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Germanistische Sprachwissenschaft

Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten

Das Jahr der Wörter

(182) 1. Juli – Jubeljahr

Von einem Jubiläum spricht man üblicherweise dann, wenn der Jubilar oder die Jubilarin noch am Leben ist. Doch auch im Fall von bereits verstorbenen Personen kann von Jubiläum die Rede sein, etwa 1975 vom Thomas-Mann-Jubiläum und 1999 vom Goethe-Jubiläum (anlässlich des 100. bzw. des 250. Geburtstags). Kaum jemand käme hingegen auf den Gedanken, anlässlich der Wiederkehr eines Todestages – so 2005 beim 200. Todestag Friedrich Schillers – von einem Jubiläum zu sprechen. Dass dergleichen unpassend wirkt, hängt mit der Verwandtschaft zusammen, die zwischen Jubiläum und Jubel (›Freudenruf‹) gesehen wird: Ein Jubiläum versteht man demnach als Anlass zum Jubeln, als Jubeltag oder Jubeljahr; geht es ums Sterben oder um andere ernste, betrübliche Anlässe, scheint eher das Wort Gedenktag angemessen.

Betrachtet man die Wortgeschichte, so stellt sich jedoch rasch heraus, dass die Bedeutung des lateinischen iubilaeum oder iubilaeus (annus) sowie der wörtlichen Übersetzung Jubeljahr ursprünglich gar nichts mit Jubelrufen zu tun hatte. Im biblischen Leviticus, dem 3. Buch Mose, findet sich in Kapitel 25,8 ff. der Befehl Gottes an das Volk Israel, in jedem 50. Jahr alle Feldarbeit ruhen zu lassen, alle hebräischen Sklaven freizulassen, verkaufte und verpfändete Grundstücke ohne Entschädigung wieder an den ursprünglichen Besitzer oder seine rechtmäßigen Erben zurückzuerstatten und alle Schulden zu erlassen. Der Beginn dieses Jahres wurde durch das Blasen von Widderhörnern im ganzen Land verkündet; ein solches Horn bzw. sein Klang aber hieß auf Hebräisch – vermutlich lautmalerisch – jovel (mit langem, betontem e).

Das iubilaeum oder Jubeljahr des mittelalterlichen Christentums wurde alle 25 Jahre als besonders heiliges Jahr ausgerufen, in dem ein besonderer Sündenablass möglich war. Daher stammt die Redewendung alle Jubeljahr(e) einmal, was soviel heißt wie ›extrem selten‹, da der damalige Mensch in der Regel nur zwei bis drei dieser Jubeljahre erlebte.

In der Gegenwart sind Jubiläen häufiger, denn die Wortbedeutung hat sich gewandelt. Man versteht inzwischen darunter nach Auskunft des großen Duden den ›festlich begangenen Jahrestag eines bestimmten Ereignisses‹. Jubiläen feiert man vor allem an – aus der Sicht des Dezimalsystems – ‚runden‘ Jahrestagen. Heute beispielsweise begeht die Präsidentin der Universität Vechta, Prof. Dr. Marianne Assenmacher, ihr zehnjähriges Dienstjubiläum.    ⋄    Jochen A. Bär

(183) 2. Juli – anderthalb

Wer sich unserer Kolumne Nr. 75 (selbander) vom 16. März entsinnen sollte, wird sich erinnern: der andere hieß früher so viel wie ›der zweite‹; selbander bedeutet daher ›jemand selbst und ein zweiter‹ (ebenso wie selbdritt ›jemand selbst und ein dritter‹, selbviert ›jemand selbst und ein vierter‹ und so weiter).

Darauf kommen wir nun zurück, denn unser heutiges Wort anderthalb bedeutet entsprechend ganz wörtlich ›der/die/das zweite halb‹. Es ist also gleichbedeutend mit eineinhalb. Was bemerkenswert ist: anderthalb ist bis in die Gegenwart ein ganz alltägliches Wort: anderthalb Pfund Mehl, anderthalb Kilometer zu Fuß gehen, seit anderthalb Jahren usw. Demgegenüber sind die entsprechenden Wortbildungen dritt(e)halb (›der/die/das Dritte nur halb‹), viert(e)halb (›der/die/das Vierte nur halb‹) usw. seit langem außer Gebrauch. Man verwendet dafür heute zweieinhalb, dreieinhalb und so weiter. Allenfalls in bestimmten Redewendungen, will sagen: zusammen mit diesen Redewendungen, ist anderthalb heute ebenso ungebräuchlich wie dritthalb, vierthalb usw. Oder wer kennt schon noch die Redensart auf einen Schelm(en) anderthalb(e) setzen (›einen Betrug o. Ä. mit einem noch ärgeren, schlaueren beantworten‹)?

Das t in anderthalb ist historisch gesehen eine jüngere Erscheinung: Ursprünglich hieß das Wort anderhalb. Da aber der Charakter von ander als Ordnungszahl mehr und mehr in Vergessenheit geriet, wurde analog zu dritt, viert usw. andert gebildet.

Fragt man sich nach der Herkunft von halb, so gelangt man auf eine indoeuropäische Wurzel (s)kel (›schneiden‹), die in völlig unterschiedlichen Wörtern steckt. Lateinisch scalpere (›kratzen, ritzen, einschneiden‹), wovon das Skalpell (das chirurgische Messer), und sculpere (›schnitzen, meißeln, gravieren‹), wovon die Skulptur kommt, gehen ebenso darauf zurück wie Schale (ursprünglich: ›flach ausgeschnittenes Holzgefäß‹) und Schild (ursprünglich: ›abgeschnittenes, abgespaltenes Stück Holz, Brett‹). Halb bedeutet daher ursprünglich wohl ›(ab)geteilt, zerschnitten‹. Dabei konnte ohne weiteres eine größere und eine kleinere Hälfte entstehen. Die Idee, dass sich beim Halbieren zwei exakt gleich große Stücke ergeben, ist demgegenüber jünger: Die ursprüngliche Alltags-, das heißt unexakte Vorstellung wurde in die Mathematik überführt.

Warum wir anderthalb ausgerechnet heute behandeln? – Ganz einfach: Es ist Halbzeit im „Jahr der Wörter“. Exakt in der Mitte der heutigen Kolumne hat die andere Hälfte begonnen.    ⋄    Jochen A. Bär

(184) 3. Juli – tüfteln

Unser heutiges Wort ist ein Vorschlag von Günther-Bernd Ruhnke aus Steinfeld. Es bedeutet, dem großen Duden zufolge, so viel wie ›sich mit viel Geduld und Ausdauer mit etwas Schwierigem, Kniffligem in seinen Einzelheiten beschäftigen‹, beispielsweise in dem Satz Sie tüftelte so lange an der Maschine, bis sie wieder lief. – Nachdem die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch 1983 scharf die lexikographische Praxis kritisiert hatte, bei der Belegauswahl Frauen nicht oder nur in untergeordneter Rolle zu berücksichtigen (Beispiel aus dem Duden-Bedeutungswörterbuch: „Sie sah zu ihm auf wie zu einem Gott“), tüftelte die Mannheimer Dudenredaktion so lange an ihrem Flaggschiff, dem großen Duden, bis er – in der Auflage von 1993 – von vormals sechs auf acht Bände angewachsen war, weil man zu jeder männlichen Berufs- oder Eigenschaftsbezeichnung einen eigenen Eintrag für die weibliche Form aufgenommen und bei den Belegzitaten auf Geschlechtergerechtigkeit geachtet hatte. (Für die Übereifrigen, die gern von „Mitgliederinnen und Mitgliedern“ sprechen: Eine „Mitgliederin“ oder auch „Mitgliedin“ steht bis heute nicht im Duden, denn es ist ja nicht „der“, sondern das Mitglied. Hier muss – und sollte – man also nicht „gendern“.)

Woher das Wort tüfteln stammt, ist unklar. In der heutigen Bedeutung bekannt ist es seit dem 18. Jahrhundert. Möglicherweise handelt es sich um dasselbe Wort tüfteln, das in mittelhochdeutscher Zeit ›klopfen, pochen‹ bedeutete. Wenn dies stimmen sollte, wäre es von tupfen (›benetzen, sprenkeln, leicht stoßen‹) abgeleitet und verwandt mit tief (tupfen bedeutete ursprünglich wohl ›tief machen, eintauchen‹). Tüfteln könnte allerdings auch aus dem Rotwelschen (der „Gaunersprache“) kommen. Dort gibt es difteln (›gewandt und schlau stehlen‹.)

Trotz aller etymologischer Expertise ist es der Sprachwissenschaft bislang nicht gelungen, die tatsächliche Herkunft ausfindig zu machen. Aber vielleicht findet sich ja noch ein Tüftler oder eine Tüftlerin – Duden: „weibliche Form zu Tüftler“ –, der oder die in philologischer Tüftelarbeit – Duden: ›tüftelige Arbeit‹; unter tüftelig findet man dann ›viel Tüftelei, langes Tüfteln erfordernd, mit Tüftelei verbunden‹ sowie ›einen (übermäßig) ausgeprägten Hang zum Tüfteln habend, zu übertriebener Sorgfalt, Genauigkeit neigend‹ – die Sache aus- oder heraustüftelt.    ⋄    Jochen A. Bär

(185) 4. Juli – flauschig

Unser heutiges Wort wurde von der Klasse 7d der Vechtaer Liebfrauenschule vorgeschlagen: „Wo kommt es her? Was bedeutet es? Wir haben es ausgesucht, weil wir finden, dass es schön klingt.“

Und sicherlich auch, weil einem dabei erfreuliche Dinge einfallen, zum Beispiel ein weicher, warmer Pullover, eine kuschelige Decke, ein verschmustes Kätzchen oder ein Plüschbär (auf Französisch: ours en peluche).

Das Wort flauschig ist eine Ableitung von Flausch (›dicker, weicher Wollstoff‹), das mit Flause (›herumfliegende Wollflocke‹, dann auch ›dummer oder lustiger Einfall‹: jemand hat nur Flausen im Kopf), mit dem niederdeutschen Fluse (›Fadenrest, Fussel‹) und auch mit Vlies (›Schaffell‹: zum Beispiel in dem berühmten goldenen Vlies aus der griechischen Mythologie, dann auch ›breite Lage, Schicht aus aneinanderhaftenden Fasern, die u. a. als Einlage verwendet wird‹).

Das goldene Vlies stammte der Sage nach von einem zauberkräftigen Widder. Sein Fell wurde in Kolchis am Schwarzen Meer aufbewahrt. Der Held Iason hatte den Auftrag, es von dort zu holen. Für die gefährliche Fahrt, die er auf dem Schiff Argo antrat, versammelte er die besten Recken um sich: die Argonauten.

Im Jahr 1430 gründete der Herzog Philipp der Gute von Burgund nach dem Vorbild der Argonautengemeinschaft den Orden vom Goldenen Vlies. Nach dem Tod Karls des Kühnen, des letzten Burgundenherzogs, ging der Orden an seinen Enkel, Kaiser Karl V. über. Noch heute hat das Haus Habsburg, dem Karl V. angehörte, das Recht, diesen Orden zu verleihen. Sein Abzeichen ist ein stilisiertes kleines Schaffell, das an einer Kette um den Hals getragen wird.

Ursprünglich verstand man unter Flausch (im Mittelhochdeutschen hieß es vlûs oder vlûsch) ausgerupfte Wolle oder auch kleine Federn: ein Material also, das unter anderem zum Ausstopfen von Kissen verwendet werden konnte. Der Bedeutungsaspekt des Weichen, Kuscheligen, der bei flauschig noch heute anklingt, stand also immer schon im Vordergrund.

Das Wort Plüsch, obgleich es ähnlich klingt und auch etwas Ähnliches bezeichnet wie Vlies und Flausch, ist mit beiden nicht näher verwandt. Es kommt, wie schon angedeutet, aus dem Französischen peluche und geht auf lateinisch pilus (›Haar‹) zurück. Das Material ist also nach den feinen Fasern benannt, aus denen es besteht. Wer heutzutage bei der Körperpflege einen Epilierer (›Haarentferner‹) benutzt, kennt ein Wort, das mit Plüsch zusammenhängt.    ⋄    Jochen A. Bär

(186) 5. Juli – weise

Wer weise ist, besitzt Weisheit: ›auf Lebenserfahrung, Reife und Distanz gegenüber den Dingen beruhende, einsichtsvolle Klugheit‹, so gibt der große Duden die Bedeutung an; im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm findet man die Erklärung: ›Erkenntnis seiner selbst und der Welt, Wissen um die Hintergründe des Lebens, Lebenserfahrung, überlegene Haltung der Welt gegenüber‹. Der Aspekt ›Lebenserfahrung‹, der in beiden Bedeutungserläuterungen steckt, lässt schon erkennen, dass man Weisheit vor allem älteren Menschen zuschreibt. Befragt, ob es eine „Weisheit des Alters“ gebe, antwortete der damals 98-jährige Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900-2002): „Ach wissen Sie, das ist wie mit der Autorität: Leute, die von sich behaupten, sie hätten welche, haben meistens keine.“

In der älteren Sprache konnte weise auch ›klug, einsichtsvoll‹ bedeuten, ohne dass dabei die eigene Lebenserfahrung eine besondere Rolle spielen musste. Entsprechend konnten auch Kinder weise sein oder weise Dinge sagen oder tun. Niemand wusste das besser als die Brüder Grimm. In ihrem berühmtesten Werk, den Kinder-und Hausmärchen (erstmals erschienen in zwei Bänden 1812 und 1815), liest man: „Es war einmal ein Hirtenbübchen, das war wegen seiner weisen Antworten, die es auf alle Fragen gab, weit und breit berühmt.“

Das Adjektiv („Eigenschaftswort“) weise hängt mit wissen und auch mit Witz (›Intelligenz, Findigkeit, scharfer Verstand, Einsicht‹) zusammen: Weise ist also ursprünglich, wer viel weiß. Dem Verb („Zeitwort“) wissen selbst liegt eine indoeuropäische Wurzel ueid- zugrunde, die ›erblicken, sehen‹ bedeutet, und die Vorstellung, dass man, um etwas zu wissen, es gesehen haben muss. Auch das lateinische videre (›sehen‹) und die davon abgeleitete Vision gehen auf dieselbe Wurzel zurück, und ebenso das griechische idea, das unserem Wort Idee zugrunde liegt. Es ist also keineswegs nur übertragener Sprachgebrauch, wenn man Weisheit mit Einsicht in Zusammenhang bringt.

Obwohl man es auf den ersten Blick nicht vermuten würde: Auch die Weise (›Art, Form, wie etwas verläuft, geschieht, getan wird‹, zum Beispiel in Art und Weise), ist mit weise verwandt. Ursprünglich verstand man darunter wohl das Aussehen, die Erscheinungsform von etwas, so dass auch hier der Aspekt des Sehens bzw. des Gesehenhabens die entscheidende Rolle spielte.    ⋄    Jochen A. Bär

(187) 6. Juli – Sehnsucht

Martina Wiehebrink aus Holdorf hat – unter anderem – das Wort Sehnsucht für unsere Kolumne vorgeschlagen. Dieses Substantiv („Hauptwort“), für welches das große Dudenwörterbuch die Bedeutung ›inniges, schmerzliches Verlangen nach jemandem oder etwas‹ angibt, war in der Form sensuht bereits in mittelhochdeutscher Zeit bekannt, also in derjenigen Periode der deutschen Sprachgeschichte, die man üblicherweise zwischen der Mitte des elften und der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts ansetzt.

Vor dem Mittelhochdeutschen ist allerdings das Wort – und ebenso das ihm zugrunde liegende sehnen – nicht belegt. Zudem gibt es keine Parallelen außerhalb der deutschen Sprache, was sprachhistorisch etwas Besonderes ist: Für fast alle Wörter finden sich sonst verwandte Wörter in anderen indoeuropäischen Sprachen.

Woher sehnen kommt und was es ursprünglich bedeutete, ist auf dieser Basis nicht herauszufinden; die etymologischen Wörterbücher geben darüber auch keine Auskunft. Dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm zufolge bedeutete es im Mittelhochdeutschen ›sich grämen, härmen, nach etwas verlangen‹; „besonders“, so der Grimm, „wird es auf die Pein und Verlangen der Liebe bezogen und mit seiner Sippe in der Minnepoesie bis zur Abnutzung gebraucht“.

Im 18. Jahrhundert finden sich mehrfach Versuche, die Bedeutung zu bestimmen. Dem Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung zufolge bedeutet Sehnsucht „ein hoher Grad des herrschenden Verlangens nach etwas“. In seiner Abhandlung Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (erschienen 1798) definiert der Philosoph Immanuel Kant: „Der leere [d. h. nichtige, unerfüllbare] Wunsch, die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können, ist Sehnsucht“.

Der zweite Wortbestandteil, Sucht, hängt nicht mit suchen zusammen, sondern mit siech (›krank‹) und Seuche; unter Sehnsucht kann man also wörtlich das ›Kranksein vor Verlangen nach jemandem oder etwas‹ verstehen.

In diesem Sinne lässt sich eine der berühmtesten Stellen lesen, an der das Wort in der deutschen Literatur belegt ist – der Gesang Mignons aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96): „Nur wer die Sehnsucht kennt, | Weiß, was ich leide! | Allein und abgetrennt | Von aller Freude, | Seh' ich ans Firmament | Nach jener Seite. | Ach! der mich liebt und kennt, | Ist in der Weite. | Es schwindelt mir, es brennt | Mein Eingeweide. | Nur wer die Sehnsucht kennt, | Weiß, was ich leide!“    ⋄    Jochen A. Bär

(188) 7. Juli – allenthalben

Zu dem Wort allenthalben schrieb die Klasse 7d der Vechtaer Liebfrauenschule an die Jahr-der-Wörter-Jury: „Wo kommt es her? Was bedeutet es? Wir haben es ausgesucht, weil es nicht so bekannt ist.“

Der Sprachwissenschaftler nimmt seine Wörterbücher vor und findet: Es handelt sich der Wortart nach um ein Adverb („Umstandswort“). Andere Grammatiker, die alle nicht flektierbaren (der Beugung unterliegenden) Wörter in eine einzige Kategorie zusammenfassen, nennen es eine Partikel. Die Bezeichnung der Wortart spielt am Ende aber keine Rolle. Auf jeden Fall gilt: Allenthalben wird (außer am Satzanfang, versteht sich) kleingeschrieben, und es kennt keine unterschiedlichen Wortformen.

Die Bedeutung des Wortes gibt der große Duden folgendermaßen an: 1. ›überall‹ (beispielsweise: das Lied ist jetzt allenthalben zu hören). 2. (besonders süddeutsch) ›bei jeder Gelegenheit, sich in kurzen zeitlichen Abständen wiederholend‹ (beispielsweise: die drei Musiker wechselten während des Konzerts allenthalben ihre Instrumente).

Betrachtet man die Wortbildung näher, so findet man zwei Grundbestandteile: all und Halbe. Ersteres ist unter anderem mit alt (›reich an Jahren‹) sowie lateinisch alere (›ernähren, großziehen‹) und altus (›hoch‹, eigentlich ›aufgezogen, großgefüttert‹) verwandt und bedeutet ursprünglich ›ausgewachsen‹; letzteres ist ein heute vollständig durch Hälfte verdrängtes altes Substantiv („Hauptwort“) mit der Bedeutung ›Hälfte, Seite‹. Allenthalben bedeutet also eigentlich ›all(er)seits, auf jeder Seite‹. Das t in der Mitte des Wortes ist ein so genanntes euphonisches t, das heißt, es wurde eingefügt, um die Aussprache zu erleichtern (bzw. es entstand beim Aufeinandertreffen von allen und halben gleichsam „automatisch“).

Wie die Klasse 7d zutreffend angemerkt hat, ist allenthalben ein Wort, das dabei ist, rar zu werden. Im Vergleich mit überall ist es mehr als hundertmal seltener, wie eine einfache Internetrecherche zeigt. Sicherlich ist noch nicht mit seinem Aussterben zu rechnen; aber für viele, vor allem jüngere Leute, gehört es doch nicht mehr zum aktiven Alltagswortschatz. Aus genau diesem Grund – als etwas Außergewöhnliches – wirkt es stilistisch leicht gehoben.

Im Unterschied zu einem Wort wie ubiquitär, das vom lateinischen ubique (›überall, allenthalben‹) abgeleitet ist und ›überall verbreitet‹ bedeutet, ist allenthalben aber nicht – zumindest zur Zeit noch nicht – der bildungssprachlichen Sphäre zuzurechnen: Man hört und liest es eben doch noch allenthalben.    ⋄    Jochen A. Bär

(189) 8. Juli – derweil

Von Dr. Nicola Schorn (Universität Vechta) stammt der Vorschlag für unser heutiges Wort. Neben seiner vom großen Duden als „veraltet“ gekennzeichneten Variante derweilen dient das Adverb („Umstandswort“) derweil zur näheren Bestimmung eines Zeitraums, konkret: zur Benennung desjenigen Zeitraums, der zwischen zwei Zeitpunkten liegt. Es bedeutet so viel wie ›während dieser Zeit, inzwischen, unterdessen, mittlerweile‹. Die beiden Zeitpunkte können in der Aussage, in welcher derweil verwendet wird, entweder explizit oder implizit erwähnt sein (Johanna und Philipp gingen spazieren, bis es anfing zu regnen, und unterhielten sich derweil angeregt: die beiden Zeitpunkte sind der Anfang des Spaziergangs und dessen Ende bei Beginn des Regens). Nicht selten ist einer von beiden auch der Zeitpunkt des Redens selbst: Ich gehe derweil schon mal nach Hause (gemeint ist: in der Zeitspanne von der Gegenwart bis zu einem nicht näher bestimmten, in der Zukunft liegenden Zeitpunkt).

Neben der adverbialen Verwendung kann derweil – in der Bedeutung ›während‹ – auch als Bindewort verwendet werden, das einen Nebensatz einleitet, linguistisch gesprochen: als Subjunktion: Derweil er sich umkleidete, trat sie auf den Balkon hinaus.

Bei derweil liegt eine ehemalige Wortgruppe vor – Artikel der + Substantiv Weil(e) –, die im Laufe der Zeit zu einem einzigen Wort zusammengewachsen ist. Die Sprachwissenschaft nennt dergleichen eine „Univerbierung“. Weile ist bekanntermaßen ein feminines („weibliches“) Substantiv, das den Artikel die verlangt. Bei der Weil(e) hat man es allerdings mit einem Genitiv („Wes-Fall“) zu tun, der früher bei adverbialen Fügungen sehr häufig war. Heute würde man stattdessen eine solche Fügung eher mit in und dem Dativ bilden: in der Weile (›in dieser Zeitspanne‹).

Interessant ist, dass es neben der Univerbierung der genitivischen Wortgruppe der Weil(e) auch die Univerbierung des entsprechenden Akkusativs gibt: dieweil. Auch dieses Wort lässt sich als Adverb (Ich gehe dieweil schon mal nach Hause) und als Subjunktion verwenden. Im letzteren Fall kann dieweil jedoch, anders als derweil, nicht nur im Sinne von ›während‹ gebraucht werden (Dieweil er sich umkleidete ...), sondern auch im Sinne von ›weil‹: „Auch dem Abte war er gram, dieweil er ihm manche Züchtigung zu verdanken hatte“ (Joseph Viktor von Scheffel).    ⋄    Jochen A. Bär

(190) 9. Juli – wundervoll

Das wundervolle Wort wundervoll wurde von Gabriele Hellwig für unsere Reihe vorgeschlagen. Sie schreibt: „Ich beschäftige mich unter anderem mit dem Phänomen: Was macht Sprache mit mir, was bewirken Worte? Es werden viel zu wenig positive Worte ausgesprochen.“

Wohl wahr! Und auch wahr: Wundervoll ist ein „positives“ Wort. Es bedeutet, dem großen Duden zufolge, ›überaus schön, gut und deshalb Bewunderung, Entzücken o. Ä. hervorrufend‹. Wer etwas wundervoll nennt, bringt seine emotionale Einstellung dazu zum Ausdruck: ein wundervoller Tag, wundervolles Wetter, ein wundervoller Mensch, wundervolle blaue Augen; das hast du wunderbar gemacht! Verwendet man wundervoll zusammen mit einem weiteren Adjektiv („Eigenschaftswort“), so verstärkt man dieses und gibt ihm zugleich eine positive Färbung: „das wundervoll tiefblau getönte Tuch“ (Theodor Fontane); „gibt es ein wundervoll tieferes Buch, als die Bibel?“ (Georg Herwegh).

Wörtlich genommen heißt wundervoll ›voller Wunder‹; ein Wunder ist etwas, das Erstaunen hervorruft, über das man sich wundert, weil man es nicht erklären kann.

Das Gleiche wie wundervoll bedeutet wunderbar. Das in diesem Wort steckende Wortelement -bar ist verwandt mit gebären und auch mit dem lateinischen ferre (›tragen‹). Ein Kind gebären bedeutet demnach wörtlich: es ›austragen‹ (›zu Ende tragen‹), denn die Vorsilbe ge- ist perfektiv, will sagen, sie bringt zum Ausdruck, dass eine Handlung oder ein Vorgang abgeschlossen ist. So bedeutet gerinnen ›zu rinnen aufhören: starr werden‹ und gehorchen ›zu horchen aufhören: den Befehl, den man gehört hat, ausführen‹. Nicht umsonst bilden wir die Perfektformen unserer Verben in der Regel mit ge- (gesagt, getan ...). Etwas, das wunderbar ist, ›trägt‹ gewissermaßen das oder die Wunder in sich.

Wer sich jetzt – wieder einmal – über die Zusammenhänge wundert, die durch einen Blick in die Sprachgeschichte offenbar werden, der empfindet vielleicht nach, was der Dichter, Literaturkritiker, Sprachphilosoph und Sprachwissenschaftler August Wilhelm Schlegel (1767-1845) über die Sprache sagt: „Wie die Gewöhnung den Geist gegen das Außerordentlichste abstumpft, so haben wohl Menschen in ihrem Leben nicht bedacht, welch eine wundervolle Einrichtung es mit der Sprache ist. Sie sprechen unaufhörlich, ohne zu wissen, was sie thun, ohne je das Sprechen durch Reflexion darüber begriffen zu haben. Es sey uns also erlaubt, einmal über das Sprechen zu sprechen.“

So wie hier in unserer täglichen Kolumne.    ⋄    Jochen A. Bär

(191) 10. Juli – Kommers

Manchmal können wir uns genau daran erinnern, wann wir ein Wort neu kennengelernt haben. Das heutige Wörterjahrwort, Kommers, vorgeschlagen von Oliver Middelbeck, begegnete mir vor einem halben Jahrhundert. Ich war damals Oberprimaner (in heutiger Redeweise „Schüler der 13. bzw. 12., jedenfalls der letzten, Jahrgangsstufe des Gymnasiums“), und wir angehenden Abiturienten (nein, nicht „Abiturientinnen und Abiturienten“ oder gar „Abiturient*inn/en“, denn damals gab es weder gemischte Gymnasien in Dortmund noch „genderte“ man) – wir fingen an, uns auf das Studentenleben (eventuell nach dem Wehr- oder Ersatzdienst, denn beides gab es damals noch) vorzubereiten, zu dem eben auch, wie man erfuhr, Trinkabende gehörten („Abipartys“ gab es damals übrigens noch nicht und auch keine „Unipartys“). Diese Trinkabende hießen vornehmer Kommerse, und die Aufgabe des Klassensprechers war es, in einer Pinte einen großen Tisch für die gut zwanzig Mitabiturienten (denn mehr davon gab es 1965 nicht am Dortmunder Helmholtz-Gymnasium) zu reservieren, wo dann eben der Kommers seinen Lauf nahm – wohl als eines der Rituale des Erwachsenwerdens (volljährig wurde man übrigens erst mit 21).

Ich bin nicht sicher, ob wir damals jedes Mal die Definition des Wörterbuchs voll und ganz erfüllten, wonach es sich bei einem Kommers um einen ›aus besonderem Anlass abgehaltenen abendlichen Umtrunk in feierlichem Rahmen‹ handelt („ursprünglich“ – heißt es im Universalduden – „Bezeichnung für jede Art von geräuschvoller Veranstaltung“, in die Umtrünke bekanntlich gelegentlich münden). Richtige Kommerse gab es dann später bei den studentischen Verbindungen, jedenfalls für diejenigen unter uns, die sich für eine solche Korporation „keilen“ ließen (es waren, wenn überhaupt einer, nur wenige); sie wurden dann „Bundesbrüder“ und zunächst als „Füchse“ vom „Fuchsmajor“ in den „Komment“ (die Bräuche, Sitten und Regeln des Verbindungslebens) eingewiesen – heute sind sie „Alte Herren“. Man duzte sich damals übrigens auch unter Studenten nicht voraussetzungslos, sondern erst wenn man „Brüderschaft getrunken“ hatte.

Das Wort Kommers gehört, wie bemerkt, zur Studentensprache, speziell zum Verbindungswesen, es dehnt sich aber wie seinerzeit bei uns Schülern auch auf andere Gemeinschaften aus. So war kürzlich in der Einladung zum Hagener Schützenfest zu lesen: „Freitag, 6. 6. 2014: Kommersabend der Schützenbruderschaft mit Verleihung der Bundesorden“.

Kommers wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem französischen commerce „wohl im Sinne von ›Gemeinschaft‹ in Anlehnung an lateinisch commercium“ in die Studentensprache entlehnt, wie Pfeifer in seinem etymologischen Wörterbuch im Internet darlegt; commercium bedeutete im Lateinischen ›Waren-, Handels-, Kaufverkehr‹ und eben auch ›Gemeinschaft‹.

Vor diesem zweiten Entlehnungsvorgang, der dem Wort die Schreibung mit dem Schluss-s bescherte, war das französische commerce bereits im 16. Jahrhundert die Quelle für das inzwischen vierfach eingedeutschte Kommerz (k statt c, Groß- statt Kleinschreibung, z statt c, Wegfall des e), das so viel wie ›Wirtschaft, Handels- und Geschäftsverkehr‹, aber auch ›Gewinn, Profit(streben)‹ bedeutet. Es soll laut dem großen Universalduden „meist abwertend“ gebraucht werden – der Wahrig sieht das nicht so.    ⋄    Wilfried Kürschner

(192) 11. Juli – abgehen

Mal wieder ein Verb („Zeitwort“): das sechzehnte in unserer Reihe. Wie üblich bei Wörter-Aktionen dieser Art, sind unter allen Wortarten die Substantive („Hauptwörter“) zahlenmäßig am stärksten. Bei den „Wörtern des Jahres“ der Gesellschaft für deutsche Sprache, die seit 1971 benannt werden, sind sie mit über 70 Prozent vertreten. Sie sind die prototypischen Wörter, denn sie können – unter anderem – konkrete Gegenstände bezeichnen. Verben hingegen bezeichnen Handlungen (z. B. rennen), Vorgänge (z. B. fallen) oder Zustände (z. B. liegen), also immer etwas Abstraktes.

Unser heutiges Wort abgehen gehört interessanterweise zu allen drei Verbklassen: zu den Handlungs-, den Vorgangs- und den Zustandsverben. In der ersten der insgesamt 15 im großen Duden verzeichneten Bedeutungen ist es klar ein Handlungsverb: ›sich gehend entfernen‹ (z. B. auf der Bühne nach links abgehen), und auch in der als „1b“ genannten Bedeutung ›an jemandem/etwas prüfend o. ä. entlanggehen; bei einem Rundgang besichtigen‹ (z. B. der Bahnwärter geht die Strecke ab).

Für einen Vorgang steht abgehen, wenn es beispielsweise ›einen Ort verlassen‹ bedeutet und von Gegenständen gesagt wird: z. B. das Schiff, der Zug geht gleich ab, auch da geht die Post ab (ursprünglich war bei dieser Redensart, die so viel bedeutet wie ›etwas geht rasant vor sich‹, die Postkutsche gemeint, die in der Regel in scharfem Tempo die Poststation verließ). Und auch bei der Redewendung abgehen wie Schmidts Katze, abgehen wie Nachbars Waldi oder ähnlich (im Sinne von ›sich sexuell erregt verhalten‹), bei der wohl die Vorstellung des raschen Losrennens (hinter einem potentiellen Geschlechtspartner her) zugrunde liegt, ist eher an einen Vorgang zu denken als an eine Handlung: Wer in dieser Weise triebgelenkt abgeht, handelt nicht in freier Wahl, sondern es geschieht etwas mit ihm.

Entweder von der zuletzt genannten Redewendung oder von da geht die Post ab leitet sich wohl eine Verwendung des Wortes ab, in welcher es der (inzwischen ehemalige) Deutsch-Leistungskurs des Vechtaer Gymnasiums Antonianum für unsere Reihe vorgeschlagen hat: „Wir benutzen es, um Vorfreude auf eine Party auszudrücken und den Zustand einer Feier zu beschreiben.“ Vermutlich ist dabei dann tatsächlich der Übergang zum Zustandsverb einigermaßen offen.

Einen Zustand im engeren Sinne beschreibt abgehen, wenn es ›abzweigen‹ (der Weg geht rechts von der Hauptstraße ab) oder auch ›fehlen, mangeln‹ (jemandem geht jeglicher Humor ab) bedeutet. Und auch in der jugendsprachlichen Begrüßung Was geht ab? (›wie geht’s?‹, ›wie stehen die Dinge?‹) dürfte abgehen als Zustandsverb zu interpretieren sein.    ⋄    Jochen A. Bär

(193) 12. Juli – Heimat

Helga von Fischern aus Vechta benannte als eines ihrer Lieblingswörter Heimat. Nachvollziehbar: handelt es sich doch um eines der großen Gemütswörter der deutschen Literatur. In den Werken des Dichters Joseph von Eichendorff beispielsweise kommt es mehrere Dutzend Mal vor. In der Regel steht es für den Sehnsuchtsort der Geborgenheit, an dem man aus dem Getriebe der Welt, der Unrast, der Fremde zur Ruhe finden kann. Bildlich steht es für die Erlösung und die ewige Ruhe, beispielsweise in Eichendorffs Gedicht In der Fremde: „Aus der Heimat hinter den Blitzen rot | Da kommen die Wolken her, | Aber Vater und Mutter sind lange tot, | Es kennt mich dort keiner mehr. | Wie bald, wie bald kommt die stille Zeit, | Da ruhe ich auch, und über mir | Rauschet die schöne Waldeinsamkeit | Und keiner mehr kennt mich auch hier.“

Das Wort Heimat ist, wie unschwer zu erkennen, eine Ableitung von Heim (›Wohnung, Zuhause‹). Letzteres ist ein Wort, das mehrere, wenn nicht alle germanischen Sprachen kennen (beispielsweise englisch home und schwedisch hem), und für das es auch in anderen indoeuropäischen Sprachen Entsprechungen gibt (z. B. griechisch kome ›Dorf‹). Zugrunde liegt die indoeuropäische Wurzel kei-, die ›liegen‹ bedeutet; das Heim ist also eigentlich das ›Lager‹, der ›Ort, an dem man sich niederlässt‹. Zu dieser Wurzel gehören auch die Wortfamilien um Heirat (ursprünglich ›Hausbestellung, -gründung‹) und geheuer (ursprünglich: ›zur Hausgemeinschaft gehörig‹, daher ›vertraut‹); jemanden anheuern bedeutete demnach ursprünglich ›in die Hausgemeinschaft aufnehmen‹. Das althochdeutsche hiwiski stand für die Gemeinschaft der Hausgenossen, die Familie; wendet man das Gesetz der ersten Lautverschiebung an, wonach – unter anderem – jedes germanische h einem k der anderen indoeuropäischen Sprachen (im Lateinischen: c) entspricht, so wird klar, dass auch das lateinische civis (›Bürger‹, eigentlich ›Haus-/Gemeindegenosse‹) verwandt ist, von dem unsere Wörter zivil/Zivil, Zivilität usw. stammen.

Merkwürdig bei Heimat ist der zweite Wortbestandteil. Anders als beispielsweise bei Heirat, in dem Rat (in der früheren Bedeutung ›Versorgung, Hilfe, Mit­tel‹: vgl. Hausrat, Vorrat, Gerät usw.) steckt, lässt sich in Heimat die germanische Endung -odus (›Beschaffenheit, Qualität‹, entsprechend: lateinisch -atus) finden, die auch bei Armut, Einöde (›Ort, an dem es einsam ist‹) und Kleinod (›zierlicher, fein gearbeiteter, wertvoller Gegenstand‹) zugrunde liegt.    ⋄    Jo­chen A. Bär

(194) 13. Juli – Parzelle

Unter einer Parzelle versteht man ein kleines Stück Land zur landwirtschaftlichen Nutzung oder als Bauland: ein Gebiet ist in Parzellen aufgeteilt. Das Wort wurde im 18./19. Jahrhundert aus dem französischen parcelle (›Teilchen, Stückchen‹, auch ›Grundstück‹) entlehnt, das über vulgärlateinisch particella auf lateinisch particula (›Teilchen‹) zurückgeht. Unter einer Partikel – auch das Partikel ist korrekt, Mehrzahl: die Partikel – versteht man im Deutschen ein sehr kleines Teilchen von einem Stoff, beispielsweise ein(e) Staubpartikel oder ein(e) radioaktive(s) Partikel. In der Grammatik ist eine Partikel – hier tatsächlich nur: die Partikel, Mehrzahl: die Partikeln – ein ›kleines Wort‹: jedes Wort, das man nicht flektieren („beugen“) kann, also beispielsweise Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen und Partikeln im engeren Sinne, das heißt unflektierbare Wörter, die eine Aussage oder einen Ausdruck modifizieren und selbst keine Satzglieder sind, d. h. beispielsweise nicht erfragt werden können (z. B. nur, leider, eben in Das ist eben so oder ja in Ist ja unglaublich!). Auch die Verbzusätze in den so genannten trennbaren Verben des Deutschen bezeichnet man als Partikeln: z. B. über in übersetzen (ich setze über ›überquere einen Fluss oder See‹) und um in umfahren (ich fahre etwas/jemanden um ›fahre etwas/jemanden über den Haufen‹; nicht ratsam: gibt Ärger). Zu unterscheiden sind sie von den Präfixen der nicht trennbaren Verben: z. B. über in übersetzen (ich übersetze ›übertrage von einer Sprache in eine andere‹) oder um in umfahren (ich umfahre etwas/jemanden ›fahre um etwas/jemanden herum‹; ratsam: vermeidet Ärger).

Parzelle ist ein nettes Wort; durch seine klangliche Ähnlichkeit erinnert es an Wörter wie Gazelle oder Libelle, ruft also die Assoziation des Kleinen, des Zierlichen hervor. Die lateinische Endung -ulus/-ula/-ulum (französisch -el/-elle, italienisch -ello/-ella) bedeutet tatsächlich das Gleiche wie deutsch -chen oder -lein: Sie ist ein Diminutivsuffix (eine „Verkleinerungs-/Verniedlichungsendung“).

Parzelle ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, dass Fremdwörter oftmals eine Bereicherung für eine Sprache darstellen. Man könnte das, was mit Parzelle gemeint ist, nicht mit einem deutschen Wort ausdrücken. Grundstück allein ist nicht dasselbe; man müsste es entweder umschreiben (kleines Grundstück, kleines Stück Land) oder zu einer umständlichen Wortbildung seine Zuflucht nehmen (Kleingrundstück). Und mal ehrlich: Klingt das so hübsch wie Parzelle?    ⋄    Jochen A. Bär

(195) 14. Juli – ausbaldowern

Professor Dr. Martin Winter, der frühere Vizepräsident der Universität Vechta, bereichert unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ mit dem Vorschlag ausbaldowern. Es ist ein umgangssprachliches Wort, das so viel bedeutet wie ›auskundschaften, mit Geschick ausfindig machen‹ – ein Versteck/eine geheime Zusammenkunft ausbaldowern, einen Laden/eine Villa ausbaldowern (um einbrechen zu können) usw. – oder auch ›planen, sich ausdenken, ausklügeln, aushecken‹: die Ministerin hat schon wieder eine neue Reform ausbaldowert.

Ausbaldowern ist eine Weiterbildung zu baldowern (›auskundschaften, nachforschen‹). Es wurde erst im 19. Jahrhundert aus dem Rotwelschen (der „Gaunersprache“) übernommen und gehört zu rotwelsch Baldower (›Auskundschafter, Anführer bei einem Diebeunternehmen‹). Es geht zurück auf jiddisch bal (›Mann, Herr‹, zu hebräisch ba’al ›Mann‹) und dowor (›Sache‹, zu gleichbedeutendem hebräischem davar) und bedeutet also eigentlich ›Herr (Mann) der Sache‹.

Das Wort ausbaldowern hat es durchaus auch in die große Literatur geschafft: Unter anderem verwendet es Theodor Fontane zweimal in seinem Alterswerk Der Stechlin. Und auch das Substantiv („Hauptwort“) Baldower findet sich: „Und dieser miese Baldower wagt es, für die Asphaltpresse einen Bericht zu verfassen, dem die Lüge an der Stirn geschrieben steht!“ (Kurt Tucholsky).

Die Wortherkunft bewirkt, dass man bei ausbaldowern immer den Eindruck hat, dass derjenige, der etwas ausbaldowert, etwas im Schilde führt. Die Redewendung etwas im Schilde führen geht zurück auf den (nicht das!) Schild, laut Duden einen ›eine Schutzwaffe darstellenden, auf seiner Rückseite mit einer Handhabe versehenen flächigen Gegenstand von verschiedener Form, der – vor den Körper gehalten – dem Kämpfenden zur Abwehr von Attacken mit Hieb- und Stichwaffen o. Ä. dient‹. Wer etwas im Schilde führt, plant etwas Übles: Er verbirgt, wörtlich genommen, eine Waffe hinter seinem Schild, um bei guter Gelegenheit einen Überraschungsangriff gegen seinen Gegner zu führen.

Auch ausbaldowern impliziert die schlechte Absicht. Die Panzerknacker wollen Dagobert Ducks Geldspeicher ausbaldowern, und bei der Reform der vorerwähnten Ministerin mag die Absicht lauter sein, jedoch die damit „Beglückten“ sind in aller Regel jedoch geneigt, Übles zu erwarten. (Das Wort Reform, ehemals positiv besetzt, hat sich aufgrund des unausgegorenen Gestoppels, das in den letzten Jahrzehnten damit bezeichnet wurde, zum Unwertwort entwickelt.)

Man kann ausbaldowern aber auch durchaus augenzwinkernd verwenden. Und damit schließen wir; denn wir müssen für morgen schon wieder eine neue Kolumne ausbaldowern.    ⋄    Jochen A. Bär

(196) 15. Juli – Euphemismus

Unser heutiges Wort steht, wie im großen Duden nachzulesen, für eine ›beschönigende, verhüllende, mildernde Umschreibung für ein anstößiges oder unangenehmes Wort‹. So ist beispielsweise geistige Umnachtung ein Euphemismus für Wahnsinn, und anfangs des 19. Jahrhunderts nannte man die von Napoleon unterworfenen Völker die Bundesgenossen Frankreichs.

Euphemismus kommt aus dem Griechischen. Dort bedeutet euphemos so viel wie ›Worte mit guter Vorbedeutung redend‹. Zugrunde liegt euphemein (›gut reden; Unangenehmes mit angenehmen Worten sagen‹), das aus eu (›gut, wohl‹) und phemein (›reden, sagen‹) zusammengesetzt ist.

Euphemismen sind ein uraltes Mittel der Sprachmagie: Man will vermeiden, das Üble, insbesondere den Namen des Teufels, eines Dämons oder bösen Geistes auszusprechen, weil man fürchtet, es dadurch herbeizurufen (bis heute: „Wenn man vom Teufel spricht, ist er meist nicht fern“). Daher nimmt man seine Zuflucht zu Umschreibungen: der Gottseibeiuns, der und jener („da soll mich doch der und jener holen“) – eine Angststrategie, die sich bis zu J. K. Rowlings Harry Potter gehalten hat („du weißt schon, wer“ bzw. „er, dessen Name nicht genannt werden darf“). Im Hebräischen nannte man den Teufel ba’al-dâwâr (›Herr des Wortes, der Sache; der in Rede Stehende‹). Dieser Ausdruck liegt dem Wort baldowern zugrunde (vgl. unsere gestrige Kolumne ausbaldowern).

Euphemismen dienen auch dazu, das Unschickliche, Unanständige, Anstößige oder Kränkende zu verhüllen. Man sagt mit dem medizinischen Fachwort: „Unser Opa ist inkontinent“, weil der allgemeinsprachliche Ausdruck die Würde der Person verletzte. Man sagt: „Er ist von uns gegangen“, weil das einfache gestorben gegenüber den trauernden Hinterbliebenen als zu derb und rücksichtslos empfunden würde. Euphemismen sind also ein Mittel sprachlicher Höflichkeit.

Doch das Mittel heiligt nicht den Zweck, und daher ist Verhüllung keineswegs immer gutzuheißen. Dort, wo der verschleiernde Ausdruck dazu dient, Unrecht, unmoralisches Verhalten oder Ähnliches zu beschönigen, wird er zurecht Gegenstand von Sprachkritik. Die Ermordung oder Vertreibung tausender Menschen aus nationalistischen oder rassistischen Gründen als ethnische Säuberungen zu bezeichnen (beispielsweise während des Balkankrieges) oder den Tod unbeteiligter Zivilisten bei einem militärischen Angriff als Kollateralschaden, ist in höchstem Grade zynisch und verabscheuungswürdig. Mord ist und bleibt Mord und sollte genau so auch genannt werden.    ⋄    Jochen A. Bär

(197) 16. Juli – Herzeleid

Dr. Helmut Gross (Universität Vechta) hat eine Reihe von Vorschlägen für unsere Kolumne eingesandt, unter anderem das heutige Wort: Herzeleid. Mit ›großer seelischer Schmerz, Kummer; tiefes Leid‹ gibt der zehnbändige Duden die Bedeutung an. Was das Wörterbuch verschweigt: Herzeleid gehört zur leicht gehobenen, insbesondere aber zur archaisierenden („altertümelnden“) Sprechweise. Man kennt das Wort vor allem aus älteren Texten; in der heutigen Sprache wird es weit seltener verwendet als bedeutungsverwandte Wörter. Gram erscheint in den digitalen Textsammlungen des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache mehr als zehnmal so oft, Kummer sogar mehr als fünfzigmal so oft.

In Gen. 42,38 weigert sich der alte Jakob, der bereits seinen Sohn Joseph verloren hat – richtigerweise: verloren zu haben glaubt –, seinen Sohn Benjamin nach Ägypten ziehen zu lassen. In Martin Luthers Übersetzung: „Mein Son sol nicht mit euch hinabziehen / denn sein Bruder ist tod / vnd er ist allein vberblieben / Wenn jm ein vnfal auff dem wege begegnete / da jr auff reiset / würdet jr meine grawe Har mit hertzeleide in die Gruben bringen.“

Aus Märchen kennen wir das Wort ebenfalls; unter anderem steht es häufig für dasjenige, was böse (Stief-)Geschwister oder -Eltern den armen guten Kindern (z. B. dem Aschenputtel) antun. In dem Grimm’schen Märchen von Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein: „Sie stießen es herum und warfen ihm schlechte Kleider hin und gaben ihm nicht mehr zu essen, als was sie übrig ließen, und taten ihm Herzeleid an, wo sie nur konnten.“

Das Wort Herz hatten wir bereits in unserer Kolumne Nr. 125 (5. Mai) erklärt, als es um Herzklabastern ging: Herz geht zurück auf eine indoeuropäische Wurzel, die ›hüpfen, springen‹ bedeutet. Die Bezeichnung für das Zentralorgan des menschlichen Blutkreislaufs wurde schon bald übertragen für ›Seele, Gemüt‹ oder auch für ›das Innerste, Wesentliche‹ verwendet. Wichtig: Meint man seelischen Schmerz, so heißt es heute Herzeleid, mit dem e in der Mitte. Meint man eine Beeinträchtigung des Organs Herz, so lautet die Bezeichnung Herzleiden, ohne das e, dafür aber mit der Endung -en.

Leid geht wohl zurück auf eine indoeuropäische Wurzel mit der Bedeutung ›freveln, Übles, Böses tun‹; es steht für dasjenige, was jemandem bei solchem Tun widerfährt. Doch auch wenn es nahezuliegen scheint: Das Verb leiden hat mit dem Substantiv Leid und dem Adjektiv leid (z. B. „es ist mir leid um ihn“) nichts zu tun, sondern geht auf eine ganz andere Wurzel zurück. Es bedeutete ursprünglich ›fahren, reisen‹ und stand für all das, was man auf einer Reise durchmachen („erleiden“) musste.    ⋄    Jochen A. Bär

(198) 17. Juli – einsilbig

Ein merkwürdiges Wort, findet Stefan Müller aus Diepholz: „Es ist nicht das, was es aussagt.“ In der Tat: einsilbig ist nicht einsilbig, sondern dreisilbig. Anders als beispielsweise das Wort Daktylus (›Versfuß mit einer betonten und zwei unbetonten Silben), das selbst ein Daktylus ist, anders als Anapäst (›Versfuß mit zwei unbetonten Silben und einer betonten), das selbst ein Anapäst ist, und auch anders als Oxymoron das selbst ein Oxymoron ist (vgl. „Jahr der Wörter“ Nr. 81 vom 22. März), erscheint einsilbig nicht als autothematisches (›sich selbst thematisierendes, da ausdrucksseitig mit der eigenen Bedeutung übereinstimmendes‹) Wort.

Versteht man einsilbig wörtlich, so bedeutet es tatsächlich ›nur aus einer einzigen Silbe bestehend‹. Es gibt allerdings auch noch eine übertragene Bedeutung: ›wortkarg, wenig zum Reden aufgelegt‹. Die dahinterstehende Vorstellung ist, wie sich leicht denken lässt, diejenige, dass jemand nur (im wörtlichen Sinne) einsilbige Antworten gibt („ja“, „nein“) oder gar nur Brummlaute („hm“) hervorbringt.

Das in einsilbig steckende Substantiv („Hauptwort“) Silbe ist im Deutschen seit frühester Zeit bekannt. Im Althochdeutschen hieß es sillaba, im Mittelhochdeutschen sillabe oder auch schon, wie heute, silbe. Es geht über das lateinische syllaba zurück auf griechisch syllabe; zugrunde liegt das griechische Verb („Zeitwort“) syllambánein (›zusammennehmen, zusammenfassen‹). Wörtlich verstanden ist die Silbe also die Gesamtheit der zu einer Einheit zusammengefassten Laute.

Mutmaßen ließe sich, dass, wer einsilbig (im wörtlichen ebenso wie im übertragenen Sinne) ist, über wenig Ausdruckskraft verfüge. Das trifft aber durchaus nicht zu. Man kann im Gegenteil sehr vielsagend einsilbig sein. Ein Beispiel: In einem Cartoon des US-amerikanischen Zeichners Bill Watterson trifft der sechsjährige Calvin auf seinen Klassenkameraden Moe, einen bulligen Jungen, der ihn auffordert, ihm 50 Cent zu „leihen“. Auf Calvins Weigerung hin packt Moe ihn am Kragen und bölkt: „Gee, that's too bad!“ (Sinngemäß: „Schlecht für dich!“). Moe bekommt seinen Fünfziger, zieht ab, Calvin bleibt allein zurück und sagt zu sich selbst: „For a child with a monosyllabic vocabulary, he’s awfully persuasive.“ („Für ein Kind mit einsilbigem Wortschatz ist er abscheulich überzeugend.“)    ⋄    Jochen A. Bär

(199) 18. Juli – Gebreite

Unser heutiges Wort ist ein Beispiel dafür, dass bisweilen reine Fachwörter zu poetischen Ausdrücken werden können. Gebreite oder auch Gebreit nennt man laut Duden ein Feld oder einen Acker; das Wort ist „veraltet“ und kommt fast nur noch in gehobenen, dichterischen Zusammenhängen vor. Ein Beispiel: Detlev von Liliencrons Gedichtzyklus Haidegänger („Wie still es ist, wie flimmert die Weite, | Kein Laut stört das sonnendurchglühte Gebreite“). Es kann auch in der Bedeutung ›Ebene‹ sowie in übertragener Verwendung begegnen: Den Hamburger Hafen nennt die Lübecker Autorin Ida Boy-Ed ein „wogende[s] Gebreite von Wasser“.

In Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, dem einflussreichsten Nachschlagewerk des späten 18. Jahrhunderts, findet man zwar nicht das, aber die Gebreite: „in der Landwirthschaft Meißens und Thüringens, ein breites Stück Feldes von unbestimmter Größe, welches aber breiter als ein Gelänge, d. i. über vier Ruthen breit ist“. Es handelt sich also um einen fachsprachlichen Ausdruck, der nicht für sich allein steht, sondern in einem größeren Wortfeld zu sehen ist: „In Thüringen ist das Strichel [...] ein Stück Feldes, welches ungefähr Eine Ruthe breit, und von unbestimmter Länge ist. Ist es zwey Ruthen breit, so heißt es ein Sottel, wenn es drey Ruthen hat, eine Dreygerte, und wenn es deren vier hält, ein Gelänge.“

Bliebe noch zu klären, dass eine Rute – in der älteren Schreibung: Ruthe – ein „altes deutsches Längenmaß unterschiedlicher Größe (zwischen 2,8 und 5,3 Meter)“ ist (so nachzulesen im sechsbändigen Wahrig). Und aus dem Adelung erfährt man: Eine Ruthe nennt man eine „lange biegsame Stange, so fern sie ein bestimmtes Längenmaß, besonders auf der Oberfläche des Erdbodens ist, und wieder in 10, 12 oder mehr Schuh getheilet wird; die Meßruthe.“

Die Tatsache, dass Gebreite bei Adelung ein Femininum („weiblich“) ist, kommentiert das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm: „Jetzt steht es [...] als Neutrum in den Wörterbüchern, seit Campe [...], dem das Femininum, das doch Adelung aus dem Leben entnahm, nicht glaublich war; dafür machte er sich auf der Stube ein substantiviertes Verbum das Gebreite [...] und ordnete diesem jenes unter.“

Die dichterische Verwendung von Gebreite führt der Grimm besonders auf Goethe zurück, dem das Wort „in Thüringen [...] nahe getreten und geläufig geworden sein“ dürfte und der „gern davon Gebrauch macht“: „schwärzliche fette Gebreite“, „Zu des Rheins gestreckten Hügeln, | Hochgesegneten Gebreiten“, „wie herrlich liegen die schönen, | Reichen Gebreite nicht da, und unten Weinberg und Gärten“ usw.    ⋄    Jochen A. Bär

(200) 19. Juli – bärenstark

Das „Jahr der Wörter“ brummt: In Handumdrehen sind wir bei Kolumne Nr. 200 angelangt. Welch anderes Wort könnte dafür in Frage kommen als bärenstark (vorgeschlagen von der Klasse 6a der Realschule in Lohne)? Denn schon in mittelhochdeutscher Zeit ist der Brummlaut des Bären literarisch belegt. Im so genannten Marienleich des Dichters Heinrich von Meißen finden sich die folgenden Zeilen: „so sol der lêwe limmen | und der ber sol brimmen“ („so muss der Löwe brüllen | und der Bär muss brummen“).

Heinrich von Meißen trug den Beinamen Frauenlob – nicht deshalb, weil er Frauen, sondern weil er eine Frau lobte: eben die Jungfrau Maria. Der Marienleich heißt mit richtigem Titel „Unserer Frouwen Leich“; dabei handelt es sich um denselben alten Genitiv Singular des Wortes Frau, der auch im Namen der Vechtaer Liebfrauenschule zu finden ist. Der Leich hat im übrigen nichts mit einer Leiche zu tun, sondern es handelt sich um die Bezeichnung für eine spezielle Dichtungsform.

Zurück zum Bären: Dieses schon im Althochdeutschen – als bero – bekannte Wort ist in allen germanischen Sprachen belegt (z. B. in dem skandinavischen Männernamen Björn und auch in dem Wort Berserker, wörtlich: ›Krieger im Bärenfell‹). Bär bedeutet eigentlich ›der Braune‹. Es handelt sich um ein Tabuwort: Da man dem Bären magische Kräfte zuschrieb, vermied man es, ihn bei seinem „richtigen“ Namen zu nennen. Dieser, also das indoeuropäische Wort für ›Bär‹, begegnet im altgriechischen arktós, das dem Wort Arktis zugrunde liegt. Die nördlichste Erdregion heißt nach dem Sternbild des Großen Bären; die südliche Antarktis ist, wie man leicht erkennen kann, einfach die der Arktis gegenüber liegende Sphäre (griechisch antí ›gegen‹).

In der Fabel heißt der Bär tatsächlich Braun, im Tiermärchen Meister Petz (auch Betz: eine Koseform des Namens Bernhard, in dem ebenfalls das althochdeutsche bero steckt). Im Russischen bezeichnet man den Bären ebenfalls mit einem Tabuwort: medwed’ (›Honigfresser‹), hierzulande vor allem bekannt durch den Familiennamen des russischen Ministerpräsidenten Dimitij Medwedjew. Von diesem, der hier und da schon eher gemäßigt aufgetreten war, hört man freilich in letzter Zeit bemerkenswert wenig. Gelänge es ihm, seinen Präsidenten zu einer weniger kraftprotzigen Politik zu bewegen, so wäre das wirklich bärenstark. Dazu bedürfte es allerdings vermutlich magischer Kräfte ...

Da wir – Bär hin oder her – über solche nicht verfügen, mit anderen Worten: da sich unsere Texte nicht von selbst schreiben, brechen wir hier ab. Die Montagskolumne wartet schon. Weiterhin gilt: Der Bär muss brummen.    ⋄    Jochen A. Bär

(201) 20. Juli – Kaponier

Ein Alptraum (Albtraum?) für den Serienschreiber: Das (von Norbert Lennartz, Anglistikprofessor in Vechta) eingereichte Wort steht nicht im Wörterbuch – in keinem Duden, keinem Wahrig, nicht im Grimm, im Kluge oder Pfeifer und auch nicht im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (www.dwds.de).

So geht es einem bei Kaponier. Ist es überhaupt richtig geschrieben? Wie wird es ausgesprochen, das -ier am Ende wie bei Offizier oder wie bei Portier? Heißt es der, die oder das Kaponier? Und was bedeutet das Wort, wo kommt es her (wenn es überhaupt existiert)? Klammheimlich kommt der Notfallrettungsschirm zum Einsatz: Google. Das erste Angebot ist gleich „Kaponier Vechta“, die Links führen zum Hotel, Restaurant und Café dieses Namens. Heißt so vielleicht der Besitzer? Nein, beim genauen Hinsehen zeigt sich, dass der Name offiziell Hotel „Am Kaponier“ lautet. Und da fällt dem Vechtaer ein, dass ja das kleine altertümliche Gebäude neben dem Hotelkomplex Kaponier heißt, ja, richtig, das Haus, in dem der „Kunstverein Kaponier“ seine Ausstellungen präsentiert.

Aber auch das hilft letztlich nicht weiter bei der Suche nach der Antwort auf die eingangs gestellten Fragen. Zurück zu Google. Etwas weiter unten wird auf dem Monitor ein Link auf ein ähnlich geschriebenes Wort in der Wikipedia angeboten: Kaponniere. Und dort ist dann zu erfahren, dass dieses Wort im „Fortifikationswesen (Festungsbau)“ eine Rolle spielt. Es könne auch Caponnière geschrieben werden und sei eine französische Ableitung vom italienischen capone (›großer Kopf‹). Wie immer ist bei der Wikipedia Vorsicht geboten, und eine Gegenprüfung ergibt, dass capone so viel wie ›Kapaun, kastrierter Masthahn‹ bedeutet (so auch bei Al Capone?). Laut dem französischen Wörterbuch Petit Robert (der gar nicht so petit ist) geht la caponnière auf italienisch capponiera, spanisch caponera zurück, die beide ›Kapaunenkäfig‹ bedeuten. Wie dem auch sei, als Kaponniere bezeichnet man laut Wikipedia „einen fest gedeckten oder massiv gemauerten Gang oder Raum, aus dem die Verteidiger mit Gewehren oder gar Geschützen Angreifer auf der Sohle des Befestigungsgrabens beschießen konnten. Eine Kaponniere ragt oben oder auf der Festungsmauer aus dem Festungswall hervor ...“. Von diesem Artikel wird übrigens verwiesen auf die „Liste der Fachbegriffe im Festungsbau“ in der Wikipedia, die unter vielen anderen auch die Kaponniere enthält. Auf Duden online findet sich Kaponniere ebenfalls, aber nun als der (und nicht die) Kaponniere, mit der Ausspracheangabe „Kaponniere“ (also wie bei „Barriere“) und der Bedeutungsangabe ›bombensicherer Gang in einer Festung‹.

Auf die Spur „Festungswesen“ gesetzt, denkt der Vechtaer an die Zitadelle und greift zur detaillierten Dar­stel­lung der Geschichte der Festung und Zitadelle Vechta von Gerd Dethlefs in Band 1 der Beiträge zur Geschichte der Stadt Vechta (1992, redigiert von Wilhelm Hanisch, Franz Hellbernd, Joachim Kuropka). Dort ist von einem Kaponier zu lesen (in dieser Schreibung, S. 314), und man erfährt, dass „der Bau des neuen Kaponiers auf dem Fundament des ehemaligen Turmes“ erfolgte, und zwar im Jahre 1705. Das (!) Kaponier, ein „vor der Festung stehendes Außenwerk“, diente nun aber als Gefängnis mit zehn Zellen und zwei Wachtstuben. Es blieb, ebenso wie das Zeughaus (heute Museum), bei der „Entfestigung“ (1764–1779) erhalten. Die (in Vechta) übliche Aussprache des Wortes Kaponier ist übrigens mit -ier wie in Offizier, das Genus schwankt zwischen der und das Kaponier.

Sprachlich sind Reste der Vechtaer Zitadelle noch in Straßennamen erhalten: Contrescarpe, die „Gegen-Es­karpe“, also die ›äußere Mauer oder Böschung des Festungsgrabens‹ (die Eskarpe ist die ›innere Grabenbö­schung bei Befestigungen‹); An der Paulus- bzw. Christoph-Bernhard-Bastei, eine Bastei (Vergrößerungsform: Bastion) ist ein ›hervorspringender Teil an Festungsbauten, Bollwerk‹.    ⋄    Wilfried Kürschner

(202) 21. Juli – absurd

Es ist die Woche des Vizepräsidenten. War schon gestern im „Jahr der Wörter“ sein Vorschlag Kaponier behandelt worden, so widme ich auch die heutige Kolumne meinem Kollegen Prof. Dr. Norbert Lennartz, seit April dieses Jahres Vizepräsident der Universität Vechta. Als anglistischer Literaturwissenschaftler hat er unter anderem über das Absurde in der englischen Literatur gearbeitet: Seine Doktorarbeit (erschienen 1998) trägt den Titel Absurdität vor dem Theater des Absurden. Absurde Tendenzen und Paradigmata untersucht an ausgewählten Beispielen von Lord Byron bis T. S. Eliot. Ob Sympathie für die Thematik des Absurden auch ein Grund für ihn war, sich in der Hochschulpolitik zu engagieren, wo einem dergleichen täglich begegnet, hat er mir freilich nicht verraten.

Das Adjektiv („Eigenschaftswort“) absurd wurde im 16. Jahrhundert aus dem lateinischen absurdus (›ungereimt, widersinnig‹) entlehnt. In ihm stecken die beiden Wörter ab (›von ... weg‹) und surdus (›taub‹, auch ›dumpftönend‹ und ›nicht verstehend‹ bzw. ›nicht verständlich‹); es steht also ursprünglich für dasjenige, was vom hellen, schönen, reinen Klang abweicht: das Misstönende, widrig oder unrein Klingende, die Ohren Beleidigende.

In der mittelalterlichen Scholastik gab es von den Grundinhalten des christlichen Glaubens – Menschwerdung, Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi – das geflügelte Wort credo, quia absurdum est (›ich glaube, weil es unvernünftig, unlogisch ist‹, etwas freier: ›weil es den Grundsätzen des menschlichen Verstandes widerspricht, kann ich es nicht einsehen, sondern muss es glauben‹). In der scholastischen Logik war es zudem ein beliebtes Mittel, ein Argument ad absurdum zu führen, d. h. seine Widersinnigkeit nachzuweisen, indem man zeigte, dass daraus ein logischer Widerspruch oder ein Widerspruch zu einer bereits anerkannten These folgte.

Ebenfalls zur Wortfamilie von absurd gehören die Substantive („Hauptwörter“) Absurdität (›Tatsache des Absurdseins, absurde Beschaffenheit von etwas‹, auch ›absurde Sache‹: Das ist eine Absurdität!) und Absurdismus (in der Literaturwissenschaft: ›Theaterform des absurden Dramas, des absurden Theaters‹ – womit wir wieder am Anfang wären). Wer übrigens besonders absurde Erlebnisse hat, der wähnt sich – so eine bekannte Redewendung – in Absurdistan, also in einem fiktiven Land, in dem absurde Verhältnisse herrschen. Ob wir auch damit wieder am Anfang wären, kann der Vizepräsident besser beurteilen ...    ⋄    Jochen A. Bär

(203) 22. Juli – Obst

Hatten wir gestern die Woche mit absurd begonnen, so bleiben wir auch heute noch ein wenig beim Thema. Denn obgleich das griechische logos ›Wort‹ oder auch ›Sprache‹ bedeutet, ist Sprache durchaus nicht logisch. Das zeigt sich allenthalben. Unter anderem daran, dass die Einwohner von Spanien und Italien trotz der gleichen Endung -ien unterschiedlich heißen: Spanier und Italiener – warum nicht Spaniener oder Italier? Und bei Irland und Island – warum Iren, aber Isländer? (Professor Dr. Wilfried Kürschner wird darüber am Mittwoch, 29. Oktober 2014, um 19.30 Uhr im Zeughausmuseum einen Vortrag halten: Der Termin sei hier noch einmal korrekt angekündigt.)

Die mangelnde Logik der Sprache zeigt sich auch bei Singular und Plural („Einzahl“ und „Mehrzahl“). Nicht nur, dass es Wörter gibt, die keinen Singular haben – so genannte „Pluraliatantum“ wie Leute oder Eltern –, und Wörter, die keinen Plural haben – so genannte Singulariatantum wie Eisen oder Milch. Bei den Nomina materiae („Stoffbezeichnungen“) könnte man allenfalls noch einsehen, dass kein Plural möglich ist, weil sie die Gesamtmenge eines Materials bezeichnen und es nur eine solche Gesamtmenge, nicht mehrere gibt. Aber: Es gibt im Deutschen nicht nur den Individual-, sondern auch den Sortenplural: Weine steht beispielsweise für ›Weinsorten‹, Metalle für ›Metallsorten‹. Doch wenn dies so ist – warum dann nicht auch Milche oder Golde für unterschiedliche Milchsorten (Kuhmilch, Ziegenmilch, Schafmilch usw.) oder für unterschiedliche Goldlegierungen wie Weißgold, Gelbgold und Rotgold? Oder bei unserem heutigen Wort Obst: Dass es verschiedene Obstsorten gibt, ist ja offensichtlich – warum nicht Obste?

Antwort: Weil Sprache tatsächlich nicht logisch konstruiert, sondern historisch gewachsen ist. Es kommt nicht so sehr darauf an, was in der Sprache möglich wäre, sondern darauf, was man tatsächlich mit ihr macht bzw. seit Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten gemacht hat. Selbstverständlich wäre ein Plural zu Milch, Gold oder Obst möglich – es hat ihn anscheinend nur noch nie jemand vermisst. Bei dem Wort Obst – darin steckt ob (›obendrein‹) und essen, es handelt sich bei dem zugrunde liegenden mittelhochdeutschen Wort obes also um dasjenige, was man zusätzlich zur eigentlichen Mahlzeit zu sich nimmt, beispielsweise als Nachtisch – wurde offenbar immer der verbindende Aspekt ›Zubrot‹ als vorrangig angesehen; ob Äpfel, Birnen, Mispeln oder Beeren, war dabei zweitrangig.

Arm ist die Sprache hier dennoch nicht: Statt Obste können wir ja eben Obstsorten sagen – oder zusammen mit einem geeigneten Adjektiv sogar den Singular verwenden: verschiedenes Obst.    ⋄    Jochen A. Bär

(204) 23. Juli – Fernweh

Unser heutiges Wort ist so recht etwas für die Ferienzeit, wenn alle Welt ans Verreisen denkt. Und es ist mal wieder eines jener deutschen Wörter, für die man in anderen Sprachen nur schwer eine angemessene Entsprechung findet. Das heißt nicht, dass nur Deutsche Fernweh kennen. Aber sie haben eben einen eigenen Ausdruck dafür. Darüber war einmal eine Spanierin, die Deutsch als Fremdsprache lernte, ganz begeistert: Endlich kenne sie ein Wort, um das zu fassen, was sie seit ihrer Kindheit empfinde: die Sehnsucht nach der Ferne, nach fernen Ländern.

Was erstaunlich ist: Fernweh steht nicht im Grimm’schen Wörterbuch. Da dieses größte Wörterbuch der deutschen Sprache kaum ein Wort ausgelassen hat, liegt der Verdacht nahe, dass Fernweh in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Jacob Grimm die Buchstabenstrecke F bearbeitete, noch gar nicht geläufig war.

Ganz offenbar trifft diese Vermutung tatsächlich zu. Denn auch weitergehende Recherchen führen zu keinen nennenswerten Ergebnissen. Die umfangreichen Textsammlungen der Digitalen Bibliothek, die eine Volltextsuche über mehrere hundert Autorinnen und Autoren vom 16. bis zum 20. Jahrhundert ermöglichen, liefern genau drei Belege: einen bei Richard Dehmel (1896), einen bei Friederike Kempner (1903), die einem Gedicht den Titel Fernweh gab, in dem die Sonne gebeten wird, das lyrische Ich mit sich emporzuführen: „Gold’ne Sonne mit den Strahlen, | Komm und nimm mich an Dein Herz | Und von Deinem Licht getragen, | Steige mit mir himmelwärts! || Zeige mir dort Deine Wesen, | Deinen großen Wunderraum, | Und damit ich’s nicht verrate, | Laß mich’s schauen wie im Traum! || Oder nimm mich in die Höhe | Nur ein tausend Meilen fern, | Daß ich ihn von dort aus sehe: | Unsern kleinen Erdenstern.“

Der dritte der zuvor erwähnten Wortbelege findet sich bei Oswald Spengler, dem Autor des kulturkritischen Bestsellers Der Untergang des Abendlandes (1918), der 1935 in einem Aufsatz behauptete: „Der antike Mensch kannte kein Fernweh, wie es der ständige Blick auf das unendliche Meer und über weite Ebenen hin erzeugt.“

Ob das stimmt, können wir nicht sagen. Mit Sicherheit gilt aber: Der moderne Mensch kennt Fernweh. Es führt ihn dazu, sich im Alltag nach Urlaub ganz weit weg von zu Hause zu sehnen. Immerhin: Reisen bildet bekanntlich. Oder wie der große Weltreisende Alexander von Humboldt sagte: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“    ⋄    Jochen A. Bär

(205) 24. Juli – garstig

Unser heutiges Wort, das Adjektiv garstig, ist eines der Lieblingswörter von Marlene Schwegmann (Universität Vechta), die es für unsere Kolumne vorgeschlagen hat. Das Wort ist seit dem 15. Jahrhundert bezeugt und geht zurück auf das heute ausgestorbene garst, das sowohl adjektivisch (im Sinne von ›ranzig, verdorben‹) als auch substantivisch (im Sinne von ›ranziger Geschmack oder Geruch‹) verwendet werden konnte.

Garstig hatte ursprünglich ebenfalls die Bedeutung ›ranzig, verdorben‹, hat diese aber seit dem 18. Jahrhundert verloren und steht heute, so der große Duden, für dreierlei: 1. ›sich jemandem gegenüber äußerst unfreundlich, ungezogen verhaltend‹ (zu jemandem garstig sein), 2. ›den Widerwillen, den mit Entsetzen verbundenen Abscheu des Betrachters hervorrufend; abscheulich, hässlich und böse‹ (garstiges Geschöpf) und 3. ›als unangenehm, störend, beeinträchtigend empfunden werdend‹ (garstiges Wetter).

Wer jemanden oder etwas als garstig bezeichnet, beschreibt damit nicht einen objektiven Sachverhalt, sondern bringt eine innere Haltung – nämlich eben Ablehnung, Widerwillen – zum Ausdruck. Doch Vorsicht: Wer jetzt denkt, dass etwas nicht Garstiges notwendig positive Gefühle und Werturteile hervorrufen müsste, irrt. Wer will, findet auch beim Gegenteil des Garstigen etwas Abstoßendes, wie der katholische Prediger Johann Ulrich Megerle, besser bekannt unter seinem Ordensnamen Abraham a Santa Clara, im Jahre 1689 darlegt: „In dem alten Testament hat der allmächtige Gott etliche Thier für unrein erkennt. Unter anderen war auch der Schwan; dessen sich wohl zu verwundern. Denn ja ein großer Unterschied zwischen Schwanen und Schweinen, massen das Schwein in Koth- und Mist-Lachen sich herum wälzet und sich mit Speisen füllet, woran alle Thier ein Grausen schöpfen; aber ein Schwan trotzet Farb halber mit dem Schnee, hat seinen Aufenthalt in dem klaren Wasser, hasset alle garstige Art, und soll gleichwohl unter die unreinen Thier gezählt werden? [...] So ist ja ein Schwan säuberer als ein Schwein, und ein Schwein weit garstiger als ein Schwan, und dannoch soll ein Schwan sowohl als ein Schwein für unrein gehalten werden? Ja, ja, nit anderst, bei Gott gilt der Schwan nichts, und zwar der Ursach halber: dieser Vogel ist Federn halber schneeweiß, aber einwendig ganz schwarz im Fleisch, und also eine Abbildung eines Gleißners, welcher sich auswendig in seinen Gebehrden ganz heilig stellt, und beinebens in dem Herzen ganz heillos ist.“

Merke: Was äußerlich als rein erschein’, mag innen doch gar garstig sein.    ⋄    Jochen A. Bär

(206) 25. Juli – Futter

Ein klassisches Teekesselchen-Wort: Futter. Mit dieser Tatsache spielt die uralte Scherzfrage: „Warum können Pferde und Kühe nicht Schneider werden?“ (Antwort: „Weil sie Futter fressen.“)

Gemeint ist hier natürlich die Tatsache, dass Futter zum einen ›Nahrung für Tiere‹ bedeutet, zum anderen ›(dünnerer) Stoff oder Material auf der Innenseite von Kleidungsstücken, Schuhen, Lederwaren o. Ä.‹, auch ›Holzauskleidung der Laibung bei Türen und Fenstern‹, ›Vorrichtung zum Einspannen des Werkstücks (z. B. bei Bohrmaschinen, Drehbänken)‹ sowie ›Material, mit dem Schmelzöfen oder die Feuerungsräume von Dampfkesseln ausgekleidet sind‹.

Die Unterschiede zwischen ›Nahrung‹ und ›Auskleidung‹ sind so groß – nur Witzbolde pflegen anzumerken, Futter als Nahrung sei eben die Auskleidung für den Magen der gefütterten Tiere –, dass man auch ohne viel Nachdenken auf den Verdacht kommen kann, hier liege nicht ein einziges Wort vor, sondern es gebe zwei verschiedene Wörter Futter.

Diesen Verdacht bestätigen die gängigen Wörterbücher, die in der Regel zwei verschiedene Einträge Futter (›Nahrung‹) und Futter (›Auskleidung‹) aufweisen. Auch der Blick in die Herkunftswörterbücher zeigt: Es handelt sich nicht um dasselbe Wort. Futter (›Nahrung‹) geht auf eine indoeuropäische Wurzel pa(t)- zurück, die wohl ›füttern, nähren, weiden‹ bedeutete. Von ihr leiten sich auch Wörter in urverwandten Sprachen ab, beispielsweise griechisch pateisthai (›essen und trinken‹) und lateinisch pascere (›weiden‹), von dem Pastor (eigentlich: ›Hirte‹) kommt. Von Futter in dieser Bedeutung – im Althochdeutschen hiet es fuotar, im Mittelhochdeutschen vuoter – kommt das Verb füttern (›einem Tier zu fressen geben‹) und auch das scherzhafte futtern (›tüchtig essen‹).

Das zweite Futter (›Auskleidung‹) geht auf eine fast gleich lautende indoeuropäische Wurzel pa- zurück, die aber ›schützen, bedecken‹ bedeutete. Von ihr kommen Wörter wie das griechische poma (›Deckel‹) – aber auch das griechische poimén (›Hirte‹) wird davon abgeleitet.

Soll man tatsächlich glauben, dass das lateinische Wort für ›Hirte‹ ursprünglich mit der Vorstellung des Ernährers, das griechische aber mit der des Beschützers zusammenhänge und dass dies zwei verschiedene Vorstellungen seien? Das Grimm’sche Wörterbuch verfährt klug: Es listet nur ein Stichwort Futter, differenziert aber die beiden Bedeutungen nicht, wie sonst üblich, durch arabische, sondern durch römische Ziffern. Mit anderen Worten: Der Bearbeiter – der Germanist Karl Weigand (1804–1878) – lässt offen, ob es sich nun ein Wort mit zwei Bedeutungen oder um zwei verschiedene Wörter handelt.    ⋄    Jochen A. Bär

(207) 26. Juli – ach!

ach, Interjektion“, (›Ausrufe-, Empfindungswort‹), gibt der große Duden kurz und bündig an, und zählt dann die verschiedenen Verwendungsweisen auf: Ausdruck des Schmerzes, der Betroffenheit, des Mitleids o. Ä.: („Ach, ich habe sie verloren“), des (ironischen) Bedauerns („Ach, wie schade!“), der Verwunderung, des (freudigen) Erstaunens („Ach, wie schön!“), des Unmuts („Ach, hör doch auf!“), des Verlangens („Ach, wäre doch das Jahr der Wörter bald zu Ende“), des Verstehens („Ach so!“) und der Verneinung („Ach wo!“, „Ach woher!“, „Ach was, das stimmt ja gar nicht!“).

Das von Dr. Nicola Schorn (Universität Vechta) vorgeschlagene ach! hat in der Tat die unterschiedlichsten Schattierungen. Besondere Meister des ach! sind Friedrich Hölderlin und Heinrich von Kleist. Über letzteren schrieb Rüdiger Safranski am 12. 1. 2000 in der Zeit: „Sechzehnmal ist es zu hören in der Penthesilea, und jedes Mal klingt es anders. ‚Ach‘, seufzt Penthesilea, als sie den Geliebten erblickt und er sie anblickt, und ‚Ach‘, als sie den Geliebten zerrissen hat, und ‚Ach‘, als sie alles dies nicht mehr versteht und es ihr die Sprache verschlägt.

Das ‚Ach‘ – die Sprache der Sprachlosigkeit. So verhält es sich auch mit dem berühmtesten ‚Ach‘ der Weltliteratur, Alkmenes Seufzer, als sie von Jupiter verlassen wird, der ihr in Gestalt des Gatten Amphitryon eine Liebesnacht geschenkt hatte. Wie überlebt ein sterbliches Wesen diese Heimsuchung durch einen göttlichen Liebhaber? Wie kann das Leben danach weitergehen? Muss es nicht zur Wüste werden, und ist das ‚Ach‘ nicht auch Ausdruck des Schreckens vor dem Undsoweiter der Gewöhnlichkeit?“

(Vor allem, sprechen wir es doch ruhig aus, ist das ach! der Alkmene aber wohl Ausdruck der frustrierenden Erkenntnis, anstelle des göttlichen Liebhabers fortan wieder mit dem menschlichen, nämlich dem echten Amphitryon, Vorlieb nehmen zu müssen.)

Ach! erscheint nicht nur als lautmalerische Umschreibung des entweichenden Luftstroms, es ist derselbe: der Ausdruck (das Herausgedrückte) in Reinform. Das Gegenteil – die für Sprachen wie das Deutsche völlig ungewöhnliche Artikulation beim Einatmen – habe ich zum ersten Mal in Vechta erlebt. Hier und in der Region kann man immer mal wieder am Ende einer Aussage ein bekräftigendes, sehr kurzes Ja hören, das mit eingezogenem Luftstrom gebildet wird.

Nicht dass hier die Leute so viel reden, dass sie nach Luft schnappen müssen: vielmehr scheint das Phänomen eine Art Einholen der Bestätigung des Gegenübers oder der Welt allgemein zu sein. Bescheidenheit also: Man behauptet nicht nur, sondern fragt zugleich nach Zustimmung. Liebenswürdig!    ⋄    Jochen A. Bär

(208) 27. Juli – Unwägbarkeiten

Es ist üblich, Substantive in Wörterbüchern im Nominativ Singular anzugeben; dieser, der „Wer-Fall in der Einzahl“, gilt als Grundform. Unwägbarkeit steht daher im großen Duden, auch im sechsbändigen Brockhaus-Wahrig und anderswo. Dass wir hier die Pluralform verwenden, begründet sich dadurch, dass diese weitaus häufiger verwendet wird: im Verhältnis 25:1. Der Singular kommt dort vor, wo von der Tatsache des Unwägbarseins als solcher die Rede ist, hier und da auch mal, wenn man eine einzelne unwägbare Sache meint. Da wir aber dazu neigen, uns nach allen Seiten hin möglichst abzusichern und Verantwortung nach Möglichkeit von uns zu weisen, sagen wir in der Regel eher nicht Sätze wie „Der Plan birgt eine Unwägbarkeit“, sondern „Der Plan birgt Unwägbarkeiten“. Eine Unwägbarkeit – das impliziert ja, dass man genau oder zumindest ungefähr weiß, worin sie besteht; und dann wäre man wieder in der Pflicht, sich dazu zu verhalten. Unwägbarkeiten im Plural – da legt man sich nicht fest, sondern deutet noch eine weitere Unwägbarkeit an: eine potenzierte Unwägbarkeit, die Unwägbarkeit der Unwägbarkeiten (wie viele es sind und worin genau sie bestehen).

Das in allen germanischen Sprachen bekannte Verb wegen (so schrieb man es noch in mittelhochdeutscher Zeit) bedeutete ursprünglich ›sich/etwas bewegen, Gewicht haben, wiegen‹. Im Neuhochdeutschen wurde das Wort zunächst im Sinne von ›Gewicht haben‹ und ›auf die Waage legen‹ verwendet, wofür man heute nur noch die Neubildung wiegen kennt. In Anlehnung an das verwandte Substantiv Waage schrieb man wegen seit dem 16 Jahrhundert zunehmend mit ä. Heute gebraucht man es nur noch in der Bedeutung ›vorsichtig, sorgsam bedenken‹.

Eine Sache, die man durch Wägen nicht ergründen, die man gedanklich nicht durchdringen kann, ist dann eben unwägbar. Wenn man Unwägbarkeiten konstatiert, bringt man damit zum Ausdruck, dass man keine klaren, verlässlichen Vorhersagen machen kann, sondern dass die Dinge auch ganz anders kommen könnten. Ganz im Sinne von Bertolt Brecht: „Ja, mach nur einen Plan, | sei nur ein großes Licht, | und mach dann noch nen zweiten Plan, | gehn tun sie beide nicht.“

Für die Absicherungsstrategie „Unwägbarkeit der Unwägbarkeiten“ braucht man übrigens nicht unbedingt den Plural. Man kann die Mehrzahl auch durch einen Quantitativartikel ausdrücken: „Der Plan birgt manche Unwägbarkeit“.

Beruhigend: Zumindest die deutsche Grammatik birgt für diejenigen, die sich eingehender mit ihr befassen und ihre Regeln durchschauen, keine echten Unwägbarkeiten. Für alle anderen gibt es das Vechtaer Sprachauskunftstelefon.    ⋄    Jochen A. Bär

(209) 28. Juli – heftig

Das Adjektiv („Eigenschaftswort“) heftig bedeutet, folgt man dem großen Duden, zweierlei: Erstens: ›von starkem Ausmaß, großer Intensität; sich mit großer Stärke, Wucht, großem Schwung, Ungestüm auswirkend; in hohem Maße, stark, gewaltig‹; beispielsweise ein heftiger Regen, ein heftiger Aufprall oder Schmerz, eine heftige Leidenschaft, eine heftige (›leidenschaftlich geführte‹) Auseinandersetzung oder Kontroverse, auch heftige (›erbitterte‹) Kämpfe; man kann heftig weinen/schimpfen/atmen/zittern/frieren/schwitzen, sich heftig wehren, etwas heftig (›sehr nachdrücklich‹) dementieren oder sich heftig (›leidenschaftlich‹) verlieben.

Zweitens kann heftig so viel bedeuten wie ›leicht erregbar, aufbrausend, nicht gelassen; ungezügelt, unbeherrscht‹: Jemand ist ein heftiger Mensch, hat eine heftige Art, antwortet in heftigem (›scharfem‹) Ton oder reagiert heftig.

Drittens – aber das steht nicht im Duden – kennt man heftig auch noch in einem umgangssprachlichen, tendenziell sogar jugendsprachlichen Gebrauch, in dem es so viel bedeutet wie ›gravierend, schlimm, in negativer Weise erstaunlich‹: „Philipp ist schon zum zweiten Mal durch die Linguistik-Einführungsklausur gefallen.“ – „Boah! Heftig!“ In dieser Verwendung ist heftig (ähnlich wie die gleichfalls jugendspachlichen Wörter krass und geil, die wir im „Jahr der Wörter“ ebenfalls schon behandelt haben) ein expressives Wort, das weniger einen Sachverhalt beschreiben als eine gefühlsmäßige Haltung, eine Einstellung der sprechenden Person gegenüber dem Redegegenstand zum Ausdruck bringen soll. Anders als geil, bei dem diese Haltung oder Einstellung uneingeschränkt positiv ist, und bei krass, das beides, Zustimmung oder Ablehnung bedeuten kann, ist heftig prinzipiell negativ wertend. Da soll noch mal einer sagen, die Jugendsprache verfüge nicht über differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten. Voll heftig!

Die Bedeutung des Wortes hat sich seit dem Mittelalter stark verändert. Das mittelhochdeutsche heftec hieß so viel wie ›haftend‹, auch ›beharrlich‹; die heutige Bedeutung entwickelte sich wohl unter Einfluss von mittelhochdeutsch heifte ›ungestüm‹. Mit heftig verwandt sind die Wörter heften (ursprünglich: ›haltend machen, befestigen‹), Haft (›Gefangenschaft‹) und Heft (›Griff einer Stichwaffe, seltener auch eines Werkzeugs‹, ursprünglich: ›das Haltende, Packende‹) und auch die Adjektivendung -haft (eigentlich: ›mit etwas behaftet‹, z. B. in regelhaft oder schadhaft).

Ebenfalls verwandt ist heben (›nach oben bewegen‹), das ursprünglich ›fassen, packen, festhalten‹ bedeutete. Diese alte Bedeutung hat es noch in einigen süddeutschen Dialekten.    ⋄    Jochen A. Bär

(210) 29. Juli – frugal

„Wie viel ist nicht [...] geschrieben worden!“, liest man bei Lichtenberg in den Sudelbüchern und „mit Vorsicht und Einrichtung, wie viel ist da nicht möglich!“ bei Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahre. Womit nicht gesagt sein soll, dass nicht viel, sondern dass viel geschrieben worden und dass viel möglich ist.

Auch die Steigerung von Adjektiven hat semantisch so ihre Tücken: Vergleicht man eine alte Dame mit einer, die älter ist als sie, so ist die alte die jüngere von beiden (ebenso wie die ältere jünger ist als die älteste); dagegen kann eine ältere Dame für sich genommen zwar älter sein als eine junge, sie muss aber noch lange keine alte Dame sein.

Wie ist die deutsche Sprache nicht unlogisch! Älter heißt einmal ›älter‹, einmal ›jünger‹; nicht heißt einmal ›nicht‹ und einmal nicht.

Parallel zur Antonymie (warmkalt) gibt es die Antisemie, eben den Gegensinn. Etwas ausleihen kann man entweder sich (dann gehört es einem anderen, und man selbst erhält es zeitweise zur Verfügung), oder aber jemandem (dann gehört es einem selbst, und man stellt es einem anderen zeitweise zur Verfügung).

Auch in anderen Sprachen gibt es das Phänomen des Gegensinns. So kennt das Lateinische das Wort altus, das zugleich ›hoch‹ und ›tief‹ heißt. Und als Octavian, der spätere Kaiser Augustus, Anstalten machte, in Rom die Macht zu übernehmen, erklärte sein politischer Gegner Cicero, man müsse den jungen Mann loben, auszeichnen und erheben (laudandum adulescentem, ornandum, tollendum); doch dass er das Gegenteil meinte, verstanden seine Zeitgenossen – und auch Octavian, der es übelnahm – sehr wohl, denn tollere, das Wort für ›erheben‹, bedeutete zugleich ›ausschalten, beseitigen‹.

Antisemie kann auch durch verbreitete Unkenntnis eines Wortes bzw. seiner ursprünglichen Bedeutung zustande kommen, wie etwa bei dem Adjektiv frugal. Statt in der eigentlichen Bedeutung ›karg, einfach‹ wird dieses elaboriert klingende Wort heute so oft fälschlich im Sinne von ›üppig, reichhaltig‹ gebraucht, dass manche Wörterbücher diese Verwendungsweise – wenngleich nicht unkommentiert – bereits als neue Bedeutung aufführen.

Wie sich zeigt, ist die Antisemie eine wahre Untiefe der Sprache – im doppelten, gegenteiligen Sinne des Wortes, der sich durch die unterschiedliche Bedeutung der Vorsilbe un- (Negation, z. B. in unlieb, Unrecht, aber auch Verstärkung, z. B. in Unmenge, Unsumme) erklärt: Sie ist deutbar zugleich als flaches Gewässer, in dem das Schiff der Sprachkompetenz auf Grund laufen kann (s. frugal), und als überaus große Tiefe, in die man sich gedanklich versenken, in der man freilich leicht auch intellektuell ersaufen kann.    ⋄    Jochen A. Bär

(211) 30. Juli – säuseln

Unser heutiges Wort – ein Vorschlag von Martina Wiehebrink aus Holdorf – ist ein Derivat, d. h. eine durch Hinzufügung eines Wortelements (der Fachausdruck lautet „Derivationssuffix“) von einem anderen Wort abgeleitetes Wort. Das Ausgangswort ist in diesem Fall sausen, das das Wortelement ist -(e)l(e)n. Man kann mit diesem „Anhängsel“ Verben („Zeitwörter“) nicht nur, wie bei säuseln oder auch bei brummeln, drängeln, hüsteln, spötteln oder tänzeln, von anderen Verben ableiten, sondern auch von Substantiven („Hauptwörtern“), wie bei handeln, kriseln oder radeln, und von Adjektiven („Eigenschaftswörtern“), wie bei fremdeln oder schwächeln.

Man sieht es den Beispielen schon an: Die Endung -(e)l(e)n kann unterschiedliche Bedeutungsaspekte in die Wortbildung einbringen. Im Fall von fremdeln, drängeln oder handeln spricht die Grammatikschreibung von einem „iterativ-durativen“ Aspekt, d. h., es wird zum Ausdruck gebracht, dass die gemeinte Handlung mehrfach wiederholt oder auch über einen längeren Zeitraum hindurch stattfindet. Wie bei fremdeln kann es sich auch eine charakteristische Verhaltensweise bezeichnen.

Dem gegenüber steht ein „diminutiver“ Bedeutungsaspekt von -(e)l(e)n: die gemeinte Handlung erscheint gegenüber dem Grundwort „verkleinert“, also abgeschwächt: brummeln ist weniger stark als brummen, spötteln weniger gravierend als spotten und tänzeln weniger intensiv als tanzen.

Auch bei säuseln liegt klar erkennbar der diminutive Bedeutungsaspekt vor. Es bedeutet demnach zunächst so viel wie ›leicht, ein wenig sausen‹ und gelangt von dorther in der Gegenwartssprache zu drei verschiedenen Bedeutungen: 1. ›durch oder wie durch eine leichte Bewegung der Luft ein leises Geräusch von sich geben‹ (der Wind säuselt, Blätter säuseln im Wind), 2. ›etwas zu jemandem sagen‹, oft mit dem Nebenaspekt der angenehmen Thematik, der leisen Stimme, aber auch der Unaufrichtigkeit (er hat mich ganz schön vollgesäuselt), und 3. ›sich (mit säuselndem Geräusch) sacht, gleitend fortbewegen, irgendwohin bewegen‹ (Blätter säuseln zur Erde).

Dass säuseln ein abgeleitetes Verb ist – das zugrunde liegende sausen, das man als suson bereits in althochdeutscher Zeit kannte, war wohl ursprünglich ein lautmalerisches Wort, das dem gemeinten Geräusch nachempfunden war –, bedeutet nicht, dass man von ihm nicht weitere Wörter ableiten kann. Für anhaltendes Säuseln kennt man eine solche Ableitung: Gesäusel.    ⋄    Jochen A. Bär

(212) 31. Juli – Ferien

Es sind Ferien! An Schulen gibt es Schulferien, an Hochschulen Semesterferien, in Unternehmen – wenn auch seltener – Betriebsferien. Schließlich gibt es noch Gerichtsferien und Parlamentsferien. Letztere werden auch parlamentarische Sommerpause genannt.

Ferien sind ›Zeiträume, in denen Einrichtungen schließen, um den dort arbeitenden Menschen andere Tätigkeiten, z. B. Erholung oder Urlaub, zu ermöglichen‹. Grundsätzlich heißt Ferien aber nicht ›arbeitsfreie Zeit‹. Es ist ja keineswegs so, dass z. B. Universitätsangehörige in den Semesterferien wochenlang frei hätten. Und die Universität als solche schließt ja auch nicht, nur der Lehrbetrieb. Um Missverständnisse zu vermeiden, bevorzugen wir daher die korrekte Bezeichnung vorlesungsfreie Zeit.

Das Wort Ferien stammt aus dem Lateinischen. Es wurde im 15. Jahrhundert entlehnt von feriae, was für religiöse ›Festtage‹ oder ›Feste‹ steht. Auch verhandlungsfreie Tage bei Gericht wurden im Mittelalter als Ferien bezeichnet. Seit dem 18. Jahrhundert wurde mit der Einführung allgemeiner Schulferien die Bedeutung auch auf ›Urlaub‹ im heutigen Sinn erweitert. Urlaub kommt von mittelhochdeutsch urloup, was ›Erlaubnis‹, speziell ›Erlaubnis zu gehen‹ oder ›Abschied‹ bedeutet. „Ferien: bestes Wort der Welt“, erläuterte der (inzwischen ehemalige) Deutsch-Leistungskurs des Vechtaer Gymnasiums Antonianum seinen Vorschlag für unsere Kolumne: „die Zeit, in der man keine Schule hat. Gibt es was Tolleres?“

Interessant ist, dass sich aus der ursprünglichen Wortbedeutung von Urlaub, einer ›Erlaubnis‹, in der industrialisierten Gesellschaft zusätzlich eine Verpflichtung ergeben hat. Urlaub ist keineswegs eine frei verfügbare Zeit, die sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer legen können wie sie wollen. Mit Urlaub (und Ferien) ist heute der Auftrag verbunden, sich zu erholen, um den Leistungsansprüchen der Arbeitswelt dauerhaft gerecht werden zu können.

Auf die Frage: „Was verstehst du unter Ferien“, antwortet mein Sohn: „Pool, wandern, chillen.“ Das kann als Indiz dafür genommen werden, dass heute tatsächlich im allgemeinen Sprachgebrauch nicht mehr zwischen der Bedeutung von Ferien und Urlaub unterschieden wird und dass die beiden Ausdrücke synonym verwendet werden. Und da wir Ferien haben, sowohl Schulferien (in Niedersachsen seit heute) als auch „Semesterferien“, und sogar im Urlaub sind, d. h. verreist in einer Zeit erlaubter Arbeitsunterbrechung zwecks Erholung, will ich jetzt die Muße finden, mich dieser Zeit wieder hinzugeben. Schöne Ferien und einen erholsamen Urlaub!    ⋄    David Römer