten.    ⋄    Jochen A. Bär

(117) 27. April – Räubergabel

Wer kennt nicht Situationen wie diese: Man sitzt mit „der besten Ehefrau von allen“ (Ephraim Kishon) im Café oder Restaurant, der Kellner, die Kellnerin fragt, ob es ein Stück Kuchen oder noch ein Dessert sein darf, und dann heißt es: „Ach, ein ganzes schaff' ich nicht ...“ Was so viel heißen soll wie: „Bestell du dir was, ich probier' dann mal bei dir.“ Was seinerseits wiederum so viel heißen soll wie: „Du solltest besser auch kein ganzes, und daher opfere ich mich und nehme die Hälfte.“

Eine erfahrene Bedienung kennt solche Situationen natürlich auch und weiß klug zu reagieren: Unlängst im Restaurant erlebt: „Ach, ein ganzes schaff' ich nicht ...“ Und die Kellnerin: „Ich bring' Ihnen einfach eine Portion und noch eine Räubergabel.“

Räubergabel – welch wunderbares Wort! Eine echte Wortlücke oder auch lexikalische Lücke – so nennt es die Sprachwissenschaft, wenn es in einer Sprache für einen bekannten Sachverhalt kein Wort gibt. Die bekannteste Wortlücke im Deutschen ist vermutlich das Gegenstück zu satt, also ein Wort für die Tatsache, dass jemand keinen Durst mehr hat. Ich bin satt bedeutet ja nur, dass jemand keinen Hunger mehr hat. Und andere Ausdrücke bedeuten wiederum etwas anderes: voll sein beispielsweise heißt ›besoffen sein‹. Die Mannheimer Dudenredaktion hat vor 15 Jahren einmal einen Wettbewerb veranstaltet: Aufgabe war, ein Wort für ›nicht (mehr) durstig‹ zu finden. Unter etlichen Einsendungen kürte man damals das Phantasiewort sitt und deutete an, es könne, sofern es sich in der Sprachgemeinschaft etabliere, eines Tages auch im Duden stehen. Das ist bis heute nicht der Fall; offensichtlich hat die Sprachgemeinschaft ein Wort für ›nicht (mehr) durstig‹ nicht vermisst und hat dementsprechend auch den Vorschlag nicht dankbar aufgegriffen. Anders bei dem Wort fremdschämen, das wir unlängst (am 30. März) in dieser Reihe vorgestellt haben: Erst einige Jahre nach der Jahrtausendwende aufgekommen, gehört es heute bereits zum Alltagswortschatz.

Manche Wortlücken stellen sich bei näherer Betrachtung als nur vermeintliche heraus. So gibt es beispielsweise ein Wort für das „Ding“ an der Kasse, das man aufs Laufband legen kann, um die eigenen Einkäufe von denen anderer Kunden zu unterscheiden: Es heißt offiziell Warentrennstab. Und auch für unsere Räubergabel finden sich durchaus schon einige Belege im Internet. Besonders lustig: die Werbung für eine Ausziehgabel. In der Annonce heißt es: „Die Gabel sieht ganz unscheinbar aus, beweist aber auf Wunsch echte Größe. Ihr Teleskopgriff lässt sich bis auf 66 cm ausziehen. Damit erreichen Sie mühelos jeden weiter entfernten Teller.“    ⋄    Jochen A. Bär

(118) 28. April – Schwalbe

„Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“, wie man weiß. Aber dieser Tage sollten – angesichts des ungewöhnlich warmen, zeitweise fast schon sommerlichen Frühjahrs – dann doch allmählich die ersten Schwalben zu sehen sein. Aber Vorsicht: Mancherorts sind die flinken kleinen Vögel, die wie kaum etwas anderes den Sommer verkörpern, gar keine Schwalben, sondern Mauersegler. Und das ist ornithologisch (vogelkundlich) etwas ganz anderes. Während Schwalben – man kennt hierzulande insbesondere die Rauchschwalbe (Hirundo rustica) und die Mehlschwalbe (Delichon urbicum) – zu den Sperlingsvögeln gehören, sind die etwas größeren Mauersegler (Apus apus), die man leicht an ihrem charakteristischen Ruf schrie-schrie erkennt, enger mit den Kolibris verwandt.

In der Bibel erscheint die Schwalbe mehrfach, zum Beispiel im Zusammenhang der jüdischen Speiseverbote (Lev. 11,19 und Deut. 14,18). Die Tatsache dass Schwalben (ebenso wie auch Mauersegler) Zugvögel sind, führt zu ihrer Erwähnung beim Propheten Jeremia: „Ein Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, eine Turteltaube, Kranich und Schwalbe merken ihre Zeit, wann sie wiederkommen sollen, aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen.“ (Jer. 8,7.)

Woher das Wort Schwalbe kommt, ist nicht näher bekannt. Es wurde bereits im Althochdeutschen – in der Form swal(a)wa – verwendet; in anderen germanischen Sprachen gibt es Entsprechungen (so englisch swallow, niederländisch zwaluw, schwedisch svala), nicht aber in außergermanischen Sprachen. Nach dem typischen Gabelschwanz der Schwalben heißen seit dem 18. Jahrhundert ein Schmetterling (Papilio machaon) sowie in der Fachsprache der Zimmermanns- und Schreinerzunft eine bestimmte Verbindung von Holzteilen Schwalbenschwanz. Seit dem 19. Jahrhundert wird scherzhaft auch der Frack so genannt.

Im 20. Jahrhundert hat das elegante Flugverhalten der Schwalben dazu geführt, dass in der Fußball-Sprache ein im Kampf um den Ball erfolgendes geschicktes Sich-fallen-Lassen (in der Absicht, einen Frei- oder Strafstoß zugesprochen zu bekommen) Schwalbe heißt. Genau aus diesem Grund mag die Klasse 4a der Grundschule Sankt Hülfe-Heede in Diepholz das Wort Schwalbe: Weil es ein schwieriges Teekesselchen-Wort ist.

Und warum sagt man: „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“? Die Redensart geht vermutlich zurück auf eine Fabel des griechischen Dichters Äsop (6. Jahrhundert v. Chr.), in der ein verschwenderischer junger Mann, als er im Frühjahr die erste Schwalbe sieht, um weiter Geld ausgeben zu können, seinen Mantel versetzt und sich dann von der inzwischen erfrorenen Schwalbe betrogen fühlt, weil es weiterhin winterlich kalt bleibt.    ⋄    Jochen A. Bär

(119) 29. April – Lurch

Wer ins Wörterbuch schaut, um unser heutiges Wort Lurch nachzuschlagen, wird überrascht. Erstens steht dort, dass die Herkunft des Wortes nicht bekannt ist (was an sich noch nicht weiter erstaunlich ist, denn es gilt für etliche Wörter; aber bei einem so „alltäglichen“ Wort wundert es einen doch). Zweitens findet man, dass es im Österreichischen ein Homonym (ein ausdrucksgleiches, ansonsten aber ganz verschiedenes Wort) mit der Bedeutung ›zusammengeballter, mit Fasern durchsetzter Staub‹ gibt: beispielsweise in der Wendung den Lurch wegkehren. Das allgemeinsprachliche Lurch bedeutet demgegenüber ›Amphibie‹ (ein Wort, in dem das griechische amphí ›zweifach‹ und bíos ›Leben‹ steckt: Amphibien sind wechselwarme Tiere, die sowohl im Wasser wie auf dem Land leben können.

Immerhin: Dass Lurch aus dem Niederdeutschen Lork(e) (›Kröte‹) kommt, ist bekannt. Zwar weiß man nichts über die weitere Wortherkunft, aber man kann man zumindest vermuten, es könnte sich um ein onomatopoetisches („lautmalerisches“) Wort handeln: Die Kröte wäre dann nach ihrem charakteristischen Laut benannt (das Tier, das „Lork“ macht). Dass Lurch in der Standardsprache nicht nur für ›Kröte‹ steht, sondern in weiter gefasster Bedeutung erscheint, ist dabei nichts Außergewöhnliches. Der Name einer Unterklasse vertritt häufiger auch eine größere Gattung (so etwa bei Katze ›Familie der katzenartigen Tiere‹: der Leopard ist eine Katze).

Kein deutsches Wort mit Ausnahme von durch reimt sich auf Lurch (auf die Mehrzahl Lurche nur noch Furche). Durchsucht man allerdings die fiktionale Literatur, so findet man in der Fantastik, genauer: in den Zamonien-Romanen von Walter Moers eine frei erfundene Tierart: den Murch (so benannt nach seiner charakteristischen Lautäußerung, dem „Murchen“). Ein Vertreter dieser Gattung ist die Hauptfigur in dem Roman Zanilla und der Murch von Gofid Letterkerl, einem ebenfalls von Moers erfundenen Autor. Stellt man die Buchstaben in dem Namen Gofid Letterkerl um, so gelangt man zu Gottfried Keller. Walter Moers verwendet solche Anagramme („Schüttelwörter“) für fiktionale Literaten häufig; zu den amüsantesten Beispielen gehören Ydro Blorn (Lord Byron), Orca de Wils (Oscar Wilde), Perla La Gadeon (Edgar Allan Poe), Sanotthe von Rhüffel-Ostend (Annette von Droste-Hülshoff), Reta Del Bratfist (Adalbert Stifter), T. T. Kreischwurst (Kurt Schwitters) und Dölerich Hirnfidler (Friedrich Hölderlin).

Auch Lurche kommen aber als literarische Figuren vor. Am bekanntesten ist wohl der Salamanderjunge Lurchi, der schon seit den 1930er Jahren in Bildergeschichten für Kinder als Werbeträger für eine Schuhfirma „arbeitet“.    ⋄    Jochen A. Bär

(120) 30. April – Hexe

Unser heutiges Wort Hexe wurde von Reinhard Sundermann (Bakum) vorgeschlagen. Es geht auf das althochdeutsche hagzissa oder hag(a)zus(sa) zurück, in dem ein noch in dem Substantiv Hag (›Hecke, Umzäunung, Gehege‹) bekanntes Grundwort steckt. Die Hexe müsste demnach eigentlich Hägse geschrieben werden. Doch die Orthographie folgt nicht immer dem etymologischen Prinzip: Sonst schriebe man die beispielsweise die Henne auch Hänne (da sie von Hahn abgeleitet ist: diesem Wort liegt die gleiche Wurzel zugrunde, die sich auch im lateinischen canere ›singen‹ findet; der Hahn ist der ›Sängervogel‹).

Unter einer Hexe – wir denken aufgrund der Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit an eine Frau, meist eine ältere, die mit dem Teufel im Bunde ist und von ihm über Hexenkünste, also über Fähigkeiten der schwarzen Magie, verfügt – muss man sich also ursprünglich ein dämonisches (weibliches) Wesen vorstellen, das sich an den (Dornen-)Hecken oder -Verschlägen aufhielt, die früher die Dörfer und Ansiedlungen umgaben, und dort auf die Vorbeikommenden lauerte. In der althochdeutschen Form Hagzissa lässt sich vermutlich als zweiter Bestandteil noch das gleiche Grundwort erkennen, das sich im norwegischen tysja (›Elfe, verkrüppelte oder zerzauste Frau‹) findet. Der Gedanke, dass an den Umfriedungen von Ansiedlungen böse Geister lauerten, ist jedenfalls im germanischen Volksaberglauben verbreitet: Davon zeugt ein Wort wie isländisch tûnridha (›Hexe‹, eigentlich wörtlich: ›Zaunreiterin‹), und auch noch die englische Vorstellung der wayside-witch (›am Wegesrand lauernde Hexe‹).

Heute denkt man bei dem Wort Hexe zwar immer noch an die „böse Hexe“ des Märchens; nicht zuletzt aufgrund des Kinderbuchs Die kleine Hexe von Otfried Preußler hat die Vorstellung jedoch ihren Schrecken weitgehend verloren.

Das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert hat durch seinen Hexenwahn, zwar nicht ausgelöst, aber sicherlich angeheizt von dem Buch Malleus maleficarum (zu deutsch: Hexenhammer), das der Dominikaner Heinrich Kramer (lat. Henricus Institoris) 1486 in Speyer veröffentlichte, unzähligen Menschen ein qualvolles Ende auf dem Scheiterhaufen bereitet. Männer und Frauen, Greise und Kinder, Bauern und Leute von Adel, weltliche und geistliche Würdenträger sind der Hexerei bezichtigt, gefoltert und grausam ermordet worden. Auch im 17. Jahrhundert waren Hexenprozesse weit verbreitet: auch in Nordamerika. Am bekanntesten sind die von Salem (Neu-England) im Jahr 1692, die den Dramatiker Arthur Miller zu seinem Theaterstück The Crucible (›Hexenjagd‹) inspirierten.

Am 30. April, traditionell der Walpurgisnacht (die inzwischen glücklicherweise nur noch als „Tanz in den Mai“ begangen wird), sei es erlaubt, an die Kulturkatastrophe und -schande des Hexenwahns zu erinnern.    ⋄    Jochen A. Bär