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Germanistische Sprachwissenschaft

Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten

Das Jahr der Wörter

(1) 1. Januar – Welt

ist ein Allerweltswort. Viele Dinge sind auf der Welt oder in der Welt, von denen uns dennoch Welten trennen. Der Mann oder die Frau von Welt hätte früher niemals im Eine-Welt-Laden eingekauft; heute jedoch gehört es zum guten Ton, sich für eine bessere Welt einzusetzen. Zumal das ohne allzu großen Aufwand möglich ist: Es kostet ja nicht die Welt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler leben in einer eigenen Welt und würden um nichts auf der Welt darauf verzichten.

Das Substantiv Welt ist, obgleich die lautliche Ähnlichkeit sich aufzudrängen scheint, nicht mit walten verwandt; hingegen bewegt sich, wer sich an Weltlichem weidet, weit eher auf ähnlichem Gebiet.

Wie das englische world noch heute, enthielt das deutsche Welt noch bis ins hohe Mittelalter jenes r, das auf die eigentliche Wortherkunft weist. All diu werlt, ich hân mîn lehen, jubelte der Minnesänger Walther von der Vogelweide, als man ihm in fortgeschrittenem Alter endlich sein kleines Landgut verlieh und er sich somit nicht mehr um seinen Lebensunterhalt sorgen musste: Alle Welt sollte das erfahren.

Besser noch als das mittelhochdeutsche werlt oder werlde lässt die älteste deutsche Sprache die Wortherkunft erkennen: Althochdeutsch weralt ist eine Zusammensetzung aus wer (›Mann‹, lateinisch vir), wie es noch heute in den Wörtern Wergeld (bei den alten Germanen war das die Geldbuße für das Töten eines Mannes) und Werwolf (›Mannwolf‹) zu finden ist, und alt (›Alter, Zeitalter, Lebenszeit‹). Der Ausdruck bedeutet also ursprünglich so viel wie ›Menschenleben‹ und dient als Übersetzung für lateinisch saeculum (›Geschlecht, Zeitalter, Jahrhundert‹) und mundus (›Kreis der Erdbewohner, [bewohnte] Welt, Weltall‹).

Was aber hat nun die Welt mit einer Weide zu tun? Es ist der erste Bestandteil des althochdeutschen weralt, der die Verwandtschaft wahrscheinlich macht. Weide und verschiedene Ableitungen bzw. Zusammensetzungen – (sich) weiden, weidlich, Weidmann, Augenweide usw. – gehen ebenso wie vermutlich auch wer (›Mann‹) zurück auf eine erschließbare indoeuropäische Wurzel uei-, die so viel wie ›auf etwas losgehen, etwas jagen, erstreben, ersehnen‹ bedeutet. Die Vorstellung ›Mann‹ war also offenbar ursprünglich die des Nahrungssuchenden, und die Weide war das, was er erstrebte. Denn dass sich der Gebrauch dieses Wortes auf die heutige Bedeutung (›Futterplatz für Herdenvieh‹) beschränkte, ist eine vergleichsweise neue Entwicklung: Noch im Mittelhochdeutschen konnte Weide für jede Art von Nahrung, auch die menschliche, stehen.

Es zeigt sich: Die Etymologie oder Lehre von der Wortherkunft wirft Blicke in vergangene Lebenswelten und eröffnet bisweilen eine ganze Welt von Zusammenhängen.    ⋄    Jochen A. Bär

(2) 2. Januar – Hokuspokus

ist neben Abrakadabra das klassische Zauberwort. Oft wird es gebraucht, wenn etwas ganz schnell zum Erscheinen oder zum Verschwinden gebracht werden soll: „Hokuspokus verschwindibus“ oder auch „Das geht ja Hokuspokus“ (im Handumdrehen). Ebenfalls bedeutet Hokuspokus so viel wie ›fauler Zauber‹ oder ›Brimborium‹. „Was soll der ganze Hokuspokus“, sagt man beispielsweise, wenn jemand um eine Sache viel Aufhebens macht.

Man kennt das Wort Hokuspokus im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert. Es ist wohl aus dem Englischen entlehnt worden. 1634 erschien in London eine Schrift mit dem Titel: Hocus Pocus junior. The anatomic of legerdemain von Elias Piluland. Leger de main, wörtlich ›aus der Hand lesen‹, steht für Trickbetrügerei jeder Art. Im Jahr 1667 wurde das Buch unter dem Titel Hocus Pocus junior oder Taschen-Spiel-Kunst ins Deutsche übersetzt.

Hocus Pocus junior heißt hier offenbar so viel wie ›jüngerer Taschenspieler‹ oder ›Sohn des Taschenspielers‹: Der Verfasser will andeuten, dass es sich bei der Taschenspielerkunst um eine Kunst mit Tradition handelt, in der es bereits einen Vorläufer (den Hocus Pocus senior) gibt. Tatsächlich zeigen frühe Belege für Hokuspokus das Wort mehrfach in der Bedeutung ›Zauberkünstler, Taschenspieler‹. Berichtet wird unter anderem von einem Gaukler zur Zeit König Jakobs I. von England, der sich selbst The Kings Majesties most excellent Hocus Pocus genannt haben soll. Der Künstlername sei darauf zurückzuführen, so heißt es, dass er bei jedem Trick die Formel Hocus pocus, tontus talontus, vade celeriter jubeo verwendet habe: „a dark composure of words, to blinde the eyes of the beholders“ („eine dunkle Ansammlung von Wörtern, um die Augen der Zuschauer blind zu machen“).

Das Wort Hokuspokus hat dieser Magier aber wohl nicht selbst erfunden. Es könnte, vermuten manche, zurückzuführen sein auf die Worte Christi beim Abendmahl („Das ist mein Leib“), die auch in der lateinischen Messe vorkommen. „Hoc est corpus meum“, hieß es traditionell bei der Wandlung. Die Vorstellung, dass aus einem Stück Brot durch das Wort des Priesters der Leib Christi wird, und die Tatsache, dass das Volk in der Regel kein Latein konnte und statt „Hoc est corpus“ so etwas wie „hokuspokus“ hörte, würde erklären, wie dieses Wort entstand und wie es als Zauberformel interpretiert werden konnte.

Im Englischen hat sich aus dem ersten Bestandteil (hokus) übrigens noch ein anderes Wort entwickelt: hoax bedeutet so viel wie ›Ulk, Schabernack, Scherz‹.    ⋄    Jochen A. Bär

(3) 3. Januar – Fidibus

Wer Hokuspokus sagt, muss auch Fidibus sagen. So will es die bekannte (scherzhafte) Zauberformel: Hokus­pokus Fidibus, dreimal schwarzer Kater. Was das Wort Fidibus bedeutet, wissen heutzutage die wenigsten. Die Klasse 4a der Grundschule Sankt Hülfe-Heede in Diepholz aber weiß es: Die Kinder haben das Wort für unsere Reihe „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen, weil „es nicht nur ein Zauberwort, sondern auch ein Pfeifenanzünder ist“.

Tatsächlich ist der Fidibus ein zusammengefalteter Papierstreifen, wie man ihn in Zeiten, in denen es noch keine Zündhölzer und keine Feuerzeuge gab, zum Anzünden der Pfeife benutzt hat. Noch in Wilhelm Buschs Bilder­ge­schichte Max und Moritz (1865) erscheint der Fidibus in dieser Bedeutung: „Wer in Dorfe oder Stadt / Einen Onkel wohnen hat, / Der sei höflich und bescheiden, / Denn das mag der Onkel leiden. / Morgens sagt man: ‚Guten Morgen! / Haben Sie was zu besorgen?‘ / Bringt ihm, was er haben muß: / Zeitung, Pfeife, Fidibus.“

Woher das Wort kommt, ist nicht weiter bekannt. Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm vermutet, dass das französische fil de bois (wörtlich: ›Holzfaden‹, also ein dünner Holzspan) zugrunde liegen könnte. Da das Wort Fidibus erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und insbesondere in der Studentensprache ge­bräuch­lich wurde, hat man auch verulktes Latein als Grundlage vermutet: Bei den alten Römern hieß fides (unter anderem) die Saite eines Musikinstruments, insbesondere der Leier, oder auch das Instrument selbst. Der Dich­ter Horaz schreibt in einer seiner Oden: „et ture et fidibus iuvat placare ... deos“ („Lasst uns mit Weihrauch und Saitenspiel die Götter besänftigen“). Die Studenten des 17. Jahrhunderts, die – anders als heute – allesamt noch Latein beherrschten und ihren Horaz kannten, haben möglicherweise den Weihrauch scherzhaft zum Ta­baks­qualm umgedeutet und mit den Saiten die ‚Holzfäden‘, also die Kienspäne (oder Papierstreifen) zum Anzünden der Pfeife assoziiert.

Ob diese Herleitung stimmt, lässt sich sprachwissenschaftlich nicht überprüfen; Tatsache ist aber durchaus, dass die Studenten vom 17. bis ins 19. Jahrhundert Sprachspielereien, besonders verballhorntes Latein, gerne mochten.

Heute ist das Wort Fidibus allenfalls noch in der eingangs erwähnten Witz-Zauberformel gebräuchlich. Hier steht es möglicherweise ursprünglich für das Anzünden einer kleinen Menge Pulver, also für einen Knalleffekt beim Zaubertrick. Pfeifen, Zigarren oder Zigaretten werden heute nicht mehr mit einem Fidibus angesteckt. Noch im frühen 20. Jahrhundert war das aber anders: Um 1920 gab es ein Elektrogerät, das Fidibus hieß. Es funk­tio­nier­te nach dem Prinzip des Zigarettenanzünders im Auto: Mit Glühdrähten konnte man einen Papierstreifen in Brand setzen und damit Geld sparen. Strom kostete damals viel weniger als Streichhölzer ...    ⋄    Jochen A. Bär

(4) 4. Januar – vielleicht

ist eine schon im Mittelhochdeutschen gebräuchliche Zusammensetzung. Viel bedeutete damals unter anderem ›sehr‹ und konnte zur Verstärkung der Bedeutung von Adjektiven verwendet werden.

Dr. Nicola Schorn, die uns vielleicht für die Reihe „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen hat, schreibt dazu, dass sie „den Klang mag“ und an der Erläuterung des Wortes interessiert ist. Zum Wortklang ist in der Tat einiges anzumerken. Obgleich viel heute lang gesprochen wird, ist das i in vielleicht ein kurzes i. Es wird so unbetont ausgesprochen, dass in einigen deutschen Dialekten sogar Formen wie veleicht oder verleicht vorkommen. Dies erklärt sich dadurch, dass im Mittelhochdeutschen das i noch kurz war (vil) und dass in der Zusammensetzung vielleicht die Betonung immer auf der zweiten Silbe lag. Die dadurch zustande kommende Schwächung der ersten Silbe verhinderte, dass das i im Laufe der Jahrhunderte lang ausgesprochen wurde, so wie es beim einfachen viel der Fall war.

Im bis heute größten Wörterbuch der deutschen Sprache, in dem man auch Angaben zur Sprachgeschichte findet, dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, liest man zu vielleicht, es bezeichne „die angenommene Möglichkeit, dass eine Aussage der Wirklichkeit entspricht, oder dass etwas eintritt oder sich ereignet“. In der älteren Sprache hieß auch leicht allein schon ›möglich‹. Das verstärkende vielleicht bedeutete demnach ›wahrscheinlich, sehr gut möglich‹: Mit dem Wort verband sich die Erwartung, dass etwas tatsächlich der Fall ist oder mit Sicherheit eintreten wird. Wer auf eine Frage wie „Kommst du zum Essen?“ die Antwort „vielleicht“ erhielt, durfte davon ausgehen, nicht allein zu bleiben. In der jüngeren Sprachgeschichte hat sich dies verändert. Heute relativiert man mit vielleicht die Verlässlichkeit der Aussage stärker und meint damit eher ›unter Umständen – möglicherweise aber auch nicht‹. Darauf verlassen, dass jemand, der vielleicht sagt, ›ja‹ meint, kann man sich jedenfalls nicht mehr.

Durchaus verstärkend wird vielleicht hingegen in Aufforderungen wie „Kannst du vielleicht mal zuhören!“ gebraucht: Ähnlich wie gefälligst war vielleicht in solchen Zusammenhängen ursprünglich ein Ausdruck von Höflichkeit – dem Angesprochenen wurde damit die Entscheidung freigestellt. Heute ist so etwas eher eine barsche Anweisung. Wer höflich sein möchte, wählt den Konjunktiv („Könntest du ...“) und lässt vielleicht oder gefälligst weg oder ersetzt es durch freundlicherweise.    ⋄    Jochen A. Bär

(5) 5. Januar – nichtsdestotrotz

ist ein Wort, das man immer häufiger in standardsprachlichen, durchaus ernst gemeinten Zusammenhängen liest. Manche Zeitgenossen wissen aber, dass es eine scherzhafte Bildung ist, die sich als solche eher nicht für seriöse Texte eignet.

Woher das Wort stammt, ist unklar. Bei Kurt Tucholsky oder Karl Kraus, Autoren, an die man dabei denken könnte, findet sich für nichtsdestotrotz kein einziger Beleg; Tucholsky verwendet an einer Stelle nichtsdestoweniger und an einer anderen die französische Entsprechung néanmoins, Kraus hat zweimal nichtsdestoweniger.

Demgegenüber ist die Auffassung verbreitet, der Komiker Heinz Erhardt habe das Wort als scherzhafte Misch­bildung von nichtsdestoweniger und trotzdem geprägt. Das zehnbändige Duden-Wörterbuch erklärt nichtsdestotrotz auf eben diese Weise – allerdings ohne Nennung Heinz Erhardts.

Es ist keineswegs auszuschließen, dass Erhardt nichtsdestotrotz populär gemacht hat. Das Wort als Erster gebraucht hat er aber sicherlich nicht. Denn bereits 1908 ist es in der Zeitschrift Ost und West (Jahrgang 8, Heft 11) nachweisbar: „nichtsdestotrotz liessen sich […] einige Angaben […] berichtigen“. Auf der Titelseite der Zeit (Nr. 22/1952) verwendet es Marion Gräfin Dönhoff („nichtsdestotrotz […] drohte ihm die Besatzungsbehörde mit erneuter Verhaftung“).

Ebenso wie diese beiden Zitate lässt auch die große Masse der uns vorliegenden Belege (es handelt sich ins­gesamt um mehrere Tausend) erkennen, dass nichtsdestotrotz seit vielen Jahren tatsächlich als Eins-zu-eins-Ent­sprechung der älteren Adverbien nichtsdestoweniger und nichtsdestominder gebraucht wird. Im Deutschen Wör­terbuch der Brüder Grimm (Bd. 7, erschienen 1889) liest man über diese beiden Wörter, dass sie dem lateinischen nihilominus bzw. dem französischen néanmoins nachgebildet sind und zur nachdrücklichen Hervorhebung eines Satzes dienen, der einen Widerspruch ausdrückt (ebenso wie trotzdem, dessenungeachtet und gleichwohl). Nichtsdestotrotz ist im Grimm nicht verzeichnet.

Will man rein mengenmäßig argumentieren, so muss man feststellen, dass nichtsdestotrotz in der heutigen deutschen Sprache durchaus ge­bräuchlich ist. Wer allerdings Sprachgefühl erkennen lassen will oder (z. B. aus beruflichen Gründen) erkennen lassen sollte, der ist wohl gut beraten, die im Duden, aber auch im sechsbän­di­gen Wahrig verzeichnete Markierung „scherzhaft, umgangssprachlich“ ernst zu nehmen.    ⋄    Jochen A. Bär

(6) 6. Januar – hinreißend

ist ein heutzutage immer mehr außer Gebrauch kommendes Wort, das im zehnbändigen Duden mit der Bedeutung ›begeisternd, bezaubernd‹ angegeben wird; auch ›entzückend‹ wäre eine durchaus angemessene Entsprechung. Jemand ist ein hinreißender Redner, spielt hinreißend Klavier oder eine Rolle, etwas ist hinreißend schön oder komisch.

Anders als beispielsweise großartig, das eine eher distanzierte Bewunderung für etwas zum Ausdruck bringt, schwingt bei hinreißend mehr die persönliche Beteiligung mit. Wer etwas hinreißend nennt, ist unmittelbar davon angetan und steht dazu. Auf hinreißende Art fand die Schauspielerin Mae West sich selbst hinreißend: „Ist das eine Pistole in deiner Tasche oder freust du dich nur, mich zu sehen?“

Das Adjektiv ist abgeleitet von dem Verb hinreißen, das ursprünglich für die Überwältigung durch Eindrücke oder auch Leidenschaften steht: Wer hingerissen ist, kann sich gegen seine Empfindungen nicht wehren. „Wer kennt Sie, und ist nicht gleich lebhaft für Sie hingerissen?“, heißt es beispielsweise in Goethes Schauspiel Der Groß-Cophta: „Wer wünscht nicht Ihnen, selbst mit Aufopferung, zu dienen?“

Das Grundwort reißen ist mit ritzen sowie dem englischen to write verwandt und heißt ursprünglich so viel wie ›Linien ziehen, zeichnen, schreiben, eingravieren‹ – ein Bedeutungsaspekt, der heute noch in Wörtern wie Aufriss oder Umriss erkennbar ist. In übertragener Verwendung kommt es dann auch zu der Bedeutung ›etwas rasch ziehen‹, die in dem Verb hinreißen erkennbar ist: Jemand fühlt sich sehr stark zu jemandem oder etwas hingezogen. Allerdings ist die Bedeutung ›zeichnen‹ auch bei hinreißen im 18. Jahrhundert durchaus noch bekannt. So findet man bei Christoph Martin Wieland den Gedanken, es sei für die Geschichte der Malerei entscheidend gewesen, „einen Menschen auf den Einfall zu bringen, eine Kohle zu ergreifen und den Umriß eines menschlichen Schattens an eine Wand hinzureißen“.

Bei aller vermeintlichen Offenheit und aller Tendenz zur Selbstdarstellung wollen wir uns gefühlsmäßig heutzutage eher heraushalten. Wie platt und unverbindlich wirkt gegen hinreißend das umgangssprachliche toll oder gar das (pseudo)jugendsprachliche geil. Wir reden mit solchen Ausdrücken nur über etwas und bekennen uns nicht zugleich zu seiner Wirkung auf uns selbst. Das vorbehaltlose hinreißend sollte daher aus dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht verschwinden. Wäre das nicht hinreißend?    ⋄    Jochen A. Bär

(7) 7. Januar – Grünkohl

ist ein leckeres Gericht, das im Oldenburger Münsterland (und natürlich nicht nur hier) sehr beliebt ist. Alfred Kuhlmann aus Ellenstedt hat das Wort vorgeschlagen: „nicht ganz so ernst gemeint“. In der Tat fragt man sich zunächst, was der Sprachwissenschaftler über Grünkohl zu sagen haben könnte – es soll ja um das Wort gehen, nicht um die Sache.

Interessant ist immerhin der Name, besser: die Namen. Grünkohl heißt anderswo Braunkohl, Hochkohl, Winterkohl, Strunkkohl oder Krauskohl, in der Schweiz Federkohl, in Ostwestfalen-Lippe Lippische Palme, weiter nördlich Oldenburger oder Friesische Palme; die Botaniker kennen die Pflanze als Brassica oleracea var. sabellica.

Das zusammengesetzte Substantiv hat zwei Bestandteile, und sobald man diese jeweils für sich betrachtet, wird es auch sprachgeschichtlich spannend. Das Grundwort Kohl haben – zusammen mit der Nutzpflanze selbst – schon die alten Germanen aus dem Lateinischen (caulis) übernommen. Es bedeutet ursprünglich so viel wie ›Stängel, Stiel, Federkiel‹ und ist mit hohl verwandt; zugrunde liegt wohl eine Vorstellung wie ›Röhre, hohler Schaft‹. Der Kohl ist also nach seinem Strunk benannt.

Die Farbbezeichnung grün, die bei Grünkohl als Bestimmungswort dient, gehört zu einem heute ausgestorbenen Verb, das ›wachsen, sprießen, gedeihen‹ bedeutete. Im Englischen gibt es dieses Verb noch: to grow. Damit verwandt sind Wörter wie Grat, Gräte, Granne (›borstenartige Spitze an Ähren oder Gräsern‹) und Gras. Die allen diesen Wörtern zugrunde liegende indoeuropäische Wurzel bedeutet ›hervorstechen, emporragen‹. Grün hieß demnach ursprünglich so viel wie ›sprießend, hervorwachsend‹ und wurde schon früh auf die Farbe der jungen Triebe übertragen.

Im Sinne von ›frisch, jung, saftig‹ steht grün im Gegensatz zu trocken (grüne Bohnen, grünes Holz, grüne ›ungeräu­cher­te‹ Heringe) und zu reif (grüner ›unreifer, unerfahrener‹ Junge). Als Farbe des Frühlings wird grün schon im Mittelalter zum Sinnbild der Freude, des Angenehmen, später auch der Hoffnung und des Gedeihens. Wer nicht erfolgreich ist, kommt auf keinen grünen Zweig; wenn man jemandem wohlgesonnen, gewogen ist, kann man sagen, dass man ihm grün sei, und die grüne Seite ist die, wo das Herz sitzt.

Es zeigt sich: Abgesehen davon, dass man bei Grünkohl an etwas Gutes zu essen denkt, kann man mit dem Wort eine ganze Reihe weiterer erfreulicher Gedanken verbinden. Ein echter Kandidat für das „Jahr der Wörter“ also.    ⋄    Jochen A. Bär

(8) 8. Januar – Arsch

ist sicher kein schönes Wort, aber ein sehr altes, das in der Form ars schon im Althochdeutschen zu finden ist. Verwandt ist griechisch orrhos (›Hintern, Steiß‹) und zugrunde liegt wohl eine indoeuropäische Wurzel er(s) oder or(s), die so viel bedeutet haben dürfte wie ›sich bewegen‹ oder ›emporstehen‹. Ob unsere Urvorfahren eher an einen sich bewegenden Schwanz, wie bei Tieren, oder eher an eine Erhebung (hierzu passt auch griechisch oros ›Berg‹), an ein vorstehendes Körperteil gedacht haben, lässt sich nicht feststellen.

Die alte Form ars schrieb noch das 16. Jahrhundert; erst die neuere Zeit, so beklagt Jacob Grimm im Deutschen Wörterbuch, hat „das rohe Wort roher und breiter gemacht durch Wandlung des rs in rsch“.

Obwohl Arsch ein derbes (Schimpf-)Wort ist, hat es seinen Platz in der deutschen Literatur – auch in der klassischen. „Aus einem traurigen Arsch kommt kein fröhlicher Furz“, soll Martin Luther gesagt haben. Bei Goethe findet sich nicht nur das bekannte Zitat des Götz von Berlichingen, das in den gedruckten Fassungen (nicht allerdings im Original!) in der Regel durch drei Striche ersetzt wird. Der Dichterfürst kannte auch die schöne Wortbildung ärschlings (›mit dem Hintern voran‹): Im Faust II fahren die Teufel „ärschlings in die Hölle“. Und das Grundwort mochte Goethe so, dass er sogar die Klangähnlichkeiten mit anderen Wörtern reimweise ausprobierte: „Ars, Ares wird der Kriegesgott genannt, / Ars heißt die Kunst und A--- ist auch bekannt.“

Das lateinische Wort ars (›Kunst‹) und der Name des griechischen Kriegsgottes Ares sind beide freilich nicht mit Arsch verwandt. Die frühe Neuzeit liebte aber Wortspiele, und so verwundert es nicht, dass im 16. und 17. Jahrhundert Leute mit Lateinkenntnissen, denen die lautliche Übereinstimmung zwischen dem lateinischen Wort für ›Kunst‹ und dem deutschen A-Wort bewusst war, das deutsche Wort Kunst häufiger anstelle des letzteren verwendeten. Auf die Kunst fallen hieß ›auf den Hintern fallen‹, und der Ausdruck Kunstloch lässt sich in diesem Zusammenhang ebenfalls verstehen. So liest man in dem 1638 in Frankfurt erschienenen Buch Florilegium Politicum – Politischer Blumengarten des Autors Christoph Lehmann Folgendes (wiedergegeben in etwas modernisierter Form): „Ein Schlaumeier sah einmal hoch auf einem Dach einen Kuhfladen und verwunderte sich über der Kuh Kunstloch; bis er schließlich mit vieler Subtilität darauf verfiel, der müsse wohl schon daraufgekommen sein, da die Schindel noch am Erdboden gelegen.“    ⋄    Jochen A. Bär

(9) 9. Januar – Krawall

Günther-Bernd Ruhnke aus Steinfeld hat Krawall für die Reihe „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen. Auf eine Begründung hat er verzichtet, vermutlich aber mag er das Wort wegen seiner klanglichen Besonderheit. Denn es hat etwas Lautmalerisches: Das harte k am Anfang, das darauffolgende r, das schon immer als kraftvoller, aggressiver Laut galt, sowie das doppelte helle, kurze a und die ansteigende Betonung der Silben geben ihm etwas Schallendes, Herausforderndes. Der Klang, so scheint es, entspricht der Bedeutung; das, was das Wort ausdrückt, bewirkt es zugleich. (Im Deutschen gibt es, ebenso wie in anderen Sprachen, eine ganze Reihe solcher Wörter: Kopfschmerz beispielsweise, so schrieb Ende des 18. Jahrhunderts August Wilhelm Schlegel, „macht Kopfschmerz, wenn man es ausspricht“, und Pfropf „pfropft einem den Mund zu“.)

Die Bedeutung von Krawall ist einerseits ›Tumult mit Tätlichkeiten, Aufruhr, Ausschreitungen‹ (so spricht man beispielsweise von politischen oder von blutigen Krawallen), andererseits ›Lärm, sehr lebhaftes Treiben (besonders einer größeren Anzahl von Menschen)‹; in dieser zweiten Bedeutung kennt das Wort keine Mehrzahl.

Woher Krawall kommt, ist (wie bei vielen anderen Wörtern) nicht ganz klar. Die Literatursprache kennt es wohl erst seit 1830, als es in Zeitungsberichten über Ausschreitungen in Hanau (Hessen) erschien. In oberdeutschen Mundarten ist es aber schon seit dem 15. Jahrhundert gebräuchlich. Möglicherweise ist es entlehnt aus dem mittellateinischen charavallium (auch chalvaricum oder charavaria), das für Geklirr, Geschepper und Geschrei als Hochzeitsständchen (zur Verspottung von Leuten, die zum zweiten Mal heiraten) steht. Wie das französische charivari (›Stimmengewirr, Lärm‹) geht es zurück auf das griechische Wort karebaría (›Schwere des Kopfs, Benommenheit, Kopfschmerz‹) und bedeutet also ursprünglich die Folge des Lärms: Katerstimmung nach Katzenmusik.

Die Silbe Kra oder Kar erscheint auch in anderen Wörtern mit ähnlicher Bedeutung, z. B. in Krakeel ›tobender Lärm, Geschrei, Streit‹) und krakeelen. Im Ostoberdeutschen kennt man das Kartummel (›Tumult‹) und im Schweizerdeutschen den Karjammer (›Lärm, Geschrei‹). Darin steckt wahrscheinlich das althochdeutsche chara (›Wehklage‹), das heute noch allgemein in Karfreitag bekannt ist. Dass sprachgeschichtlich ein Zusammenhang mit Krawall besteht, ist aber nicht sicher zu belegen.    ⋄    Jochen A. Bär

(10) 10. Januar – Ironie

Die Klasse 6b der Liebfrauenschule in Vechta schlägt (unter anderem) Ironie für unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ vor. „Woher kommt das und was bedeutet es?“, fragen sich die Kinder.

Das Wort stammt aus dem Griechischen: eironeia bedeutet ›Verstellung, gespielte Unwissenheit, leiser Spott‹. Zugrunde liegt das Wort eiron (›jemand, der sich verstellt, insbesondere unwissend stellt‹; die erste Silbe ist betont, das o wird lang gesprochen).

Der klassische eiron in diesem Sinne ist der Philosoph Sokrates. Er pflegte so zu tun, als ob er von den Din­gen, über die er sich mit den Leuten unterhielt, keine Ahnung habe, stellte vermeintlich dumme Fragen, ver­wickel­te seine Gesprächspartner in Widersprüche und zeigte ihnen auf diese Weise, dass sie selbst keine Ahnung hatten.

Ironie bedeutet, dass man sich über jemanden oder etwas lustig macht, aber so, dass es nicht sofort auffällt. Man äußert etwas, vermeintlich ganz ernsthaft, meint aber etwas anderes oder sogar das Gegenteil. „Will­kom­men in meiner bescheidenen Hütte“, sagt man beispielsweise, wenn man jemanden in seinem schönen großen Haus empfängt. Oder „Bravo! Toll gemacht!“ – wenn jemand ungeschickt war und etwas zerbrochen hat. Als der Komponist Max Bruch seinem Kollegen Johannes Brahms eine neue Komposition zeigte und ihn fragte, wie er sie finde, antwortete Brahms: „Erstklassiges Notenpapier! Wo bekommt man das?“

Ironie muss für andere erkennbar werden können, sonst funktioniert sie nicht. Aber diejenige Ironie ist die beste, die einen am meisten grübeln lässt, ob es tatsächlich Ironie ist oder nicht vielleicht doch ernst gemeint sein könnte.

Sokrates stellte immer auch sein eigenes Wissen in Frage. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, soll er gesagt ha­ben. Selbstironie gehört mit zur Ironie – nicht nur aus Höflichkeit gegenüber anderen (um nicht sie allein dumm aus­se­hen zu lassen), sondern weil sich auf diese Weise die Ironie immer weiter steigern lässt. „Eigentlich wollte ich einen Lamborghini“, schreiben manche Leute auf ihren alten Polo, „aber ich konnte es nicht aussprechen.“

„Es ist ein sehr gutes Zeichen“, sagte Friedrich Schlegel über die Ironie, „wenn die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, immer wieder von neuem glauben und mißglauben, bis sie schwindlicht werden, den Scherz grade für Ernst, und den Ernst für Scherz halten.“ In diesem Sinne verstehen wir auch das viele Lob, das uns täglich für unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ er­reicht: ohne jede Ironie.    ⋄    Jochen A. Bär

(11) 11. Januar – Schornsteinfeger

„Mein Lieblingswort ist Schornsteinfeger“, schreibt Martina Debon aus Lohne, „weil der Schornsteinfeger ein Glücksbringer ist.“

Warum der Schornsteinfeger (andere, teils regionale Bezeichnungen sind Kaminfeger, Schlotfeger, Essenkehrer, Rauchfangkehrer, Feuermauerkehrer, in fränkischen Mundarten auch Schor(r)it oder Schorittefeger) als Glücksbringer gilt, kann man sich leicht denken: Es ist wichtig, dass der Schornstein stets frei ist, damit der Rauch bzw. die Abluft abziehen kann. Ein verstopfter oder schlecht ziehender Kamin war in früheren Jahrhunderten besonders schlimm: Man konnte kein Feuer im Herd machen, also nicht heizen und nicht kochen. Der Schornsteinfeger sorgte in solchen Fällen dafür, dass alles wieder gut wurde; er brachte dem Haus das Glück zurück. Die regelmäßige Reinigung war zudem wichtig, um zu verhindern, dass sich angesammelter Ruß entzündete; derjenige, der sie durchführte, war somit eine Garantie gegen Brände.

Das Wort Schornsteinfeger besteht aus zwei Teilen, von denen der erste wiederum zweigeteilt ist. Was Stein und was Feger bedeutet, wissen wir, auch wenn wir uns in der Regel nie fragen, woher diese Wörter kommen. Stein geht zurück auf eine indoeuropäische Wurzel stai oder sti, die so viel bedeutet wie ›sich verdichten, zusammendrängen, stopfen, gerinnen‹, die wohl auch in Steige oder Stiege (›Stall, Lattenverschlag, Lattenkiste für Kartoffeln oder Obst‹) und im englischen sty (›Stall‹) steckt. Das Verb fegen, das im zweiten Bestandteil von Schornsteinfeger steckt, ist verwandt mit englisch fair (›schön, hübsch, ehrlich‹) und bedeutet ursprünglich ›schmücken, schön machen‹. Was aber soll Schorn sein? Ein solches Wort gibt es im Deutschen nicht; höchstens als Familienname begegnet es.

Einen Wortbestandteil, der selbst kein Wort ist, der aber gemeinsam mit seinesgleichen oder mit einem Wort ein zusammengesetztes Wort bilden kann, nennt die Grammatik ein Konfix. Wörter wie Philosophie bestehen aus zwei Konfixen, bei Wörtern wie Himbeere oder Brombeere ist der erste Bestandteil ein Konfix, der zweite ein Wort. Das Konfix Schorn geht offenbar zurück auf ein heute ausgestorbenes Verb schorren (›hervorstehen, aus etwas hervorragen‹). Der Schornstein ist demnach ursprünglich der Kragstein, der aus der Wand hervorstehende Stützstein, auf dem der Rauchfang aufliegt; erst später wird der gesamte Rauchfang und insbesondere dessen oberer, über das Dach sich erhebender Teil ebenfalls als Schornstein bezeichnet. Mit Schorn verwandt ist übrigens scheren (›das Hervorstehende, also die Haare abschneiden‹) und englisch shore (›aus dem Meer hervorragendes Land, Küste‹).    ⋄    Jochen A. Bär

(12) 12. Januar – Matratze

In der deutschen Sprache gibt es Fremdwörter aus ganz unterschiedlichen Sprachen: aus dem Griechischen (z. B. These), aus dem Lateinischen (z. B. Ambivalenz) oder aus dem Französischen (z. B. Contenance). Manche Men­schen regen sich darüber auf, dass heutzutage viele Wörter aus dem Englischen entlehnt werden (z. B. Well­ness) oder in Anlehnung an das Englische neu gebildet werden (z. B. Handy, das es als Bezeichnung für das Mobil­telefon nur im Deutschen gibt).

Vielen Fremdwörtern sieht man ihre Herkunft gar nicht mehr an; die Sprachwissenschaft redet dann von „Lehn­wörtern“: Beispiele sind Bischof (griechisch episkopos ›Aufseher‹), Ziegel (lateinisch tegula) oder Streik (von eng­lisch to strike). Ebenfalls kaum noch erkennbar ist der Ursprung bei einigen Wörtern, die ehemals aus dem Ara­bi­schen zu uns gekommen sind. Wer wüsste schon aus dem Stegreif, dass Admiral die gleiche Wurzel hat wie Emir ›Fürst, Befehlshaber‹ oder dass Alchemie und Arsenal auf die arabischen Wörter für ›Legierungskunst‹ bzw. ›Ferti­gungs­stätte, Werft‹ zurückgehen?

Ebenfalls aus dem Arabischen stammt das Wort Matratze, dessen Bedeutung das zehnbändige Dudenwör­ter­buch folgendermaßen angibt: ›mit Rosshaar, Seegras o. Ä. gefülltes oder aus Schaumstoff bestehendes, mit festem Stoff überzogenes Polster, das dem Sprungfederrahmen oder dem Lattenrost eines Bettes aufliegt‹. Es ist bereits im 15. Jahrhundert aus dem damaligen italienischen materazzo (heute: materasso) entlehnt worden, dem seiner­seits das mittellateinische materazum (auch materatium oder materacium) zugrunde liegt. Bereits im Mittelalter kannte man im Deutschen das Wort mat(e)raz oder matereiz (›mit Wolle gefülltes Ruhebett, Polsterbett‹), das je­doch aus dem Altfranzösischen entlehnt worden war – noch heute kennt man in Frankreich matelas (›Matratze‹) – und später wieder verloren ging. Alle diese verschiedenen Ausdrücke in den unterschiedlichen Sprachen haben die gleiche Wurzel: arabisch matrah (›Teppich, auf dem man schläft‹). Die Araber waren im Mittelalter nicht nur ge­fürch­te­te Eroberer, sondern brachten die Europäer auch mit der in vielfacher Hinsicht überlegenen Kultur des Orients in Berührung.

Obwohl die beiden Wörter so ähnlich aussehen und klingen, hat Matratze übrigens nichts mit Matrize zu tun. Die Bezeichnung für die Guss-, Präge- oder Pressform hat eine völlig andere Herkunft und Geschichte; in ihr steckt mater, das lateinische Wort für ›Mutter‹.    ⋄    Jochen A. Bär

(13) 13. Januar – hold

„Du bist wie eine Blume, / So hold und schön und rein“, dichtete Heinrich Heine im Buch der Lieder. Von holden Maiden oder Jünglingen weiß das Klischee, vom holden Lächeln, vom holden Frühling und von holder Jugend, wie in dem Lied „Auf der Heide blüh’n die letzten Rosen“, das Bruno Balz geschrieben und Robert Stolz vertont hat. Schön ist es, wenn das Glück uns hold ist.

Was genau aber heißt hold? Das fragt sich auch Heinz Plagemann aus Vechta, der das Eigenschaftswort für die Aktion „Das Jahr der Wörter“ benannt hat. Das große Dudenwörterbuch erklärt es so: ›anmutig, lieblich, von zarter Schönheit‹ und fügt hinzu: „dichterisch veraltend“.

In der Tat ist hold aus dem alltäglichen Sprachgebrauch heute weitgehend verschwunden – zum Bedauern von Reinhard Schwill (Vechta), der es uns zur Behandlung ebenfalls vorschlug.

Zusammen mit dem eng verwandten Hauptwort Huld gehört hold zu einem Wortstamm mit der ursprünglichen Bedeutung ›abschüssig, geneigt‹. Die gleichfalls verwandte Halde lässt das noch erkennen: Bei ihr handelt es sich um die sanft abfallende Seite, den Abhang eines Berges (auch bei künstlichen Aufschüttungen, z. B. von Kohle). Die Neigung im übertragenen Sinn, die freundliche Zuneigung, brachte im Mittelalter zunächst der Lehnsherr dem Gefolgsmann entgegen: Er war ihm hold, begegnete ihm huldreich. Schon bald konnte man hold aber auch für die Zuneigung unter Liebenden verwenden, und ebenso für den Menschen oder den Gegenstand, der in besonderer Weise der Liebe wert erschien. So kommt es zu der erwähnten Bedeutung ›anmutig, lieblich‹.

Liebe oder Geneigtheit wurde früher ganz anders gesehen als heute. Sie war nicht nur eine rein persönliche Angelegenheit, eine Frage der Sympathie zwischen zwei Menschen, sondern hatte vertraglich bindenden Charakter (der Lehensherr war aufgrund der Lehnstreue seines Gefolgsmannes diesem zur Huld verpflichtet). Das zeigt sich auch an anderer Stelle: im mittelalterlichen Minne-Begriff. Dabei geht es keineswegs nur um die schwärmerische Verehrung, die ein Ritter einer Edeldame entgegenbringt, sondern um ein streng geregeltes soziales Verhältnis mit verbindlichen Verhaltensmustern. Einen Einblick in das uns heute sehr fremd anmutende Denken und Fühlen des Mittelalters gibt am Mittwoch (15. Januar 2014) der Sprachhistoriker Professor Dr. Oskar Reichmann: Sein empfehlenswerter Vortrag „Minnereise durch das späte Mittelalter“ findet um 18.00 Uhr im Hörsaal Q 15 der Universität Vechta statt.    ⋄    Jochen A. Bär

(14) 14. Januar – Gerücht

Jugendliche können nicht richtig Deutsch – sie verhunzen die Sprache, heißt es oft. Das ist ein Gerücht! Richtig ist: Jugendliche gehen spielerisch mit der Sprache um, sie probieren ihre Möglichkeiten aus. Was passiert wohl, welche Reaktionen bekomme ich, wenn ich die Grammatik falsch anwende? Wenn ich unanständige Wörter sage? Wenn ich neue Wörter erfinde oder alte ausgrabe und aufpoliere? Jugendliche wollen oft provozieren, das trifft durchaus zu; oft haben sie aber auch einfach nur Freude an der Sprache.

In den frühen 1980er Jahren gab es in meiner Schule etwa ein halbes Jahr lang keinen Tag, an dem die Floskel „Das halte ich für ein Gerücht!“ nicht mindestens drei Dutzend Mal zu jeder passenden (selten) und unpassenden Gelegenheit angebracht worden wäre. Ein Schüler hatte den Satz irgendwo aufgeschnappt; ihm und allen anderen gefiel das Wort Gerücht und das Befremden, das er bei der Lehrerin hervorrief, als er mit „Das halte ich für ein Gerücht!“ irgendeine Aussage kommentierte.

Was er damit etwas hochtrabend zum Ausdruck brachte, war: Ich glaube das nicht, ich zweifle es an. Denn unter einem Gerücht versteht man die Tatsache, dass etwas allgemein behauptet und weitererzählt wird, ohne dass bekannt ist, ob es auch wirklich zutrifft. Wenn über jemanden oder etwas mehrere Gerüchte auf einmal im Umlauf sind, sagt man, dass die Gerüchteküche brodelt.

Obwohl man bei dem Wort Küche sofort an Geruch und an Gerichte (›Mahlzeiten‹) denkt, sind diese beiden ähnlich aussehenden Wörter nicht mit Gerücht verwandt. Unser Wort kommt weder von riechen noch von richten, sondern vielmehr von rufen, genauer gesagt vom mittelhochdeutschen gerüefte ›Rufen, Geschrei‹. Wie die Frühneuhochdeutsche Grammatik von Oskar Reichmann und Klaus-Peter Wegera ausführt, kann die Lautverbindung ft nach Vokal im Mittelfränkischen und Niederfränkischen seit dem 9. Jahrhundert als cht geschrieben werden. Bei einigen Wörtern hat sich diese Schreibung durchgesetzt – so etwa bei echt (es hieß ursprünglich ehacht und kommt nicht von achten, wie noch die Goethezeit dachte, die ächt schrieb, sondern von mittelhochdeutsch êhaft ›richtig, rechtmäßig, gesetzmäßig‹; das mittelhochdeutsche Wort ê, neuhochdeutsch Ehe bedeutet ursprünglich so viel wie ›Recht, Gesetz, Vertrag‹). Weitere Beispiele für die cht-Schreibung der Lautfolge ft sind Nichte (von mittelhochdeutsch niftel), beschwichtigen (von mittelhochdeutsch swiften ›stillen‹) und das Seemannswort achtern ›hinten‹, das von After kommt. Die holländischen Grachten sind eigentlich die Graften (›Gräben‹) und das Gerüfte bzw. Gerücht(e) ist eben der Ruf, in dem jemand oder etwas steht.    ⋄    Jochen A. Bär

(15) 15. Januar – Fisimatenten

Ein recht beliebtes Wort ist Fisimatenten (›Flausen, Faxen, Sperenzchen, Umstände, Ausflüchte‹): Es ist – von Frie­de­rike Moek (Damme), Günther-Bernd Ruhnke (Steinfeld) und Prof. Dr. Martin Winter (Vechta) – gleich dreimal für unsere Kolumne vorgeschlagen worden. „Ich habe schon einmal gelesen“, schreibt Frau Moek, „dass dieses Wort aus dem Krieg stammt. Angeblich haben die französischen Soldaten immer versucht, deutsche Mädels in ihre Zelte zu locken (‚Visite ma tente‘), woraus dann das Verbot der Eltern wurde (‚Macht aber keine Fisimatenten‘).“

In der Tat ist diese Erklärung weit verbreitet, wobei allerdings die Angaben schwanken, welcher Krieg das ge­we­sen sein soll. Vom deutsch-französischen Krieg 1870/71 ist die Rede, vom siebenjährigen Krieg im 18. Jahr­hun­dert, aber auch schon vom Kölner Bistumsstreit und vom pfälzisch-orléans’schen Erbfolgekrieg Ende des 17. Jahrhun­derts, als Ludwig XIV. das Rheinland bzw. die Kurpfalz verwüsten ließ. Alternativ liest man, wenn ein französischer Soldat etwas angestellt hatte und zu seinem Vorgesetzten beordert wurde, sei das mit den Worten „Visitez ma tente“ („Besuchen Sie mein Zelt“) erfolgt.

Neben der Zelt-Geschichte findet sich auch noch die Erklärung, die Ausrede „Je viens de visiter ma tante“ („Ich habe gerade meine Tante besucht“) hätten französischen Soldaten ihren Offizieren gegenüber gebraucht, wenn sie abends zu spät ins Quartier zurückgekommen seien.

So amüsant dergleichen auch sein mag: Die Herleitung ist falsch (ebenso wie die Schreibung Fiesematenten: mit fies hat das Wort ebenfalls nichts zu tun). Befragt man die Quellen, so finden sich zahlreiche Belege schon im 16. Jahrhundert; der früheste bekannte stammt sogar aus dem Jahr 1499. Viel wahrscheinlicher ist daher eine Ver­bin­dung mit dem mittelhochdeutschen Wort visament oder fisiment, das so viel bedeutete wie ›Schnörkel, bedeutungs­loser Zierrat am Wappen‹ (zu dem mittelhochdeutschen Verb visieren ›Wappenfiguren ordnen und beschreiben‹). Möglicherweise ist später noch eine Überlagerung mit dem lateinischen Ausdruck visae patentes (›gesehene, ge­prüfte Dokumente‹) erfolgt. Diese Möglichkeit liegt nicht nur deshalb nahe, weil Behörden immer schon umständlich waren und Schwierigkeiten machten, sondern vor allem, weil in etlichen frühen Belegen für Fisimatenten Schrei­bun­gen wie Visipatenten oder Fisepatenten begegnen.

Grammatisch ist noch zu erwähnen, dass Fisimatenten ein so genanntes Pluraletantum ist: Das Wort gibt es nur in der Mehrzahl. Offenbar kommt ein Unfug selten allein.    ⋄    Jochen A. Bär

(16) 16. Januar – Respekt

Die Klasse 4c der Overbergschule in Vechta hat zusammen mit ihrer Lehrerin Frau Schröder nachgedacht und das Wort Respekt für unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ vorgeschlagen. Ihre Begründung lautet: „Im Sachunterricht haben wir uns mit den ‚Kinderrechten‘ beschäftigt und uns dabei unter anderem lange mit dem Thema ‚Respekt‘ auseinandergesetzt: wie wichtig es ist, respektvoll miteinander umzugehen und allen und allem mit Respekt zu begegnen. Viele aus unserer Klasse spielen Fußball – da ist es auch sehr wichtig: Respekt im Team. Und manch­mal haben wir dann auch gehörigen Respekt vor den Gegnern. Das Wort Respekt ist auch ein Lob: ‚Wow, Respekt!‘“

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Respekt! Die Kinder haben sehr genau die verschiedenen Gesichtspunkte der Wortbedeutung herausgearbeitet. Respekt bedeutet ursprünglich und im engsten Sinne, dass man auf jeman­den oder etwas Rücksicht nimmt: Es kommt vom lateinischen respicere (›zurückschauen, rückwärts blicken, sich umsehen‹) – spicere oder (in der Grundform) specere bedeutet ›schauen, betrachten‹, die Vorsilbe re steht für ›zurück‹. Wer auf jemanden oder etwas Rücksicht nimmt, tut das, weil er bereit ist, den Anderen oder das Andere in seinem Anderssein ernst zu nehmen und zu akzeptieren. Bildlich gesprochen: Man geht nicht einfach stur seinen eigenen Weg geradeaus, sondern man blickt sich um, ob die anderen nachkommen, und wenn jemand langsamer ist als man selbst, dann ist man bereit, auf ihn zu warten.

Respekt, Achtung, hat man insbesondere vor jemandem, den man aufgrund besonderer Leistungen bewundert. Auf ihn blickt man dann nicht zurück, sondern man blickt zu ihm auf bzw. geht, um den Blickwinkel flacher zu machen, respektvoll auf Abstand. Respekt! kann in diesem Zusammenhang auch als Lob gebraucht werden. Und da die Grenzen zwischen Bewunderung, Ehrfurcht und Ehrerbietung fließend sind, konnte man das Wort früher sogar als Grußformel verwenden. So war es im österreichisch-ungarischen Militär üblich, einen Vorgesetzten mit Respekt zu grüßen: „Respekt, Herr Oberst!“

In der Alltagssprache weitgehend unbekannt ist eine fachsprachliche Verwendung des Wortes Respekt, die im Schrift- und Verlagswesen und in der Kunstwissenschaft begegnet. Hier steht unser Wort für den frei gelassenen Rand einer Buch- oder Briefseite, eines Kupferstichs o. Ä.    ⋄    Jochen A. Bär

(17) 17. Januar – und

Was liegt zwischen Himmel und Hölle? Was verbindet Freund und Feind? Was steckt in Mund und Schlund? – Das und.

Was täten wir ohne das und? Wir könnten nicht verknüpfen, nicht vergleichen (lang und kurz, groß und klein) und noch nicht einmal zwei und zwei zusammenzählen. Es gäbe nicht Kind und Kegel, nicht Adam und Eva, nicht Max und Moritz und nicht Winnetou und Old Shatterhand.

„UND, conjunction“ steht lapidar im Deutschen Wörterbuch der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm – und dann fol­gen zwölf eng bedruckte und großformatige Seiten zur Geschichte und Verwendung des Bindewortes. Acht ver­schiedene Verwendungsweisen mit insgesamt 42 Unterbedeutungen zählt der „Grimm“. Und und und ist nämlich keineswegs das Gleiche. Während es z. B. unerheblich ist, ob man fünf und drei oder drei und fünf addiert, ist es ein Unterschied – und unter Umständen ein schmerzvoller –, ob ein Cowboy zieht und schießt oder schießt und zieht.

Doch das kleine und hat noch mehr zu bieten. Auf der Liste der häufigsten deutschen Wörter nimmt es einen stol­zen dritten Platz ein, gleich nach den Artikeln die und der. Auf einer normalen Seite einer Tageszeitung kommt und ca. fünfzigmal vor – und genau fünfzigmal erscheint es auch im vorliegenden Beitrag (ohne Überschrift). Ein populäres Wort fürwahr. Und fest verankert im allgemeinen Bewusstsein. Wer erinnert sich nicht der Rechtschreibregel: „Kein Komma vor und in der Aufzählung“?

Ja, und wer hätte es gedacht: 251 verschiedene Wörter reimen sich auf und. Dabei sind natürlich alle mögli­chen Zusammensetzungen mitgezählt; betrachtet man nur die Grundwörter, so sind es immerhin noch ganze 25: Bund, bunt, fekund (›fruchtbar‹), Fund, furibund (›tobsüchtig‹), gesund, Grund, Hund, Korund, kund, Leumund, mo­ri­bund (›todgeweiht, sterbend‹), Mund, Pfund, profund, rund, Schlund, Schrund, Schund, Schwund, Spund, Sund, Vagabund, Vormund und wund. – Leumund und Vormund sind keine Zusammensetzungen mit Mund, sondern eigenständige Wörter mit jeweils anderer Herkunft.

Wie oft kann und hintereinander in einem sinnvollen Satz stehen? Ohne weiteres dreimal: „Und und und ist keineswegs das Gleiche.“ Und mit etwas Phantasie sogar fünfmal: „Ein Obst- und Gemüsehändler erklärte dem Maler, der ihm ein neues Ladenschild anfertigen sollte, er hätte gern jeweils größere Zwischenräume zwischen Obst und und und und und Gemüse.“

Finden Sie einen sinnvollen Satz, in dem und noch öfter unmittelbar hintereinander vorkommt? Schicken Sie ihn bis zum 31. Januar 2014 an sprachauskunft@uni-vechta.de. Die drei originellsten Einsendungen werden mit je einem Buchpreis belohnt. Ebenso das schönste Gedicht mit allen 25 Reimwörtern.    ⋄    Jochen A. Bär

(18) 18. Januar – verzetteln

Der Einsender des Ausdrucks verzetteln, Reinhard Sundermann aus Bakum, hat listigerweise gleich zwei Wörter zur Behandlung in dieser Kolumne vorgeschlagen. Verzetteln bedeutet nämlich zum einen ›für einen (Zettel-)Kasten gesondert auf einzelne Zettel oder Karten schreiben‹, zum anderen bedeutet verzetteln so viel wie ›planlos und unnütz für vielerlei Kleinigkeiten verbrauchen, mit vielerlei Unwichtigem verbringen‹ („seine Kraft oder Zeit an oder mit etwas verzetteln“, „sein Geld verzetteln“). In dieser zweiten Bedeutung ist vor allem der Ausdruck sich verzetteln (mit Reflexivpronomen) präsent: „du verzettelst dich zu sehr; sich in oder mit seinen Liebhabereien verzetteln“ (die Definitionen und Beispiele sind dem Duden-Universalwörterbuch entnommen).

Während also das erste verzetteln einen deutlichen Bezug zum Substantiv Zettel hat, liegt beim zweiten verzetteln kein solcher vor, wird aber, wie eine kleine Umfrage ergab, von Sprechern gern hergestellt: Wenn man sich verzettelt, so war zu hören, ist es so, als ob man seine Tätigkeiten oder Vorhaben auf Zetteln notiert, die planlos um einen herumliegen. Sprachgeschichtlich jedoch geht, wie aus Pfeifers „Etymologischem Wörterbuch“ zu erfahren ist, das zweite verzetteln zurück auf ein früh verloren gegangenes Verb zetten mit der Bedeutung ›streuen, verstreuen, ausbreiten‹; verzetten bedeutete so viel wie ›zerstreut fallen lassen, verlieren‹. Von diesem Verb ist verzetteln unter Hinzufügung eines el abgeleitet (16. Jh.), so ähnlich wie lächeln von lachen oder hüsteln von husten. Es erlangte die Bedeutung ›vergeuden, vertun‹ (17. Jh.), in reflexivem Gebrauch ›seine Kräfte zersplittern‹ (19. Jh.). Ebenfalls mithilfe von el wurde von zetten das Substantiv Zettel abgeleitet, das mit unserem ersten Zettel (übrigens ein Lehnwort aus dem Lateinischen) nur die Form, nicht aber die Bedeutung teilt und das den meisten Gegenwartssprechern nicht mehr bekannt ist. Dieser Zettel ist ein Begriff aus der Weberei, wo er den ›bei einem Gewebe in Längsrichtung verlaufenden Garnfaden‹ (auch Kette genannt) bezeichnet. Hierzu gehört das Verb anzetteln mit der Ursprungsbedeutung ›den Aufzug eines Gewebes auf dem Webstuhl einrichten‹, dann im übertragenen Sinn ›anstiften‹.

Verzetteln und Zettel sind beides Homonyme, Wörter, die der Form nach gleich sind, aber unterschiedliche Bedeutungen tragen, die nichts miteinander zu tun haben. Solche Ausdrücke eignen sich gut für anzügliche Witze, aber auch für Buchtitel wie etwa „Zettel’s Traum“, Arno Schmidts Monumentalwerk von 1970 (1334 DIN-A3[!]-Seiten dick, über acht Kilo schwer). Der Autor spielt damit zum einen auf seine Arbeitsmethode an: In Kästen geordnete Zettel (insgesamt um die 120.000 Stück) mit Formulierungseinfällen, Zitaten, Zeitungsausschnitten und dergleichen mehr sind hier zu einem Text, einem „Gewebe“, montiert, „verwebt“. Zum anderen Shakespeares „Sommernachtstraum“: Dort ist Niklaus Zettel (so der Name von Nick Bottom in deutschen Übersetzungen) ein tölpelhafter Weber, der sich als Schauspieler versucht und von einem Kobold in einen Esel verwandelt wird. Arno Schmidt wurde heute vor hundert Jahren geboren.    ⋄    Wilfried Kürschner

(19) 19. Januar – schofelig

Dr. Sigrid Heising hat das Adjektiv schofelig für unsere Reihe vorgeschlagen. Wenn man im zehnbändigen Du­den­wörterbuch nachschlägt, findet man unter dem entsprechenden Eintrag lediglich einen Verweis auf das Adjektiv schofel und erst dort dann die Erläuterung: ›in einer Empörung, Verachtung o. Ä. hervorrufenden Weise schlecht, schäbig, niederträchtig‹.

Die Verfahrensweise des Wörterbuchs zeigt zweierlei: Erstens sind schofelig und schofel gleichbedeutend; man muss daher die Erläuterung nicht zweimal hinschreiben. Und zweitens wird schofel als die Hauptvariante ange­se­hen, schofelig nur als die Nebenvariante – wäre es umgekehrt, so gäbe der Duden den Verweis von schofel auf schofelig.

Die Herkunft beider Wörter ist rasch erklärt: Sie stammen aus dem Rotwelschen (auch bekannt als „Gauner­sprache“), einer Mischung aus Gruppen- und Geheimsprache, die eine nicht geringe Anzahl von Wörtern aus dem Jiddischen entlehnt hat. Jiddisch ist eine Form der deutschen Sprache, die von den so genannten aschkenasischen (mitteleuropäischen) Juden seit dem Mittelalter gesprochen und geschrieben wurde und von einigen ihrer Nach­fahren bis heute gesprochen und geschrieben wird. Es weist enge Verwandtschaft mit dem Mittelhochdeutschen auf, enthält aber anders als dieses viele Wörter aus dem Hebräischen. Auch schofel bzw. schofelig gehört dazu: Hier liegt das jiddische schophol (›lumpig, gemein, niedrig‹) zugrunde, das auf ein gleichbedeutendes hebräisches Wort zurückgeht. Typische Verwendungsweisen lassen den Wortsinn gut erkennen: Jemand hat eine schofle Gesinnung, benimmt sich schofel(ig) oder zeigt sich in Geldsachen schofel(ig) (›in beschämender Weise kleinlich, geizig‹).

Die Frage ist nur: Wie kommt es zu der merkwürdigen Doppelung von schofel und der Erweiterungsform scho­felig? Die Bildung mit -ig ist typisch für Adjektive: lustig, traurig, würdig, kantig, holzig usw. In aller Regel ermöglicht das Suffix -ig die Ableitung eines Adjektivs aus einem Substantiv (lustig von Lust, traurig von Trauer usw.). Nun ist zwar schofel bereits ein Adjektiv und bräuchte daher das -ig eigentlich gar nicht. Aber offenbar hat man irgendwann daran gedacht, dass im Deutschen auf -el etliche Substantive enden (Bündel, Windel, Schnipsel, Teufel ...) und hat dann durch die typische Adjektivendung -ig deutlicher zum Ausdruck bringen wollen, dass schofel eben kein Substantiv ist, sondern ein Adjektiv. Doppelt genäht hält besser!    ⋄    Jochen A. Bär

(20) 20. Januar – Tohuwabohu

Nicht nur das in der gestrigen Sonntagsausgabe unserer Reihe erläuterte schofelig, sondern auch Tohuwabohu ist hebräischen Ursprungs. Das Wort ist offenbar sehr beliebt: Angelique Meyer (Lohne), Mareike Modrow (Oldenburg) und Jan Röttgers (Damme) haben es unabhängig voneinander für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen, und auch die Klasse 9fa des Gymnasiums Bersenbrück mit ihrer Lehrerin Anne Klaus. „Wir haben dieses Wort gewählt“, schreiben die Schülerinnen und Schüler, weil es sehr interessant klingt. Es bedeutet ›totales Durcheinander‹. Besonders faszinierend finden wir, dass sowohl die Silben als auch die Bedeutung des Wortes zusammengewürfelt sind. Das Wort bedeutet ›Chaos‹ und ist selbst ein wenig chaotisch.“

Die Jugendlichen beweisen Sprachgefühl. In der Tat ist Tohuwabohu ursprünglich gar kein Wort, sondern eine Wortgruppe, also „zusammengewürfelt“. Zugrunde liegt das hebräische tohû wạ vohû (die Schreibung zeigt: es sind drei Wörter), das ›Wüste und Öde‹ oder ›wüst und leer‹ bedeutet. Martin Luther hat so den Anfang des Buches Genesis übersetzt, wo die Formel tohû wạ vohû vorkommt: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“

Dass Wortgruppen – manchmal sogar ganze Sätze – zu Wörtern werden, ist nichts Ungewöhnliches. Man kennt beispielsweise Nacht-und-Nebel-Aktion, Vergissmeinnicht und Stelldichein; bei ihnen durchschaut man die Zusammensetzung sofort. Das für uns unverständlich „zusammengewürfelt“ wirkende Tohuwabohu hat dagegen etwas Undurchdringliches. Doch genau dadurch passt es besonders gut zum Ur-Dunkel und der Unordnung, woraus, der Genesis zufolge, Gott die Welt erschuf. Erst durch die Ordnung entsteht Sinn; vorher kann es nur Unverständlichkeit geben.

Martin Buber und Franz Rosenzweig haben versucht, das dunkel Befremdliche in ihrer Übersetzung deutlich zu machen, indem sie den hebräischen Text möglichst wörtlich wiedergeben: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.“ – Irrsal und Wirrsal: das bildet den Sinn und die reimartige Gestalt von tohû wạ vohû zugleich ab. Großartiger kann man nicht übersetzen!    ⋄    Jochen A. Bär

(21) 21. Januar – cool

Den coolen Typen meiner Generation – Jugendliche waren wir in den frühen 1980er Jahren – sei es gleich zu Be­ginn gesagt: Das Wort cool ist heutzutage kaum noch cool. Jugendsprache hat ja für Jugendliche vor allem den Zweck, sich von den Erwachsenen abzugrenzen. Das aber gelingt kaum mit einem Wort, das auch Erwachsene gebrauchen. Und wenn sie dann auch noch der Meinung sind, damit besonders locker rüberzukommen, dann ist das mega uncool (hätten wir damals gesagt).

Der Sprachgebrauch von Jugendlichen ist in der Regel überaus schnelllebig; kaum ein Wort, das es schafft, ins Wörterbuch der Allgemeinsprache aufgenommen zu werden, hat große Chancen, danach noch als jugendsprach­lich im engeren Sinne zu gelten.

Eben dies ist dem Adjektiv cool widerfahren: Es steht im Wörterbuch. Und zwar im Flaggschiff der Dudenredaktion, dem zehnbändigen Bedeutungswörterbuch (nicht zu verwechseln mit dem bekannten einbändigen Rechtschreib­duden, der, wie der Name sagt, vor allem über die Orthographie informiert). Für cool, das er als „salopp“ kenn­zeich­net, setzt der große Duden vier Wortbedeutungen an: erstens ›kühl und lässig, gelassen‹ (die Grundbedeutung des englischen cool ist ja ›kühl‹; man soll cool bleiben, das heißt sich nicht aufregen); zweitens ›keine Gefahren ber­gend, risikolos, sicher‹ (z. B. die coolste Art, den Stoff über die Grenze zu bringen); drittens ›keinen, kaum Anlass zur Klage gebend, durchaus annehmbar, in Ordnung‹ (coole Eltern schaffen es zumindest ab und zu, ihren Spröss­lin­gen nicht auf die Nerven zu gehen oder peinlich zu sein); viertens ›in hohem Maße gefallend, der Idealvorstellung entsprechend‹ (z. B. echt coole Musik).

Dies alles, wie gesagt, ist saloppe Allgemeinsprache – auch bei der Klasse 1b der Kardinal-von-Galen-Schule in Dinklage, die das Wort vorgeschlagen hat: „Schule ist cool“, finden die Kinder. Die echte Jugendsprache hat dort, wo es darum ging, cool (im Sinne der ersten und/oder der vierten Bedeutung) zu sein, das Wort cool seit Jahren eher vermieden. Zur Bekundung von Wohlgefallen dienten zumindest zeitweise Ausdrücke wie voll krass oder voll phat, d. h. englisch fat (›fett‹) in absichtlich falscher Schreibung: Hauptsache unangepasst.

Auch „Bleib cool, Mann!“ sagen Jugendliche, die auf sich halten, kaum noch. Heutzutage heißt es für ›reg dich nicht auf‹ oder ›gib nicht so an‹: „Chill mal die Base [gesprochen: Bäis], Alder!“ (vor wenigen Tagen mit eigenen Ohren vernommen in der Nordwestbahn). In mehr oder weniger wörtlicher Übersetzung: Bring deine Basisfunktionen auf eine niedrigere Temperatur. Der Grundgedanke des Kühlseins ist also durchaus erhalten geblieben.    ⋄    Jochen A. Bär

(22) 22. Januar – tentativ

bedeutet ›probeweise‹ oder ›versuchsweise‹. In den Wörterbüchern wird es in der Regel als „bildungssprachlich“ gekennzeichnet, und in der Tat, das ist es. Viele Menschen verstehen das Wort nicht. Im Februar 2005 schreibt jemand unter dem Namen „Lollo“ im Internet: „Da hat einer tentativ einen Link auf meine Webseite gesetzt. Zitat: ‚Wir haben tentativ einen Link zu Ihrer Webseite in unsere Liste von Partnerlinks aufgenommen. Bitte lassen Sie es uns wissen, falls Sie eine Veränderung an dem Eintrag wünschen.‘“ „Lollo“ fragt in die Online-Runde, ob jemand das Wort erklären kann; das geschieht postwendend mit einem Hinweis auf den Fremdwörter-Duden; „Lollo“ dankt für die Auskunft: „Ah, jetzt versteh ich. Der hat mal so zur Probe meinen Link auf seine Linkliste gesetzt und wenn ich ihn nicht zurücklinke, dann macht er ihn wieder weg. Ist ja ganz schön umständlich. Tentativ den Link draufmachen – Mail wegschicken – warten – merken, dass keine Antwort kommt – Link wieder entfernen! Manche Leute haben einfach zu viel Zeit, um tentativ tätig zu werden.“

Tentativ kommt vom lateinischen Verb tentare oder temptare (›betasten, befühlen, berühren, untersuchen, prüfen, versuchen, ausprobieren‹). Man mag sich schon fragen, wozu es ein ausgefallenes Fremdwort braucht, wenn man doch mit probeweise oder versuchsweise zwei allgemein verständliche Adjektive zur Verfügung hat. Mancher Sprach­fuchs könnte jetzt antworten, dass probeweise und versuchsweise gar keine Adjektive, sondern Adverbien sind, man könne sie also nicht flektieren („beugen“), und daher könne man zwar sagen „ich studiere mal probeweise Deutsch“, aber nicht „mein probeweises Deutschstudium“. Solche Einwände sind gegen Wortbildungen mit -weise (ansatz­weise, ersatzweise, kreuzweise, zeitweise ...) immer wieder vorgebracht worden; noch nie hat sich aber irgend­jemand darum tatsächlich gekümmert. Selbst Goethe, der die deutsche Sprache bekanntlich beherrschte, schreibt in seinen Maximen und Reflexionen über das Alter, es sei ein „stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung“.

Das Wort tentativ braucht man also nicht zum Ersatz. Trotzdem ist es nicht überflüssig. Denn es hat einen schö­nen Klang (regelmäßig wechselnde Betonung, drei verschiedene Vokale kontrastieren mit dem dreimaligen t), und wenn man es kennt, versteht man leichter Französisch oder Englisch. Beide Sprachen kennen das Wort in gleicher Bedeutung wie im Deutschen: tentatif bzw. tentative. Man versteht auch die eigene Literatur besser, z. B. Nietzsche, der mehrfach das feminine Substantiv Tentative (›Versuch‹) verwendet. Und überhaupt: Was spricht eigentlich gegen Bildung?    ⋄    Jochen A. Bär

(23) 23. Januar – brav

Das Adjektiv brav ist eines der spannendsten deutschen Wörter. Es hat eine Geschichte durchlaufen, die nur wenige Wörter aufweisen können: eine Wandlung seiner Bedeutung hin zum Gegenteil dessen, was es ursprünglich be­deu­tete.

Wir wissen, was brav heutzutage bedeutet: ›gehorsam, artig, bieder‹ (ein braves Kind, eine brave Frisur). Doch ehemals hieß es ›wild, grausam, ungesittet, barbarisch‹. Es kommt vom lateinischen barbarus, das so viel wie ›Fremder, Ungesitteter, Rohling‹ bedeutete. Dieses wiederum geht auf das Griechische zurück; hier bedeutete es ursprünglich so viel wie ›unverständlich (nämlich nicht griechisch) Sprechender‹. Die alten Griechen ahmten das vermeintliche Gebrabbel der Fremden durch eine Lautwiederholung (bar-bar) nach – so wie man noch heute das Gemurmel einer größeren Menschenmenge mit Rhabarber, Rhabarber nachäfft. – Falsch ist die ebenfalls hier und da zu findende Erklärung, Barbar komme vom lateinischen barba (›Bart‹), weil die Römer Leute, die sich nicht rasierten, als unrömisch empfanden.

Aus römischer Sicht waren die Barbaren in aller Regel die Nordleute, also die Kelten und die Germanen. Vor allem letztere wurden wegen ihrer bedingungslosen Tapferkeit bewundert (viele von ihnen machten in der Spätantike und in der Völkerwanderungszeit Karriere in der römischen Armee), so dass das Adjektiv barbarus die Bedeutung ›mutig, tapfer, wacker, tüchtig‹ annahm. In verschiedenen romanischen Sprachen, z. B. im Italienischen und im Spanischen, wandelte sich die Lautgestalt von barbarus über brabus bzw. bravus zu bravo. Und Bravo! (eigentlich: ›guter, tüchtiger Mann!‹) rufen wir heute noch, wenn jemand etwas gut gemacht hat. Bei Frauen müssten wir, da bravo die männliche Form ist, eigentlich, so wie es auch die Italiener tun, brava! rufen und in der Mehrzahl bravi! bzw. brave! Ein braver Soldat ist ein ›tapferer‹, und wenn jemand etwas mit Bravour (›meisterlich‹) tut, so steckt auch darin noch die Bedeutung der Tüchtigkeit und Tapferkeit, ebenso wie im englischen brave. Im Spanischen hat sich sogar die ganz alte Bedeutung des Barbarischen noch gehalten; hier ist ein bravo ein Räuber oder ein gedungener Meuchelmörder.

Im Deutschen hingegen hat man bei ›tüchtig‹ offenbar insbesondere an die Tugenden des guten Untertanen gedacht. Daher ist jemand, der sich so verhält, wie es der Obrigkeit, den Vorgesetzten, Eltern oder Lehrern genehm ist, brav. Unserer heutigen, auf Individualität und Unangepasstheit fixierten Zeit gilt das als bieder und langweilig, und so assoziieren wir mit brav nicht mehr ›wild‹, sondern eben das Gegenteil. Sprache ist nicht logisch; aber man versteht sie, wenn man ihre Geschichte kennt.    ⋄    Jochen A. Bär

(24) 24. Januar – Felleisen

Ein merkwürdiges Wort: Felleisen. Was soll das sein? Ein Stück Eisen mit Fell daran? Etwa eine Bügelfalle für Pelztiere?

Wenn man die deutsche Literaturgeschichte durchforscht, so findet man eine Reihe von Wortbelegen. In Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Roman Der abenteuerliche Simplicissimus (1669) legt jemand sein Geld „in ein grosses Velleysen“. Der katholische Prediger Abraham a Santa Clara (mit bürgerlichem Namen Johann Ulrich Megerle) berichtet Ende des 17. Jahrhunderts, dass Soldaten eine Kirche ausgeraubt und die Monstranzen „in einem Felleisen“ weggebracht haben. In Bettine von Arnims Briefroman Clemens Brentano’s Frühlingskranz (1844) heißt es, jemand wolle sich „ein weißseiden Felleisen“ anfertigen lassen, um „Dankbriefe“ zu verpacken. Weitere Textstellen sprechen von „Koffer und Felleisen“ (Ludwig Börne), „das Felleisen abschnallen“ (Joseph von Eichen­dorff), „unter dem Mantel ein Felleisen tragen“ (E. T. A. Hoffmann), „ein schweres Felleisen auf dem Rücken tragen“ (Gottfried Keller) oder „Mantelsack und Felleisen“ (Hugo von Hofmannsthal). Offenbar ist demnach ein Felleisen ein Gepäckstück.

Ein Blick in die Wörterbücher gibt weiteren Aufschluss: ›Rucksack, Tornister‹ nennt der große Duden, der das Wort zudem als „veraltet“ kennzeichnet, als Bedeutung; die Erläuterung ›lederner Reisesack, Tornister, Satteltasche‹ findet sich im Etymologischen Wörterbuch von Kluge. Die ältere Form lautete Felles oder Fellis, und an ihr erkennt man eher die Herkunft des sonderbaren Substantivs. Offenbar geht es zurück auf das mittellateinische valixia oder valisia (›Satteltasche‹), das auch dem französischen valise (›Koffer‹) zugrunde liegt. Weiter zurückführen lässt sich die Wortgeschichte über lateinisch vidulus ›geflochtener Korb‹ bis zum Verb viēre (mit langem, betontem e nach dem i), das ›binden, winden, flechten‹ bedeutet. Verwandt sind das deutsche weich (ursprünglich: ›nachgiebig, biegsam‹) und Weide (der Baum, benannt nach der Eignung seiner biegsamen Zweige für Geflechte, insbesondere für Körbe).

Wie man sieht, ist bei manchen Wörtern die vermeintlich offensichtliche Herleitung (hier: Fell + Eisen) keineswegs die zutreffende. Man muss auch in diesem Fall die Geschichte der Sprache kennen, um ihre gegenwärtige Form zu begreifen.    ⋄    Jochen A. Bär

(25) 25. Januar – spärlich

„Irgendwie klingt das Wort spärlich elegant“, findet Hannes Fath aus Goldenstedt: „Man liest es eher selten. Wenn jemand einen spärlichen Haarwuchs hat, hört sich das an, als habe der liebe Gott bei ihm mit Haaren gespart.“

Es stimmt: spärlich hängt mit sparen zusammen. Schon im Althochdeutschen gab es das Wort sparalihho – die Betonung liegt auf der ersten Silbe, das doppelte h wird wie ch gesprochen –, eine Adverbialbildung zu dem Adjektiv spar (›sparsam, knapp‹). Das Verb sparen seinerseits bedeutete ursprünglich so viel wie ›schonen, bewahren, aufheben‹, verwandt ist wohl das lateinische parcere (›schonen‹: es fehlt das anlautende s). Man spart (›schont‹) sein Vermögen, wenn man es nicht ausgibt, sondern beisammen hält.

Ehemals bedeutete spärlich ›haushälterisch‹. Man schnitt spärlich vom Brot, teilte Nahrung spärlich aus oder ging spärlich mit etwas um. Diese Wortbedeutung hat sich nicht gehalten; wir verwenden in diesem Zusammenhang das jüngere Adjektiv sparsam, das erst in neuhochdeutscher Zeit aufgekommen ist.

Unter spärlich versteht man heute, dem großen Duden zufolge, zweierlei. Erstens heißt es so viel wie ›nur in sehr geringem Maße vorhanden‹ (z. B. in spärliche Reste, spärlicher Beifall, spärliche Vegetation; Nachrichten kommen und Geldmittel fließen gegebenenfalls spärlich; ein Raum kann spärlich beleuchtet und eine Person spärlich bekleidet sein). „Der Herbst kam und die Esplanade wurde licht von gelben spärlichen Blättern“, heißt es bei dem österreichischen Schriftsteller Peter Altenberg. Und Detlev von Liliencron schreibt: „Es war eine naßkalte, windige Winternacht mit spärlichem Monde“ (will sagen: der Mond leuchtete nur schwach).

Zweitens kennt man das Wort in der Bedeutung ›sehr knapp bemessen, kärglich, kaum ausreichend‹ (z. B. in spärliche Kost, spärliches Einkommen, spärliche Rationen; man kann spärlich leben oder essen). Ebenfalls hierher gehören Belege wie „spärliche Worte an jemanden richten“ (Gustav Freytag) „spärlich ausschreiten“ (Hugo Ball) oder etwas „spärlich durchschauen“ (von Wilhelm Busch bezüglich Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft eingeräumt).

Besonders spärlich verwendet wird unser Adjektiv nicht: Die digitalen Textsammlungen des Instituts für deutsche Sprache bieten über 22.000 Belege, und im Internet findet man sogar über eine halbe Million. Aber immerhin: Der Deutschen Sprachstatistik von Helmut Meier zufolge kommt spärlich doch nur auf 0,0061 Promille des gesamten deutschen Wortschatzes. Zum Vergleich: Das häufigste deutsche Wort, der Artikel die, macht 3,2 Prozent aus, das häufigste deutsche Adjektiv (viel) 0,68 Prozent.    ⋄    Jochen A. Bär

(26) 26. Januar – Satz

Bedenkt man, was alles ein Satz ist – erstens eine aus mehreren Wörtern bestehende, in sich geschlossene sprachliche Einheit, die eine Aussage, Frage oder Aufforderung enthält, zweitens eine aus einem oder mehreren Sätzen bestehende wissenschaftliche oder philosophische These (so in der Wendung einen Satz beweisen, anfechten, widerlegen oder auch im Satz des Pythagoras), drittens der Drucksatz, das Setzen eines Manuskripts (z. B. in „der Artikel geht heute noch in den Satz“), viertens das Ergebnis der Arbeit des Setzers (z. B. in „der Satz ist unsauber und muss korrigiert werden“), fünftens in der Musik ein in sich abgeschlossener Teil oder Abschnitt eines Konzerts, einer Symphonie, einer Sonate oder Suite, sechstens der Tonsatz, die Kompositionsweise eines Musikstücks (z. B. ein polyphoner oder kontrapunktischer Satz), siebtens ein in seiner Höhe festgelegter Betrag oder Tarif (z. B. in Zinssatz oder Steuersatz oder in Fügungen wie einen ermäßigten Satz zahlen), achtens eine bestimmte Anzahl zusammengehöriger Gegenstände (z. B. ein Satz Schraubenschlüssel, Reifen oder Briefmarken), neuntens in der Jägersprache die auf einmal geborenen Jungen bei Hasen oder Kaninchen (der Satz besteht aus zwei bis vier Junghasen), zehntens im Fischereiwesen eine bestimmte Anzahl eingesetzter Jungfische (z. B. ein Satz Forellen oder Karpfen), elftens in der EDV eine Gruppe in bestimmter Hinsicht zusammengehöriger Daten einer Datei (Datensatz), zwölftens die Ablagerung am Boden eines Gefäßes (Bodensatz), dreizehntens im Badminton, Tennis, Tischtennis oder Volleyball ein Spielabschnitt, der nach einer bestimmten Zahl von gewonnenen Punkten beendet ist, und schließlich vierzehntens ein Sprung oder eiliger Schritt (jemand macht beispielsweise einen Satz über die Mauer) – bedenkt man all dies und vergisst auch nicht, dass es außer Einwortsätzen wie Danke, Ja oder Nein auch Satzwörter wie Vergissmeinnicht oder Stelldichein und Satznamen wie Leberecht oder Störtebeker (wörtlich: ›stürze den Becher‹) gibt, daneben selbstverständlich auch Nebensätze erster bis x-ter Ordnung bis hin zu den berüchtigten Schachtelsätzen: so ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich der Artikel Satz im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm über anderthalb eng gedruckte Seiten erstreckt und dass, wenn man all diese Informationen in einen einzigen Satz packen will, dieser ebenfalls ziemlich lang wird, mehr als fünf OV-Spalten füllt und sein Ende erst ganz am Ende erreicht. Punkt.    ⋄    Jochen A. Bär

(27) 27. Januar – links

„Manche meinen, lechts und rinks kann man nicht velwechsern“, heißt es bei dem Lyriker Ernst Jandl: „Werch ein Illtum!“

Wer als Autofahrer schon einmal neben einem Beifahrer gesessen hat, der im Brustton der Überzeugung mitteilt: „Da vorn musst du rechts abbiegen“ (und dabei gleichzeitig mit der Hand energisch nach links zeigt), weiß, was gemeint ist. Rechts ist da, wo der Daumen links ist, sagt man. Aber nützt es, wenn – nach Matth. 6,3 – die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut?

Die linke Hand gilt als die weniger gute Hand. In der Kindersprache heißt sie schlechte Hand und soll beim Begrüßen nicht gereicht werden. Geschieht dies doch einmal – aus Versehen oder im Krankheitsfall, wenn die rechte Hand nicht gegeben werden kann –, so hört man oft die Entschuldigung: „Links kommt von Herzen“. „Er hat zwei linke Hände“ sagt man, wenn jemand ungeschickt ist.

Links hängt mit link (›falsch, verkehrt, fragwürdig‹) und mit linkisch (›ungeschickt‹) zusammen, rechts hingegen mit recht (›richtig, geeignet, anständig‹). Beide Bezeichnungen drücken die unterschiedliche Bewertung der Körper­hälften klar aus. Im Mittelalter war das aber noch anders: Damals hieß die rechte die zesewe, die linke die winstere Seite. Das heute ausgestorbene Adjektiv zese ist verwandt mit lateinisch decet (›es ziemt sich‹); die rechte Hand war maßgeblich beim Schwur und beim Vertragsabschluss. Das ebenfalls ausgestorbene Adjektiv winster ist verwandt mit Wonne, Wunsch und gewinnen und stand ursprünglich für die ›günstigere‹ Seite: Links sitzt, wie gesagt, das Herz, und dem Volksglauben zufolge war es ein gutes Zeichen, wenn beispielsweise ein Tier von der linken Seite den Weg kreuzte. (Heute sieht man es umgekehrt: „Von links nach rechts bedeutet was Schlechts“, schreibt uns Simone Müller aus Visbek, die links für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen hat.)

Die Ersetzung der alten Bezeichnungen zese und winster durch rechts und links in mittelhochdeutscher Zeit zeigt einen Wandel der Weltwahrnehmung an. Der Mensch des frühen Mittelalters hatte genau genommen zwei gute Seiten, eine ›rechtliche‹ und eine ›günstige‹. Welche Folgen die später üblich gewordene Abwertung der linken Seite hatte (vermutlich ging sie einher mit dem Kampf der Kirche gegen die noch aus heidnischer Zeit stammenden Überzeugungen), davon können viele ein Lied singen: Bis mindestens in die 1970er Jahre hinein wurden Links­händer in der Grundschule zu Rechtshändern umerzogen: Mit links sollte man nicht schreiben. Diese barbarische Pädagogik, die mit schweren psychischen Belastungen für die Kinder einhergehen konnte, ist heute glücklicher­weise überholt.    ⋄    Jochen A. Bär

(28) 28. Januar – Verhau

„Das Wort Verhau“, schreibt mir mein Vechtaer Kollege Dieter Koch, „ist mir aus meiner Kindheit gut in Erinnerung, vor allem aus den Aufforderungen meiner Mutter, mein Zimmer aufzuräumen, meinen Verhau zu beseitigen.“ Darüber hinaus kennt er das Wort aus militärischem Zusammenhang, „etwa den Drahtverhau als militärische Sperranlage“, und aus dem Wander- und Fahrtenlied „Wilde Gesellen, vom Sturmwind durchweht“, wo es heißt: „Aber da draußen am Wegesrand, / Dort bei dem König der Dornen, / Klingen die Fiedeln ins weite Land, / Klagen dem Herrn unser Carmen. / Und der Gekrönte sendet im Tau / Tröstende Tränen herunter. / Fort geht die Fahrt durch den wilden Verhau, / Uns geht die Sonne nicht unter!“ – Könnte also mit Verhau, so fragt sich Dieter Koch, im übertragenen Sinne auch die allgemeine Unordnung einer Zeit gemeint sein?

Das Wort als solches kannte man schon in früheren Jahrhunderten. In Adelungs vierbändigem Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, dem besten Sprachwörterbuch der späten Aufklärungszeit (erschienen 1774–86), findet man folgende Erklärung: Verhau kommt „von dem Zeitworte verhauen“, das „durch Hauen versperren“ bedeutet, „wo man durch niedergehauene Bäume einen Ort versperret und unzugänglich macht. Einen Wald verhauen. Sich im Walde verhauen. Jemanden den Weg verhauen, eigentlich durch niedergehauene Bäume, figürlich aber auch für versperren überhaupt.“ Das abgeleitete Substantiv Verhau ist folglich nach Adelung „eine Versperrung von niedergehauenen Bäumen“.

Auch echtes (natürliches) Gestrüpp kann mit Verhau gemeint sein: So schreibt Adalbert Stifter von „Himbeer- und Brombeergehegen“ im Wald, „die einen Verhau machen“.

Kann somit das Wort für alles stehen, was jemandem den Weg versperrt – warum dann nicht auch für die Un­ordnung in einem Kinderzimmer? Und wenn man dann noch an nicht ganz naheliegender Stelle – nämlich unter dem Wort Kummer – bei Adelung nachsieht, findet man Bemerkenswertes: Kummer bedeutete ursprünglich ›Schutthaufen, Steinhaufen‹; eine Stadt in Kummer legen hieß sie zerstören – so wie es Vechta beim Oldenburger Überfall von 1538 erging. Die heute übliche Bedeutung von Kummer (›Sorge, Gram, Leid‹) leitet sich von der bild­li­chen Vorstellung her, dass jemandem eine drückende Last, ein „Steinhaufen“ auf der Seele liegt. Adelung kennt Kummer aber auch noch in einer anderen Bedeutung: „ein Verhau im Walde, ein Haufen gefälleter Bäume“. Wenn man dies weiß, so findet man wohl auch umgekehrt das Wort Verhau in der Bedeutung ›Kummer, bedrückende Lebensumstände‹, so wie in dem Wandervogel-Lied „Wilde Gesellen“, nicht verwunderlich.    ⋄    Jochen A. Bär

(29) 29. Januar – grauen

Sagt der Mann zu seiner Frau: „Als ich aus dem Fenster sah, graute der Morgen.“ Sagt die Frau: „Du meinst wohl dem Morgen.“ Dieser zugegebenermaßen nicht besonders originelle Witz arbeitet mit einem Sprachphänomen, das Professor Kürschner bei dem Verb verzetteln bereits in dieser Kolumne behandelt hat: der Homonymie. Zwei Wörter sehen dabei genau gleich aus, es handelt sich aber eben um zwei Wörter, nicht um zwei Bedeutungen eines und desselben Wortes.

Wer es nicht besser weiß, vermutet einen Zusammenhang, beispielsweise die Tatsache, dass jemand, der vor etwas Angst hat, eine blasse (›graue‹) Gesichtsfarbe zeigt. Noch im Mittelhochdeutschen konnte man aber grauen (›grau werden, dämmern‹: der Morgen graut) und grauen (›Schrecken empfinden‹: jemandem graut vor jemandem oder etwas) gut unterscheiden. Das erste lautete grawen (›grau werden‹, mit langem a), das zweite gruwen (›Angst haben‹, mit langem u).

Da man im späten Mittelalter keine einheitliche Rechtschreibung kannte – sie wurde erst 1901 eingeführt –, gab es mehrere Möglichkeiten, den Diphthong („Doppellaut“) au zu schreiben. Eine davon war aw (statt Baum konnte man Bawm schreiben). Folgte man dem Prinzip „Sprich, wie du schreibst“, so lag es nahe, jedes aw als „au“ auszusprechen, auch das in grawen; es erfolgte also ein Lautwandel.

Ein ganz anderer Lautwandel vollzog sich gleichzeitig an gruwen: die neuhochdeutsche Diphthongierung. Sie machte aus jedem lan­gen i der mittelhochdeutschen Zeit ein ei, aus jedem langen ü ein eu und aus jedem langen u ein au (mittelhochdeutsch min nüwes hus heißt heute mein neues Haus). So wurde auch das lange u in gruwen ein au, und da das w aus Gründen der leichteren Aussprache irgendwann wegfiel, hatte man nun zwei gleichlautende Wörter: grauen und grauen.

Die Sprachgeschichte kennt auch die umgekehrte Entwicklung: ein und dasselbe Wort kann sich, wenn es mehrere Bedeutungen hat, zu verschiedenen (homonymen) Wörtern entwickeln; oft ändert sich dann die Schrei­bung, damit man den Unterschied besser sieht. Dies geschah beispielsweise bei Statt (›Ort, Platz‹, z. B. in Werkstatt) und Stadt (›Ansiedlung, Ort, an dem viele Menschen zusammenleben‹) und bei Mal (›Fleck‹ z. B. in Muttermal, auch ›Punkt, Zeitpunkt‹, z. B. in einmal, zweimal) und Mahl (eigentlich ›Zeitpunkt, zu dem man isst‹, dann auch das Essen selbst). Man darf aber nicht alle unterschiedlich geschriebenen Wörter, die gleich klingen, so erklären: Ursprünglich verschieden sind beispielsweise Leib (›Körper‹) und Laib (›runde oder oval geformte Brot- oder Käsemasse‹). Sprachgeschichte ist dann doch komplizierter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.    ⋄    Jochen A. Bär

(30) 30. Januar – o. k., O. K., okay

Hermann Thöling aus Vechta lieferte bei seinem Vorschlag, das Wort in die Liste des OV-Wörterjahres auf­zu­neh­men, gleich eine Erklärung mit: In der Nachkriegszeit, als er Fahrer bei einem Colonel der britischen Besat­zungs­truppen war, habe er von diesem erfahren, dass es auf den Namen eines Deutschen zurückgehe, der nach der Einführung der Fließbandproduktion durch Henry Ford (1913) für die Endabnahme zuständig gewesen sei. Wenn Otto Kayser – so der Name des Kontrolleurs – das Endprodukt für in Ordnung befand, habe er es an passender Stelle mit seinem abgekürzten Namen markiert: O. Kay.

Dies ist eine von zahlreichen Geschichten, die zur Erklärung von okay im Umlauf sind und ganze Internetsites füllen. Halten wir uns an die Angaben in den Wörterbüchern. Zwar lesen wir im Duden-Universalwörterbuch, dass die Herkunft von okay unbekannt sei, doch in den einschlägigen englischen und amerikanischen Wörterbüchern erfahren wir etwas mehr. Nach dem „Shorter Oxford English Dictionary“ ist OK (wie man das Wort im Englischen auch schreiben kann) seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich und geht „wahrscheinlich“ auf die An­fangs­buchstaben des Ausdrucks orll korrect, einer scherzhaften Schreibung von all correct (›alles korrekt, in Ordnung‹), zurück. In der Kampagne zur Wiederwahl des amerikanischen Präsidenten Martin Van Buren im Jahr 1840 sei es populär geworden, und zwar durch einen Slogan, der auf Van Burens Spitznamen anspielte: Nach seinem Geburtsort Kinderhook (im Staat New York) wurde er Old Kinderhook genannt, abgekürzt O. K. oder OK: „OK is OK“.

Die Aussprache geht auf die englischen Namen der Buchstaben in den Abkürzungen, „ou“ und „käi“, zurück; okay stellt die dazugehörige Langform dar. Von Amerika aus ist das Wort als Zeichen für Einverständnis und Zustimmung, Präsenz und Aufmerksamkeit ganz allgemein, in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen, zunächst im Englischen, danach in fast allen Sprachen der Welt. Es tritt in drei Wortarten auf: als Reaktions- und Antwortpartikel („Kommst du mit?“– „Okay!“), als Adjektiv („Er ist okay“, alltagssprachlich auch: „ein okayer Typ“) und als Substantiv („sein Okay geben“).

Van Buren wurde seinerzeit übrigens nicht wiedergewählt. Der Slogan hätte also gut umgewandelt werden können in „OK is KO“. Doch war der Ausdruck k. o./(der) K. o. (so die Schreibungen im Deutschen) damals noch gar nicht bekannt. Er kam erst in den 1920ern als Abkürzung für den Knockout (auch Knock-out), also den Niederschlag beim Boxen, im Englischen in Gebrauch. Interessanterweise wird das Kurzwort k. o. im Deutschen nicht wie im Englischen „käi ou“ ausgesprochen, sondern mit den Buchstabennamen auf Deutsch: „kaa oo“. Ein schöner weiterer Beleg dafür, dass Sprachen, das heißt eigentlich: ihre Sprecher, nicht logisch und gleichförmig, sondern allzu oft „unlogisch“ und willkürlich verfahren.    ⋄    Wilfried Kürschner

(31) 31. Januar – Innigkeit

Dr. Helmut Gross (Universität Vechta) schlägt Innigkeit für unsere Reihe vor und bittet um sprachwissenschaft­li­che Erläuterung. Eine solche bieten verschiedene Wörterbücher der deutschen Sprache; neben dem Duden und dem Grimm’schen Wörterbuch zieht man mit Gewinn das Mittelhochdeutsche Wörterbuch von Matthias Lexer heran.

Zunächst kann man feststellen, dass Innigkeit eine Ableitung von dem Adjektiv innig ist, das es bereits in mit­tel­hochdeutscher Zeit gab. Es bedeutete ursprünglich so viel wie ›inwendig, innerlich‹ (ein inniger Schmerz war ein Schmerz der Seele, nicht des Körpers), dann auch ›andächtig, andachtsvoll, inbrünstig‹ (ein inniges Gebet). Der Zusammenhang ist klar: Man hält inne, konzentriert sich auf sein Inneres, hält Zwiesprache mit sich selbst oder mit Gott. Von hier aus ist auch die Bedeutungsnuance ›seelisch intensiv‹ (jemanden innig lieben) nicht mehr fern.

Das „edle Wort für tiefe Empfindungen“ (so das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm) war insbesondere im 18. Jahrhundert gängig; um seine Bedeutung noch inniger zu machen, setzte man häufig Herz, das Lieblingswort der Empfindsamkeit, davor: herzinnig. Dieses Wort ist dann so uneingeschränkt positiv konnotiert, dass es selt­sam wirkt, wenn man bei Ludwig Bechstein liest, der Teufel habe an etwas (konkret: an einem Kampf in einer Kir­che) „ein herzinniges Wohlgefallen“ gehabt.

Das Substantiv Innigkeit bedeutete früher ›Innerlichkeit, inneres Wesen‹ (der Mensch in seiner Innigkeit war der innere Mensch, die Seele des Menschen; es konnte aber auch ›Zurückgezogenheit, Privatheit‹ bedeuten: Von der kindebettes innekeit einer Frau ist in mittelhochdeutscher Zeit die Rede.

In diesen Verwendungen kennt man das Wort heute nicht mehr, wohingegen sich die Bedeutung ›Intensität des Gefühls‹ erhalten hat: Man kann jemanden mit Innigkeit lieben, jemandes Hände mit Innigkeit fassen, man kennt Innigkeit der Liebe oder des Gesangs. „Denn schau, ich wünsche mir mit großer Innigkeit, / Dein Ebenbild zu sein und so zur Dankbarkeit / Für dich gekreuzigt stehn“, schreibt Johannes Scheffler, bekannt als Angelus Sile­sius, in einem seiner geistlichen Lieder. Er verwendet auch die Mehrzahl („mit tausend Innigkeiten“), die sonst eher selten ist.

Innig und Innigkeit sind heutzutage im alltäglichen Gebrauch kaum noch anzutreffen. In einer Zeit, die so schnell­lebig ist wie unsere, hält man selten mehr inne, um sich auf sein Inneres zu besinnen; in einer Zeit, die vor allem cool sein will, scheinen innige Gefühle eher unangebracht. Schade eigentlich: Man sollte sich doch bisweilen daran erinnern, dass nicht nur äußere Werte zählen.    ⋄    Jochen A. Bär