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Germanistische Sprachwissenschaft

Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten

Das Jahr der Wörter

(60) 1. März – kurios

Ein kurioses Wort ist es, das Markus Meier aus Mühlen vorgeschlagen hat: das Adjektiv kurios selbst. Es bedeutet ›merkwürdig, sonderbar‹: ein kurioser Vorfall, eine kuriose Geschichte oder Idee, ein kurioses Erlebnis.

Kurios ist vielerlei auf der Welt und auch in der Sprache. Unter anderem gibt es oft klangliche oder gestaltliche Ähnlichkeiten von Wörtern, die miteinander nicht das Geringste zu tun haben. So beispielsweise auch kurios und kariös – auch wenn so mancher Zahnarzt beim Blick in so manchen Patientenmund das Wort kurios naheliegend finden könnte. Sehr wahrscheinlich ist das allerdings nicht, denn kurios ist eines der vielen schönen Wörter, die heute mehr und mehr außer Gebrauch kommen.

Noch im 19. Jahrhundert war es aber völlig gebräuchlich. „Der Mensch ist ein kurioses Tier“, heißt es bei Clemens Brentano. In den vom späten Mittelalter an bekannten Kuriositätenkabinetten oder auch Wunderkammern wurden Sammlungen seltener (und daher auch als seltsam angesehener) Gegenstände dem neugierigen Besucher präsentiert. Und ›neugierig‹ ist auch in der Tat die zweite – heute nicht mehr vorhandene – Bedeutung, in der kurios bekannt war. So wendet sich der Barockautor Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen an den „kuriosen Leser, der auch oft das geringste wissen will“.

Kurios ist entlehnt aus dem französischen curieux, dessen Lautgestalt in der älteren Schreibung kuriös noch gut erkennbar ist. „Ei, das wäre ich kuriös [›neugierig‹] gewesen, zu hören!“, schreibt Gotthold Ephraim Lessing. Die französische Vorlage ihrerseits kommt vom lateinischen curiosus (›sorgfältig, pedantisch, aufmerksam, wissbegierig, neugierig‹), und darin wiederum steckt lateinisch cura (›Sorge, Fürsorge, Pflege‹), das unter anderem dem deutschen Wort Kur (›Heilbehandlung‹) zugrunde liegt.

Kurios ist mithin ursprünglich jemand, der sich um etwas sorgt oder kümmert – insbesondere um anderer Leute Angelegenheiten und sonstige Dinge, die ihn nicht unmittelbar etwas angehen; und auch dasjenige, was eine solche Person interessiert, wird dann als kurios bezeichnet.    ⋄    Jochen A. Bär

(61) 2. März – Romantik

Martina Wiehebrink aus Holdorf hat Romantik für unsere Reihe vorgeschlagen. Zusammen mit dem Adjektiv romantisch gehört das Substantiv nicht nur zum Repertoire der Touristikbranche, sondern zum Wortschatz der gesamten Sprachgemeinschaft. Was es bedeutet, wissen alle so ungefähr. Die übliche Konnotation ist ›Gefühle (v. a. Liebe, Sehnsucht)‹.

Wie bei Alltagswörtern üblich, wird übersehen, dass das Wort ursprünglich ganz Anderes meinte. Es geht zurück auf ein altfranzösisch-mittelfranzösisches Substantiv romanz, roman(t), das so viel hieß wie ›galloromanische Volkssprache Nordfrankreichs, Altfranzösisch (im Unterschied zum Latein der Gelehrten)‹, das aber auch ein in dieser Sprache verfasstes erzählendes Gedicht in Versen oder – später – in Prosa meinen kann. Ende des 17. Jahrhunderts wurde das Adjektiv romantisch ins Deutsche übernommen. Hier hieß es ursprünglich ›wie im Roman: mannigfaltig, reich, abwechslungsreich, bunt, ausgefallen, bizarr, abenteuerlich, phantastisch‹ und wurde von Anfang an auch schon mit negativem Unterton verwendet: ›übertrieben, absurd, irreal‹, ja sogar ›lasterhaft, unanständig‹.

Im 18. Jahrhundert nannte man romantisch die „neuere“ oder „moderne“ Literatur und Kunst, worunter man die gesamte europäische Literatur und Kunst seit dem hohen Mittelalter im Unterschied zur „klassischen“ griechischen und römischen Antike verstand: Die provençalischen Troubadours und die Italiener Dante und Petrarca galten ebenso als romantisch wie der Engländer Shakespeare, die Spanier Calderón und Cervantes und die Deutschen Goethe und Schiller. Daneben hießen auch die Sprachen romantisch, in denen zuerst romantische Dichtung verfasst worden war: die aus dem Lateinischen hervorgegangenen Volkssprachen, die heute als romanisch bezeichnet werden. Und man konnte das Wort romantisch in analoger Weise als Adjektiv zu Roman verwenden wie lyrisch, episch und dramatisch in Bezug auf die Gattungstrias Lyrik, Epos und Drama. So spricht beispielsweise Goethe von romantischen Sujets (›Themen für einen Roman‹), Jean Paul von seinem romantischen Erstling (seinem ersten Roman), und Brentano leitet von der im 17. und 18. Jahrhundert beliebten Gattung des Schäferromans das Adjektiv schafromantisch ab.

Dass man unter Romantik eine bestimmte Epoche versteht, geht erst auf den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Romantiker hießen damals Autoren wie Brentano, Arnim und Görres, die sich nach Meinung von Kollegen allzu ausschließlich für mittelalterliche Literatur begeisterten und die klassische Antike nicht zu schätzen wußten; das Wort wurde später von den damit Gescholtenen als Ehrentitel adaptiert.    ⋄    Jochen A. Bär

(62) 3. März – YOLO

„Ist das eigentlich ein Wort? Na ja ... es ist auf jeden Fall ein Ausdruck, den man mindestens einmal an jedem Freitagabend hört. YOLO bedeutet ›You only live once‹, und man benutzt diesen Ausdruck, wenn man etwas Unüberlegtes, Leichtsinniges tun will, woran man Spaß hat. Es ist wahrscheinlich einer der verbreitetsten T-Shirt-Slogans und wird auch teilweise ohne jeden Zusammenhang gebraucht.“ Dies schreibt uns der Deutsch-LK des Gymnasiums Antonianum in Vechta zu YOLO.

„Wie bitte?“, fragen die Älteren und beklagen möglicherweise den Sprachverfall durch „die Sprache der Jugend“ und den Einfluss des Englischen auf das Deutsche. Das Akronym YOLO – Akronym bedeutet „Buchstabenkurzwort“: tatsächlich handelt es sich um ein Wort – ist nämlich „Jugendwort des Jahres“ 2012. Bereits seit 2008 kürt eine Jury des Langenscheidt-Verlags jährlich „Jugendwörter“. Gammelfleischparty (›Ü-30-Party‹) wurde 2008 gewählt, 2009 hartzen (›arbeitslos sein, rumhängen‹), 2010 Niveaulimbo (›das ständige Absinken des Niveaus‹), 2011 Swag (›beneidenswerte, lässig-coole Ausstrahlung‹) und 2013 Babo (›Boss, Anführer, Chef‹).

Laut Langenscheidt-Jury bedeutet YOLO so viel wie ›Nutze deine Chance!‹, ist also eine Art Lebensmotto. Wie weit verbreitet YOLO bei Jugendlichen ist, darüber erfährt man von der Jugendwort-Jury wenig. Und auch sonst erfährt man wenig darüber, weshalb die Wahl auf ein bestimmtes Wort fällt. Tiefe und authentische Einblicke in „die Jugendsprache“ scheint sie also nicht zu geben. Immerhin: YOLO ist ein Ausdruck, den etliche Jugendliche kennen (s. o.); Gammelfleischparty, so der Eindruck, kannte fast niemand.

Unabhängig davon, ob es sich bei der Jugendwörter-Wahl vielleicht nur um einen Marketing-Gag des Wörterbuchverlags handelt, kann man sich trotzdem über die Wahl freuen: Sie würdigt den kreativen Umgang mit Sprache sowie den Einfluss einer Kontaktsprache auf den deutschen Sprachgebrauch, statt beides als „Sprachpanscherei“ zu verurteilen. Das ist grundsätzlich begrüßenswert, denn wir haben durchaus eine kluge, weltzugewandte und sprachkompetente Jugend in Deutschland.

Und wo ist das Problem? Angenommen, „die Jugend“ würde statt YOLO die bildungssprachliche horazische Sinnformel Carpe Diem! – deutsch: genieße (eigentlich pflücke) den Tag! – durch das Akronym CD! abkürzen und in ihren Sprachgebrauch aufnehmen: Käme man auch bei einer solchen Wortschatzerweiterung auf die Idee, von einem Sprachverfall zu sprechen und vor dem Aufeinandertreffen von Einzelsprachen zu warnen?    ⋄    David Römer

(63) 4. März – Katerfrühstück

Ein Katerfrühstück ist keine Morgenmahlzeit für eine männliche Katze; und man frühstückt bei einem Katerfrühstück auch keinen Kater. Das weiß natürlich auch Alfred Kulhmann aus Ellenstedt, der den Ausdruck für unser „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen hat. Laut Wörterbuch ist das Katerfrühstück eine kräftige kleine Mahlzeit, meist mit saurem Hering und sauren Gurken (als Frühstück), die nach reichlichem Alkoholgenuss die Kopfschmerzen und sonstigen Nachwirkungen desselben vertreiben soll. Heute aus ganz aktuellem Anlass: Überall auf der Welt außer in Damme, wo man den Carneval bekanntlich schon eine Woche vorher feiert, war gestern Rosenmontag.

Kater bedeutet nicht nur ›Brummschädel‹, sondern steht überhaupt für die schlechte körperliche und seelische Verfassung nach (über)reichlichem Alkoholgenuss: Man kann einen Kater haben oder mit einem fürchterlichen Kater aufwachen oder auch seinen Kater spazieren führen (scherzhaft: ›versuchen, durch einen Spaziergang in frischer Luft das Befinden zu bessern‹). Man kann Kater aber auch ohne Bezug zu einem vorausgegangenen Alkoholkonsum verwenden: So spricht der Autor Max Frisch in seinem Roman Mein Name sei Gantenbein (1964) von Kater und meint damit jemandes durch ein schlechtes Gewissen bewirkte Niedergeschlagenheit.

Ebenfalls nichts mit Alkohol zu tun hat der bekannte Muskelkater, ein ziehender Schmerz in den Muskeln, der nach körperlicher Anstrengung auftreten kann. Früher wurde eine Übersäuerung des Muskels durch Milchsäure als Ursache angenommen, heute hingegen geht man davon aus, dass durch Überlastung kleine Risse (so genannte Mikrotraumata) im Muskelgewebe auftreten.

Doch wie hängt all das mit der männlichen Katze zusammen? Die Antwort ist einfach: gar nicht. Wieder einmal haben wir es mit dem Phänomen der Homonymie (Ausdrucksgleichheit) verschiedener Wörter zu tun. Kater in der hier vorliegenden Bedeutung hat einen völlig anderen Ursprung als das Wort für den Katzengatten: Es kommt vom griechischen Katarrh (›Entzündung der Schleimhäute, häufig der Atmungsorgane, die mit einer vermehrten Absonderung wässrigen oder schleimigen Sekretes verbunden ist‹, abgeleitet von griechisch katarrhein ›herab-, herunterfließen‹). Vermutlich wurde es in der Studentensprache des 19. Jahrhunderts ironisierend eingedeutscht. Die Symptome (Kopfschmerzen) bei einem Schnupfen und nach einem Saufgelage weisen ja durchaus gewisse Ähnlichkeiten auf.    ⋄    Jochen A. Bär

(64) 5. März – Strom

Egal, ob grüner Strom (auch Ökostrom) oder herkömmlicher: Strom ist aus unserem Alltag nicht wegzudenken. Wie jedes Kind weiß, kommt er aus der Steckdose, und wie jeder weiß, der ihn bezahlen muss, wird er immer teurer. Merkwürdig nur: Im Englischen kommt nicht stream aus der Steckdose, sondern power, obwohl das Englische mit stream die genaue Entsprechung des deutschen Strom kennt.

Beide Ausdrücke gehören derselben Wortfamilie an, ebenso wie das griechische Rheuma (eigentlich: ›das Fließen‹) und das russische ostrov (›Insel‹, eigentlich: ›das Umflossene‹). Sie alle leiten sich von einer indoeuropäischen Wurzel sreu (›fließen‹) ab, der Erweiterung einer Wurzel ser(e) (›strömen, sich rasch und heftig bewegen‹), die sich in Wörtern findet wie dem lateinischen serum (›Blutwasser, Lymphe; Impfstoff‹) und dem griechischen hormân (›in Bewegung setzen, antrei­ben‹), das wir in dem Wort Hormon kennen.

Strom bedeutet in mittelhochdeutscher Zeit zunächst ›schnell fließendes Wasser‹, unabgängig von der Größe (auch ein Bach konnte demnach als Strom bezeichnet werden), im Frühneuhochdeutschen dann ›großer Fluss mit starker Strö­mung‹ und im 18. Jahrhundert schließlich ›großer, breiter Fluss‹ (unabhängig von der Fließgeschwindigkeit). Daneben bleibt bis ins 19. Jahrhundert die Bedeutung ›Strömung, Fließen‹ erhalten, die auch beim englischen stream eine Rolle spielt. Unter anderem kennt man als erzählerisches Mittel der modernen Literatur den Stream of Consciousness (›Be­wusstseinsstrom‹, ein Dahinströmen von Gedanken und Assoziationen).

Strom für ›elektrische Energie‹ ist eine Metapher: eine übertragene Wortverwendung, die man im Deutschen seit dem 18. Jahrhundert kennt. Damals wurde die Elektrizität erforscht; man stellte sich das Phänomen als ein Fließen vor, so dass die Bezeichnung nahe lag. Im Englischen hatte man diese Vorstellung offenbar nicht, so dass es eine entsprechende me­taphorische Verwendung des Wortes stream nicht gegeben hat.

Ein Stromer übrigens ist niemand, der unter Strom steht. Das Wort für den Herumtreiber, Landstreicher oder Strolch kommt aus der Gaunersprache, dem so genannten Rotwelschen. Ob es mit dem mittehhochdeutschen strûmen oder strômen (›strömen, hin- und herfahren, stürmend einherziehen‹) und damit auch mit unserem Strom zusammenhängt, ist unklar. Es könnte auch von dem rotwelschen Wort Strom (›Bordell‹) abgeleitet sein, dessen Herkunft unbekannt ist.

Wie dem auch sei: Stromer ist heute kein gängiges Wort mehr; allenfalls sagt man es noch von oder zu seiner Katze.    ⋄    Jochen A. Bär

(65) 6. März – ambitioniert

Manche Pläne und Projekte sind ambitioniert: ein Universitätsstudium zum Beispiel. Ambitioniert bedeutet ›ehrgeizig, anspruchsvoll‹, und studieren ist eben dies: anspruchsvoll. Weil es an der Universität nicht damit getan ist, Dinge zu lernen, die einem jemand vorgibt, sondern weil man selbständig arbeiten muss. Weil man nicht nur mehr tun muss, als offiziell verlangt wird, sondern auch noch selbst herausfinden, was, und selbst entscheiden, wann. (Zwei Wochen vor der Prüfung ist zu spät, aber auch das muss man selbst herausfinden ...)

Es gibt im Studium nur sehr im Allgemeinen einen vorgezeichneten Weg. In Wahrheit bedeutet Studieren, sich intellektuell frei hin und her zu bewegen, gedanklich in Gebiete vorzudringen, die einem niemand „aufgegeben“ hat. Es bedeutet, Verbindungen herzustellen zwischen weit entfernten Wissensbereichen, ohne vorher gesagt zu bekommen, dass es dort Verbindungen gibt und welche das sein könnten.

Studieren bedeutet geistig beweglich und immer in Bewegung zu sein. Eben darin liegt der tiefere Sinn, Studieren als ambitioniert zu bezeichnen. Denn das Adjektiv, abgeleitet vom lateinischen ambitio (›Eifer, Ehrgeiz‹) bedeutet eigentlich ›das Umhergehen‹; in ihm stecken die beiden lateinischen Wörter amb (›um, herum‹) und ire (›gehen‹). In der römischen Republik musste jeder, der ein öffentliches Amt anstrebte, umhergehen und seine Verwandten, Freunde und Unterstützer um ihre Stimme bitten. Da die Ämter jährlich wechselten, war die ambitio ein alltägliches Geschäft für jeden, der politischen Ehrgeiz hatte, und so erklärt es sich, dass das Wort selbst die Bedeutung ›Ehrgeiz‹ annahm.

Die gleiche Herkunft wie Ambition und ambitioniert haben auch die Wörter Ambiente (›Umgebung‹, eigentlich: ›das um etwas Herumgehende‹) und ambitiös. Dieses Adjektiv bedeutet fast dasselbe wie ambitioniert, hat aber einen abwertenden Unterton: ›ehrgeizig, geltungsbedürftig‹. Wer ambitiös ist, hat also ebenfalls hohe Ansprüche, es ist aber aus Sicht der anderen zweifelhaft, ob er sie erfüllen kann.

Wer hingegen ambitioniert ist, sollte keine Angst vor kühnen Plänen haben. Auch und gerade nicht davor, ein Studium anzustreben. Denn bezogen auf Personen steht ambitioniert nicht nur für ›ehrgeizig und anspruchsvoll‹, sondern auch für ›strebsam‹, und Studium kommt vom lateinischen studere (die zweite Silbe ist betont und lang), das so viel bedeutet wie ›sich anstrengen, sich Mühe geben, fleißig sein‹. Was könnte besser zusammen passen?    ⋄    Jochen A. Bär

(66) 7. März – Bücherei

Die Bücherei: ein ganz wichtiger Ort. Sie ist für alle da – aber viel zu wenige gehen hin. Nicht so in Dinklage. Die Klasse 1b der dortigen Kardinal-von-Galen-Schule nennt als eines ihrer Lieblingswörter Bücherei. Denn „dort gibt es Spiele und DVDs“. Und: „Frau Greschner von der Bücherei ist nett.“

Das Wort Bücherei hat eine interessante Geschichte. Eigentlich nannte man einen Raum oder ein Gebäude, in dem viele Bücher waren, seit der frühen Neuzeit stets mit dem griechischen Fremdwort Bibliothek (wörtlich: ›Bücherlager‹). Damals konnten ja vor allem die Gelehrten lesen, und die beherrschten oft auch Griechisch. Das mussten sie auch, denn viele Bücher in den Bibliotheken waren ebenfalls auf Griechisch (und natürlich auf Latein: das konnte damals jeder, der studiert hatte). Was lag daher näher, als den Ort, wo es Bücher gab, mit einem griechischen Gelehrtenwort zu benennen?

Erst im 18. Jahrhundert fingen einige Leute an, sich an dem Fremdwort zu stören. Sie versuchten, eine „deutscher“ klingende Lehnübersetzung aus dem niederländischen boekerij – eben Bücherei – dagegen in Stellung zu bringen. Wörter auf -ei bezeichnen oft einen Ort, an dem es etwas Bestimmtes gibt oder an dem man etwas Bestimmtes tut – Bäckerei, Fleischerei, Gärtnerei usw. – so dass das Wort Bücherei leicht verständlich war. Dennoch hat es das ältere Bibliothek nie verdrängt. Vielmehr sind heute beide Wörter etabliert und es ist eine Bedeutungsdifferenzierung eingetreten. Bücherei nennen wir heute eine öffentliche Einrichtung, einen Ort, an dem es vor allem Bücher gibt, die man ausleihen kann. Eine Bibliothek hingegen ist eine systematische, nicht selten wissenschaftliche Sammlung von Büchern, gleich ob öffentlich oder privat, gleich ob groß oder klein, gleich ob Leih- oder Präsenzbestand.

Wie auch immer man ihn nun nennt: Ein öffentlicher Ort, an dem es Bücher gibt, ist ein wichtiger Ort. Denn solange man Bücher lesen kann, muss man nicht alles glauben, was einem andere weismachen wollen. Man kann sich eine fundierte eigene Meinung bilden. Dergleichen nennt man gemeinhin Bildung.

Auch in Vechta gehen übrigens Kinder in die Bücherei. Genauer gesagt: in die Universitätsbibliothek. Und zwar die Schülerinnen und Schüler der Grundschule Rechterfeld am heutigen Freitag. Mehrere Klassen der Schule hatten seinerzeit am Preisausschreiben „Jahr der Wörter“ teilgenommen und etliche Wörtervorschläge eingesandt. Die Kinder haben dabei einen Exklusivbesuch in der Universitätsbibliothek gewonnen, bei dem ihnen alles gezeigt wird. Ich hoffe, sie kommen wieder und bringen Familie und Freunde mit.    ⋄    Jochen A. Bär

(67) 8. März – Frau

ist ein Wort, das in mittelhochdeutscher Zeit noch eine engere Bedeutung hatte als heute. Frau bedeutete damals nicht ›erwachsener weiblicher Mensch‹, sondern ›erwachsener weiblicher Mensch adeligen Standes, Herrin, Edeldame‹. Die allgemeinere Bedeutung deckte im Mittelalter das Substantiv wîp (neuhochdeutsch Weib) ab, ein Wort, dessen Bedeutung aber im Laufe der Zeit immer negativer und abschätziger wurde. Heute kennt man Weib fast nur als verächtliche Bezeichnung oder als Schimpfwort. Da aber die Sprachgemeinschaft ein wertneutrales Wort für ›erwachsener weiblicher Mensch‹ weiterhin benötigte, nahm sie ihre Zuflucht zu dem Hochwertwort Frau (mittelhochdeutsch frouwe), in dessen Bedeutung die Komponente ›adelig‹ nach und nach verloren ging.

Das althochdeutsche Wort fro (›Herr‹), das wir nur noch in Frondienst (›Herrendienst‹) und Fronleichnam (›Leichnam des Herrn‹, d. h. Jesu Christi) kennen, weist auf die Herkunft von Frau, das ehemals sozusagen die weibliche Form dazu bildete. Die altnordischen Götternamen Freyr und Freya haben ebenfalls denselben Ursprung; sie bedeuten wörtlich ›Herr‹ bzw. ›Herrin‹. In der Wendung unsere liebe Frau (für die Jungfrau Maria) ist die alte Bedeutung ›Herrin‹ noch erhalten. Wie beispielsweise der Name der Vechtaer Liebfrauenschule zeigt, bildete Frau die Formen im Singular ursprünglich auf -en: Es geht bei „unserer lieben Frauen“ nicht um mehrere Frauen, sondern auch hier ist natürlich die Jungfrau Maria gemeint.

Zum Glück für die Menschheit besteht die Hälfte der Menschheit aus Frauen. In der Sprache spiegelt sich das nicht wieder. Die Häufigkeitsskala der deutschen Sprache verbucht Frau auf Rang 200 (das häufigste Substantiv ist Zeit auf Rang 90). Es kommt damit im allgemeinen Sprachgebrauch wesentlich seltener vor als das Wort Mann (Rang 146; der Häufigkeitsunterschied, betrachtet man die absoluten Zahlen, beträgt ca. 30 %) oder gar das Wort Herr, das Rang 119 einnimmt. Dass Frauen in der allgemeinen Sprache auch sonst zu kurz kommen oder gar verschwiegen werden, lässt sich an der immer noch verbreiteten Gewohnheit erkennen, männliche Formen auch dort zu verwenden, wo man nicht nur Männer meint. Man redet von Schülern, Studenten, Lehrern, Ärzten, Professoren. Freilich hat das grammatische Geschlecht, das Genus, mit dem natürlichen Geschlecht, dem Sexus, historisch nicht das Geringste zu tun. Aber neuere psycholinguistische Studien haben gezeigt, dass man bei Studenten, Lehrern, Professoren usw. eben doch in erster Linie an Männer denkt.

Heute ist Weltfrauentag. Gäbe es nur OV-Leser – ich vermisste die Hälfte meines treuen Publikums.    ⋄    Jochen A. Bär

(68) 9. März – Paradies

Das Paradies kennt jedes Kind: Adam und Eva wohnten dort und wurden daraus vertrieben, nachdem sie Früchte vom verbotenen Baum der Erkenntnis gegessen hatten. Das Paradies oder der Garten Eden war ein idyllisches Stück Erde, das Gott für das erste Menschenpaar als Wohnstätte geschaffen hatte. – Aber wenn man stirbt und ein guter Mensch gewesen ist, so erzählt man den Kindern, dann kommt man zu Gott ins Paradies. Das heißt in den Himmel.

Ja was jetzt? Garten Eden oder Himmel? Offensichtlich gibt es nicht nur ein einziges Paradies, sondern verschiedene. Viele Kinder sind intelligent genug, das zu bemerken, finden es verwirrend und fragen nach. In solchen Fällen ist es hilfreich, wenn man etwas über Herkunft und Bedeutung von Paradies weiß.

Es ist ein altes Wort, das man schon im Althochdeutschen kannte. Auch in anderen europäischen Sprachen findet man es: z. B. italienisch paradiso, spanisch paraíso oder französisch paradis. Es geht über kirchenlateinisch paradisus auf griechisch parádeisos (›Paradies‹, eigentlich ›Tiergarten, Park‹) zurück. Das Griechische wiederum bezieht das Wort aus dem Persischen pardez, avestisch (altiranisch) pairi-daeza (›Einzäunung‹).

Interessanterweise begegnet in der gängigsten deutschen Bibelübersetzung, der nach Martin Luther, das Wort Paradies nirgendwo im Alten Testament (dort ist nur vom Garten die Rede: Garten bedeutet ebenfalls ›eingehegter Bezirk‹). Das Paradies wird erst im Neuen Testament erwähnt, beispielsweise wenn Christus zu dem Übeltäter spricht, der mit ihm gekreuzigt wird: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ (Luk. 23,43.) Hier handelt es sich offenbar um eine übertragene Verwendung des Wortes: Kein wirklicher Garten ist gemeint, sondern das Jenseits, das Reich Gottes.

Man hat aber gleichwohl schon lange vor Luther den Garten Eden als Paradies bezeichnet: „got dô phlanzen began / ein boumgarten wolgetân / in wunneclîcher wîse, / den hiez er daz paradîse“, heißt es in einer mittelhochdeutschen Bibeldichtung („Gott begann dort einen schönen Baumgarten auf reizende Art zu pflanzen, den nannte er das Paradies“).

Die Diminutivform („Verkleinerungsform“) Paradieschen ist übrigens als Name für Ökoläden oder Biogärtnereien seit einigen Jahren recht beliebt. Dabei handelt es sich um ein Wortspiel; man denkt einerseits an den paradiesischen Garten, wo gesundes Gemüse und Obst wuchs, andererseits an „ein paar Radieschen“. Dass die mit dem Paradies nichts zu tun haben, versteht sich von selbst: Radieschen kommt von lateinisch Radix (›Wurzel‹) und ist ein völlig anderes Wort. Aber es klingt halt lustig ...    ⋄    Jochen A. Bär

(69) 10. März – Purzelbaum

Wieder so ein Wort, das von ferne aussieht wie eine Zusammensetzung aus zwei bekannten Wörtern, das sich aus der Nähe betrachtet aber als höchst eigenwilliges, ja irreführendes Wort erweist. Was für eine Art Baum ist denn der Purzel­baum, und was hat er mit purzeln oder gar dem Kater Purzel zu tun? Wenn man einmal die Bildungen, die auf -baum enden, durchgeht, stellt man ohne Überraschung fest, dass sie meistens eine spezielle Art von Bäumen bezeichnen: Apfelbaum, Kallebassenbaum, Nadelbaum und dergleichen mehr. Hier gilt: „AB ist B“, also „ein Apfelbaum, ein Nadel­baum ist ein Baum“.

Daher kann, wenn der Apfel- oder Nadelbaum in den Redezusammenhang eingeführt ist, danach kurz mit Baum auf ihn Bezug genommen werden („Gestern haben wir einen Apfelbaum geschlagen. Der Baum war zwei Meter hoch“). Nur solche Bildungen, die diese Bedingung erfüllen, kommen von vornherein als Zusammensetzungen oder Komposita in Betracht. Dies gilt schon nicht mehr für den Schlagbaum. Zwar kann bedeutungsmäßig ein Zusammenhang mit Baum hergestellt werden, aber moderne Schlagbäume sind Schranken, die nicht unbedingt wie ein Baumstamm aus Holz bestehen. Außerdem: Was genau bedeutet der vordere Bestandteil Schlag- in dieser Bildung?

Vollends kompliziert wird nun die Lage beim Wort Purzelbaum, für dessen Herkunft sich Ira Hempen aus Vechta interessiert. Ein Purzelbaum ist ja kein Baum, sondern eine ›Rolle nach vorn über den Kopf, das Kopfüberfallen, Überschlag auf dem Boden‹, wie die Definition in Pfeifers Etymologischem Wörterbuch lautet. Das Wort sei ab dem 16. Jahrhundert, zunächst in der Form Burzelbaum, belegt und meine „eigentl. ›Sturz und Wiederaufbäumen‹“. Purzeln, das heute besonders in Bezug auf Kinder gesagt wird, wenn sie ›sich überschlagend, stolpernd hinfallen, fallen, stürzen‹, konnte anfangs auch von Pferden gesagt werden, die ›mutwillig, freudig springen‹, „also mit dem Hinterteil nach oben“. Bei purzeln mit seinen älteren Nebenformen pürzeln und burzeln handelt es sich, wie am -el- zu erkennen ist, um ein Iterativum, also eine Bildung, die die wiederholte Handlung eines Verbs meint, und zwar hier des mittlerweile ausgestorbenen Verbs burzen. Im Mittelhochdeutschen bedeutete burzen so viel wie ›stürzen‹. Burzen und später purzeln gehören zum noch heute vorhandenen Bürzel, ›Geflügelsteiß‹, sodass nach Kluges Etymologischem Wörterbuch von der Bedeutung ›mit dem Hinterteil voraus fallen‹ auszugehen ist.

Es fehlt noch der Baum. Die Erklärung im Etymologieduden hilft weiter: Purzelbaum, der ›Überschlag auf dem Boden‹, bedeute „eigentlich“ ›Sturz und Aufbäumen‹. Sich aufbäumen oder kurz bäumen im Sinne von ›sich aufrichten‹ sei „ursprünglich wohl als Jägerwort vom Bären, der sich am Baum aufrichtet, gebraucht“ worden, „dann auch vom Pferd“. Der Baum im Purzelbaum ist demnach nicht selber ein Baum, sondern das Sich-Aufrichten, zunächst von Bär und Pferd, dann vom Menschenkind. Wörter gehen oftmals wundersame Wege.    ⋄    Wilfried Kürschner

(70) 11. März – Miesepeter

Die Sonne scheint, es ist Frühling, die Eurokrise ist überstanden. Aber im Laufe der Woche könnte es regnen, der Winter muss noch nicht vorbei sein, und wenn sich Europa mit dem „lupenreinen Demokraten“ (Gerhard Schröder) im Kreml anlegt und der uns den Gashahn zudreht, wird gleich wieder die Energie und alles andere teurer. Das Glas ist nicht halb voll, sondern halb leer!

Sind die Deutschen ein Volk von Bedenkenträgern, Schwarzsehern und Spaßbremsen? „Wie geht es Ihnen?“ – „Danke, kann nicht klagen.“ Dass viele Menschen positive Formulierungen („Danke, gut!“) vermeiden und sogar dann – und sei es nur verneinend – vom Klagen reden, wenn sie keinen Grund dazu haben, ist doch bezeichnend. Die Verneinung als solche ist bezeichnend. Nicht gesund, missmutig, unzufrieden zu sein ist offenbar der Normalfall. Negativität als Lebensform.

Immerhin: Die Klasse 6b der Vechtaer Liebfrauenschule hat Miesepeter für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen, denn die Kinder „wissen nicht, was das Wort bedeutet“. Klar jedoch, dass die Jury es ausgewählt hat, damit es erklärt werde – das gehört in Deutschland schließlich zum Grundwissen.

Der erste Wortbestandteil kommt aus dem Rotwelschen und geht über jiddisch mis(er) (›schlecht, miserabel, widerlich‹) auf das Hebräische zurück. Zugrunde liegt ein Verb mit der Bedeutung ›verachten‹. Im 19. Jahrhundert hat sich das Wort in der Umgangssprache verbreitet. Etwas mies zu machen bedeutet, es im Wert herabzusetzen, es jemandem zu verleiden. In der Kaufmannssprache nannte man um 1900 Miesmacher jemanden, der an der Börse schlechte Stimmung verbreitete.

Der Vorname Peter erscheint hier als Gattungsbezeichnung, so wie auch andere verbreitete Vornamen (Nörgelfritze, Heulsuse, Sabbeltrine usw.). Eine reale Person namens Peter oder auch eine literarische Figur, wie beim Struwwelpeter Heinrich Hoffmanns oder auch beim Zappelphilipp, beim Suppenkaspar oder beim Ha(n)ns Guck-in-die-Luft (alle aus demselben Kinderbuch von 1845) liegt wohl nicht zugrunde.

Zur Ehrenrettung der Miesepeter sei erwähnt: Sie treffen oft bessere Entscheidungen als gut gelaunte Menschen. Das hat der australische Psychologieprofessor Joseph Forgas herausgefunden. Wer allzu fröhlich und optimistisch durchs Leben geht, neigt aus Arglosigkeit zu Fehlern.

Doch es ist dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen: „Wer wegen allzu großen Spaßes fatale Fehlentscheidungen trifft“, schrieb im November 2009, die Welt über Forgas’ Erkenntnisse, „kann ganz schnell in ganz schlechte Stimmung verfallen. Und schon wird alles wieder gut.“    ⋄    Jochen A. Bär

(71) 12. März – Veilchen

Es gibt sie schon wieder: die ersten Veilchen! Jetzt ist der Frühling wirklich da! Viola odorata, das Duft- oder Märzveilchen, benannt nach seinem charakteristischen süßen Duft, ist eine von über 500 Veilchenarten. Zusammen mit anderen Frühblühern wie Schneeglöckchen und Krokussen gilt das Märzveilchen als untrügliches Indiz, dass der Winter zu Ende ist. Der griechischen Mythologie zufolge erblühen Veilchen unter den Füßen der Frühjahrsgöttin Persephone, wenn sie über die Erde schreitet.

Das optisch unscheinbare Veilchen ist Sinnbild für Bescheidenheit und Demut. So erscheint es auch oft in der Literatur. „Ein Veilchen auf der Wiese stand / Gebückt in sich und unbekannt; / Es war ein herzigs Veilchen“, heißt es bei Goethe. Bis ins kleinbürgerliche Poesiealbum zieht sich das Symbol- und Rollenklischee: „Sei wie das Veilchen im Moose, / Bescheiden, sittsam und rein, / Und nicht wie die stolze Rose, / Die immer bewundert will sein.“

Das Wort Veilchen ist als fiol schon im Althochdeutschen bekannt; im Mittelhochdeutschen heißt es viol(e), vial oder auch viel, im Frühneuhochdeutschen dann veil. Die Diminutivform (Verkleinerungsform) Veilchen ist zuerst 1570 bezeugt und setzt sich im 17. Jahrhundert durch. Nur ab und zu findet man von da an in der Dichtung das Wort Viole.

Das althochdeutsche fiol ist ein Lehnwort aus dem lateinischen viola, das seinerseits wohl aus einer nicht indoeuropäischen Mittelmeersprache stammt. Die Farbbezeichnung violett ist von viola abgeleitet, bedeutet also ursprünglich ›veilchenfarben‹. Kein Zusammenhang besteht mit den Wörtern für eine Familie von Streichinstrumenten (Viola, Violine, Violoncello usw.), die aus dem Provenzalischen kommen und vielleicht, ähnlich wie möglicherweise auch Fiedel, mit lateinisch vitulari (›frohlocken, einen Siegesgesang anstimmen‹) zusammenhängen.

Noch um 1900 wurde das Veilchen medizinisch genutzt. Die Blüten haben unter anderem kühlende und abführende Wirkung, werden in der Literatur auch als Hustenmittel und als schweißtreibend bezeichnet. Im Mecklenburgischen gab es den Volksaberglauben, wenn man die ersten drei Veilchen, die man findet, esse, so bekomme man das ganze Jahr hindurch nicht das kalte Fieber (Sumpffieber, Malaria).

Umgangssprachlich steht das Wort Veilchen – aufgrund der farblichen Ähnlichkeit – auch für das blaue Auge. Fachsprachlich heißt ein solcher Bluterguss Monokelhämatom, wenn er an einem Auge, Brillenhämatom, wenn er an beiden Augen auftritt.    ⋄    Jochen A. Bär

(72) 13. März – geil

Dr. Helmut Gross (Universität Vechta) hat unter anderem geil für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen und weist auf die in­teressante Bedeutungsvielfalt hin: Zwischen den geilen (›üppig, aber nicht sehr kräftig wachsenden‹) Trieben bei Pflanzen und der bekannten (längst nicht mehr nur rein) jugendsprachlichen Verwendung („supergeil“ rockt derzeit die Werbecharts) bedeutet das Wort mancherlei.

Nach dem Etymologischen Wörterbuch des Deutschen von Wolfgang Pfeifer geht geil wohl zurück auf indoeuropäisch ghoilos ›aufschäumend, heftig, übermütig, ausgelassen, lustig‹. Im Althochdeutschen (seit dem 8. Jahrhundert) bedeutete es so viel wie ›übermütig, überheblich‹; im Mittelhochdeutschen (seit dem 12. Jahrhundert) kann es ›kraftvoll, mutwillig, üppig, lustig‹, in anderen germanischen Sprachen ›froh, fröhlich‹ sowie ›schön‹ heißen. Diesem Wortgebrauch, der in der Variante ›übermäßig‹ bis ins 20. Jahrhundert hinein bezeugt ist – z. B. geiler (›übermäßig gedüngter‹) Boden –, steht die heute vorherrschende Bedeutung ›lüstern, sexuell erregt‹ gegenüber; sie ist allerdings erst seit dem 15. Jahrhundert ausgeprägt.

An die ursprüngliche, ab dem 17. Jahrhundert selten gewordene Bedeutung knüpft spätestens seit Beginn der 1980er Jahre die jugendsprachliche Verwendung von geil an. Hier hat das Wort die Bedeutung ›sehr gut, großartig, beein­druckend, klasse‹ und dient dem Ausdruck positiver Gefühle und/oder uneingeschränkter Zustimmung (z. B. geile Mu­sik, geile Party, geiles Wetter). Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat diesen Wortgebrauch bereits 1981 doku­men­tiert; mittlerweile verzeichnet ihn auch der zehnbändige Duden: ›in begeisternder Weise schön, gut; großartig, toll‹.

Es ist verständlich, wenn sich manche – vor allem ältere – Zeitgenossen, die hauptsächlich oder sogar ausschließlich noch die „unanständige“ Bedeutung kennen, durch das unbefangen geäußerte Wort verärgert oder schockiert fühlen. Es könnte sich daher aus Gründen der Höflichkeit empfehlen, gegenüber solchen Personen darauf zu verzichten. Andererseits ist Sprachwandel (und dazu gehört natürlich auch Bedeutungswandel) ein alltäglicher Vorgang, der in der Natur einer jeden Sprache liegt, und es ist den Mitgliedern einer Sprach­ge­meinschaft zuzumuten, eine Änderung des allgemeinen Sprach­ge­brauchs auch dann zur Kenntnis zu nehmen und sich bei anderen darauf einzustellen, wenn sie diese Änderung persönlich nicht mitvollziehen wollen. Ein allgemein, mittlerweile auch schon in Literatur, Presse und Werbung gebräuchliches, er­kenn­bar in nicht beleidigender oder provokativer Absicht verwendetes Wort unterdrücken zu wollen, ist jedenfalls aus­ge­schlossen.    ⋄    Jochen A. Bär

(73) 14. März – dingfest

Jemanden oder etwas dingfest machen bedeutet, ihn oder es erfassen, fixieren, festlegen, seiner habhaft werden. Bernd Hesselfeld aus Lohne (und vermutlich nicht nur er) fragt sich, woher das Wort wohl kommt.

Es geht zurück auf ein altes Rechtswort. Das Ding oder auch Thing (das germanische th, das man noch im Engli­schen hat, wurde im Althochdeutschen zum d) war die Gerichtsversammlung der alten Germanen. Wer dingvlüchtec wurde, entzog sich dem Gericht durch Flucht; jemanden dingfest zu machen, soll demgegenüber bedeuten, ihn zu verhaften, um sein Er­scheinen vor Gericht sicherzustellen. Interessanterweise liest man im Deutschen Rechtswörter­buch, dem großen Nach­schla­ge­werk zur germanischen und älteren deutschen Rechtssprache, dass dingfest machen erst seit 1852 belegt ist. Es ist also selbst kein altes Rechtswort, sondern eine Erfindung des Historismus.

Ein ganz anderes Dingfest kennt man in der niederbayerischen Stadt Dingolfing. Dabei handelt es sich um ein elf­tä­giges Open-Air-Festival. Ein durchaus kreatives Wortspiel, das den Marketingleuten da eingefallen ist: Es arbeitet mit dem Na­mensbestandteil Ding von Dingolfing und der Homonymie (Ausdrucksgleichheit) der beiden Wörter fest und Fest.

In Dingolfing steckt der alte germanische Personenname Dingolf, der die beiden Bestandteile Ding (›Gericht‹) und olf oder ulf (›Wolf‹) beinhaltet. Auch das Dingolfinger Dingfest lässt sich also auf das gleiche Wort Ding wie in dem Adjektiv dingfest zurückführen. Fest (›Feier‹) und fest (›fixiert‹) sind allerdings tatsächlich verschiedene Wörter: Das Substantiv ist ein Lehn­wort aus dem Lateinischen.

Heute kennt man Ding normalerweise als Allerweltswort in der Bedeutung ›Sache, Gegenstand‹. Kaum zu glauben, aber hier liegt ebenfalls das alte Rechtswort Thing oder Ding zugrunde. Es konnte nicht nur ›Gericht‹, sondern auch ›Prozess‹ oder ›Rechtssache, vor Gericht verhandelter Gegenstand‹ heißen. Die letztere Bedeutung hat sich im Laufe der Jahrhunderte sehr verallgemeinert: Alles und jedes, was man nicht spezifischer benennen kann oder will, lässt sich heute als Ding (auch Dings oder Dingens) bezeichnen.

Die gleiche Entwicklung hat übrigens die Bedeutung von Sache genommen. Auch dieses Wort meinte ursprünglich die Rechtsangelegenheit, und das verwandte Verb suchen bedeutete einst nur ›nach einem Täter fahnden‹. Überhaupt haben viele Wörter und Wendungen (Bausch und Bogen, Kind und Kegel, sich etwas hinter die Ohren schreiben und andere mehr) einen rechtlichen Hintergrund. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.    ⋄    Jochen A. Bär

(74) 15. März – schlottern

Eine Komponente der Bedeutung von Wörtern können Emotionen sein. Die Analyse „emotiver Bedeutungskomponenten“ gilt bisweilen als schwierig und findet daher bei der semantischen Beschreibung von sprachlichen Zeichen kaum Berück­sichtigung.

Im Gegensatz zu Wörtern wie Liebe, Hass oder Wut, die Emotionen direkt benennen oder darstellen (sogenannte Ge­fühlswörter), hat das Verb schlottern die kommunikative Funktion, eine Emotion auszudrücken, bzw. es lässt auf eine Emotion schließen. Das heißt, dass die Emotion nicht direkt benannt, sondern indirekt mitkommuniziert wird. Der Sprachwissenschaftler Fritz Hermanns nennt solche Wörter „emotiv“. Wenn ich z. B. „pfui!“ sage, dann verwende ich nicht ein Wort mit der Bedeutung ›Ekel‹ oder ›Abscheu‹, sondern ich drücke Ekel und Abscheu aus. Bei schlottern, einem der Lieblingswörter von Marlene Schwegmann (Universität Vechta), die es für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen hat, ist es noch einmal anders: Hier wird nicht das Gefühl unmittelbar benannt oder zum Ausdruck gebracht, sondern die körperliche Wirkung eines Gefühls wird bezeichnet. Man könnte ein solches Wort emotionsindikativ nennen: Es ist Anzeichen für eine Gemütsverfassung.

Schlottern lässt im gegenwärtigen Sprachgebrauch in den allermeisten Fällen darauf schließen, dass die Person, von der es gesagt wird, Angst hat. Daneben hat schlottern, mittelhochdeutsch slot(t)ern, das zusammen mit lottern, schleu­dern, schludern und schlummern auf eine indoeuropäische Wurzel (s)leu oder (s)lu (›schlaff herabhängen‹) zurückgeht, auch andere Bedeutungen, nämlich ›lose sich bewegen, lose hängen, hin und her schwanken‹ oder ›schlaff herabhängen von zu weiten Kleidungsstücken‹ (etwa in dem Satz „Die Hosen schlottern ihm um die Beine“). Und selbstverständlich schlottert man auch vor Kälte, womit wir allerdings wieder bei der emotionsindikativen Bezeichnung der körperlichen Wir­kung eines Gefühls wären – in diesem Fall der Empfindung eines Mangels an Wärme.

Dass ›vor Angst zittern‹ die derzeitige Hauptbedeutung von schlottern ist, belegen Ko­ok­kur­renzen für schlottern. Ko­ok­kur­ren­zen sind Ausdrücke, die bei der Untersuchung großer digital erfasster Textmengen auffällig häufig, d. h. statistisch signifikant, gemeinsam miteinander auftreten, weswegen eine grammatische und/oder semantische Beziehung zwischen ihnen vermutet wird. Die häufigsten Kookurrenzen für schlottern sind Knie und Angst. Hieran lässt sich unschwer erkennen, dass schlottern meist in einer festen Verbindung mit anderen Wörtern gebraucht wird: „Jemandem schlottern die Knie vor Angst“.    ⋄    David Römer

(75) 16. März – selbander

„Wenn auch die Vermehrung der Hasen“, liest man in Brehms Tierleben aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, „nicht so groß wie bei anderen Nagern ist, bleibt sie doch immerhin eine sehr starke, und der alte Ausspruch der Jäger, daß der Hase im Frühjahre selbander zu Felde ziehe und im Herbste zu sechzehn zurückkehre, hat an Orten, wo das Leben unserem Lampe freundlich lacht und die Verfolgung nicht allzu schlimm ist, seinen vollen Werth.“ Das mögen Jäger heute bestätigen oder auch nicht – der Sprachwissenschaftler nimmt Gelegenheit, auf ein heute weitgehend vergessenes Wort aufmerksam zu machen: selbander. Der zehnbändige Duden erklärt es als „Adverb“ und als „veraltet“ und gibt die Bedeutung mit ›zu zweit, miteinander, zusammen, gemeinsam‹ an.

„Ich und mein Schatten selbander, / Wir wandelten schweigend einher“, dichtet Heinrich Heine 1827; „dann schritten wir beide, Vater und Sohn, selbander hinaus“, schreibt noch 1930 Kurt Tucholsky. In der Gegenwartssprache ist selbander selten; das Korpus des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, die größte computerlesbare Textsammlung zur deutschen Sprache, weist von 1991 bis heute nur knapp 20 Belege auf.

In dem Wort stecken selb, das wir in selber, selbst, dasselbe usw. kennen, und ander (der/die/das andere, anders usw.). Früher bedeutete der andere noch ›der zweite‹: Kaiser Friedrich der Andere war im Mittelalter Kaiser Friedrich II., der Enkel Kaiser Friedrich Barbarossas, und im biblischen Schöpfungsbericht heißt es: „Da ward aus Abend und Morgen der andere [›der zweite‹] Tag“ (Gen. 1,8). Demnach bedeutet selbander wörtlich: ›jemand selbst und ein zweiter‹; entsprechend konnte man mit anderen Ordnungszahlwörtern (dritt, viert, fünft usw.) weitere Adverbien bilden: selbdritt (›zu dritt: jemand selbst und zwei weitere‹), selbviert (›zu viert: jemand selbst und drei weitere‹) usw. In Goethes Reineke Fuchs erscheint der Wolf „selbdritt“, nämlich zusammen mit seinen zwei Kindern, und in der Kunstgeschichte kennt man bis heute das Sujet „Die heilige Anna selbdritt“, d. h. die heilige Anna mit ihrer Tochter Maria und deren Sohn, dem Jesuskind.

Gleich, wie man den Sachverhalt ›nicht allein‹ nun benennen mag: In der Philosophie spielt er als das so genannte dialogische Prinzip der Erkenntnis eine wichtige Rolle. In den Worten Ludwig Feuerbachs: „Nur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt.“    ⋄    Jochen A. Bär

(76) 17. März – Elfenbein

Dass Elfenbein, also das Wort für den Stoff, aus dem die Stoßzähne von Elefanten sind, nichts mit den Beinen von Elfen zu tun hat, wird nicht weiter verwunderlich sein. Wer etwas genauer nachdenkt, kommt auch problemlos auf den echten Zusammenhang: Es handelt sich um eine abgeschliffene Variante von Elefantenbein, wobei Bein – ebenso wie in Gebeine, Schienbein, Schlüsselbein oder Beinhaus (›Gruft, Grabmal, Mausoleum‹) – für ›Knochen‹ steht. Zwar sind Zähne und Knochen nicht dasselbe, aber die Ähnlichkeit des Materials ist nicht von der Hand zu weisen; entsprechend gibt es auch das Wort Zahnbein. Dazu muss man bedenken, dass in althochdeutscher Zeit, als man das Wort Elfenbein und die dadurch benannte Sache als Handelsware bereits kannte, Elefanten hierzulande fast völlig unbekannt waren. (Das erste und lange Zeit einzige Tier, das man nördlich der Alpen zu Gesicht bekam, war ein indischer Elefant namens Abul Abbas: Er kam 801 n. Chr. als Geschenk des Kalifen Harun al Raschid an den Hof Karls des Großen, wo er nach neun Jahren starb.) Man hatte aber Schmuck aus Knochen verschiedenster Tiere, so dass es nahe lag, den sachlichen Zusammenhang herzustellen.

Dass man von Elefanten oft nicht mehr wusste, als dass von ihnen das Elfenbein kam, erklärt auch, dass man für beides, das Material und das Tier, ursprünglich ein und dasselbe Wort gebrauchte: althochdeutsch helfant. Erst später kam es zu der differenzierenden Wortbildung helfantbein, bei der dann zunächst aus lautlichen Gründen (der leichteren Aussprache wegen) das t in der Wortfuge ausfiel. Das h am Anfang blieb weitaus länger erhalten: Man findet es bei verschiedenen Autoren des 18. Jahrhunderts, und noch 1831 schildert Ludwig Tieck „die schönste Hand, die ich in meinem Leben gesehn habe“, folgendermaßen: „weiße, wie längliche Säulen gedrechselte Finger, die Knöchel bei jeder Bewegung wie Helfenbein hervorglänzend“. Die Form ohne h erklärt sich durch Anlehnung an das griechische Wort elephas (›Elefant‹), sie findet sich beispielsweise bei Martin Luther.

Die Wörter Elf und Elfe hängen demgegenüber zusammen mit Elb(e) oder Alb(e): Ausdrücken, die in der germanischen Mythologie für niedere (in der Regel unter der Erde lebende) Naturgeister stehen. Die Namen Alberich (der König der Zwerge) und Alberon (französisch Oberon, der König der Elfen) gehören ebenfalls zu dieser Wortfamilie.

Trotz des fehlenden sprachlichen Zusammenhangs stellt sich die Assoziation ›Elfe‹ bei Elfenbein unweigerlich ein. Es klingt daher geheimnisvoll und poetisch, und vermutlich deshalb mögen es auch die Grundschülerinnen und -schüler aus Rechterfeld, die das Wort für unsere Reihe vorgeschlagen haben.    ⋄    Jochen A. Bär

(77) 18. März – Unterschlupf

Den Unterschlupf hat sich Ina Völker aus Lohne im „Jahr der Wörter“ gewünscht. „Dieses Wort regt meine Phantasie an“, schreibt sie: „Mir gefällt die Mischung aus Versteck beim Kinderspiel und Schutz für Räuber und andere Verbre­cher.“

In der Tat: Mit ›Ort, an dem jemand Schutz findet oder an dem sich jemand vorübergehend verbirgt‹ gibt der zehnbän­dige Duden die Wortbedeutung an. Auch nicht kriminelle Flüchtlinge suchen häufig einen Unterschlupf. Bedeutungsver­wandt (wiewohl nicht exakt gleichbedeutend) sind beispielsweise Asyl, Obdach, Schlupfwinkel, Schutz, Unterkunft, Versteck und Zuflucht(sort).

Im Deutschen gibt es verschiedene Möglichkeiten der Wortbildung. Unter anderem kennt man die Derivation oder Ab­lei­tung, die mit der Hinzufügung eines Suffixes arbeitet (schön + -heit = Schönheit). Demgegenüber handelt es sich bei der Bildung von Unterschlupf aus dem Verb unterschlüpfen (in Süddeutschland auch unterschlupfen) um eine Trans­po­si­tion, das heißt um einen Wortartwechsel, der ohne Zusatz von Suffixen auskommt.

Das in unterschlüpfen steckende Verb schlüpfen ist eine Intensivbildung zu dem heute fast nur noch in der Jäger­spra­che bekannten schliefen (›gleiten, in etwas hineinkriechen‹), mit dem auch Schleife, Schlaufe, schlau und Schlauch ver­wandt sind. Schlüpfen bedeutet ›sich gleitend (durch enge Öffnungen) fortbewegen, sich schnell und geschmeidig bewegen‹.

Beim ersten Wortbestandteil, der Partikel unter, handelt es sich um einen jener Fälle, in denen zwei ursprünglich verschiedene Wörter zusammengefallen sind: indoeuropäisch enter (›zwischen ... hinein‹), das beispielsweise auch im lateinischen inter (›zwischen, dazwischen‹) steckt, und indoeuropäisch ndher (›unter, unterhalb‹). Die alte Wortbedeutung ›zwischen‹ findet man noch in Fügungen wie unter uns oder unter Freunden.

Unter Freunden gewährt man sich Unterstützung und, wenn es nötig ist, auch Unterschlupf. In dem Wort steckt die bildliche Vorstellung, dass jemand rasch und geschmeidig unter eine schützende Decke oder Überdachung kriecht oder gleitet. Es ist seit dem 16 Jahrhundert belegt, ist aber erst im 19. Jahrhundert als Ersatz für Ausdrücke wie Unterschlauf, Unterschleif, Unterschlief und Unterschluf gebräuchlich geworden. Der Plural (die „Mehrzahl“), der allerdings selten ist, lautet Unterschlüpfe oder auch Unterschlupfe: Beides ist korrekt.    ⋄    Jochen A. Bär

(78) 19. März – Kamel

ebenso wie lateinisch camelus und griechisch kámelos ist ein Lehnwort aus dem Semitischen; im Hebräischen und Ara­bischen kennt man das Wort als gamal oder dschamal. Dass man im Mittelalter gewisse Schwierigkeiten hatte, fremd­ländische Tiere, die man oft nur vom Hörensagen kannte, richtig zu unterscheiden, ist nicht verwunderlich. Dies war auch beim Kamel der Fall, das man zunächst mit dem gleichen Wort bezeichnete, das auch bei Elefant zugrunde liegt: Im Gotischen hieß es ulbandus, im Althochdeutschen olpentâ, im Mittelhochdeutschen olbent(e). Das Grimm’sche Wörter­buch nimmt darüber hinaus einen Zusammenhang mit dem griechischen élaphos (›Hirsch‹) an und vermerkt lapidar: „Namen der großen Thiere laufen oft ineinander.“

Erst zur Zeit der Kreuzzüge kam das neue Wort Kamel in Gebrauch. Wirkliche Klarheit in zoologischen Dingen brachte es aber auch nicht gleich. So war man sich lange Zeit über die Frage unsicher, ob Kamele nicht möglicherweise mit Leo­parden verwandt sein könnten. Das Bindeglied zwischen beiden vermutete man in der Giraffe, die man als Mischwe­sen ansah und dementsprechend als kämelpard (von lateinisch camelopardalis) bezeichnete.

Da sich Kamele im Passgang fortbewegen und also die Person, die auf ihnen reitet, schaukeln, werden sie gern als Wüstenschiffe bezeichnet. Sie sind starke und genügsame Tiere, die lange Zeit ohne Wasser auskommen können, gel­ten als geduldig, aber durchaus auch als eigensinnig, so dass man Kamel auch auf einen dummen Menschen an­wen­den kann. Das ist natürlich eine Beleidigung (für das Tier).

In der Bibel wird das Kamel mehrfach erwähnt. Unter anderem heißt es von ihm, dass gläubige Juden es nicht essen dürfen (3. Mos. 11,4; 5. Mos. 14,7). Und Jesus sagt bekanntlich: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.“ (Matth. 19,24; Mark. 10,25; Luk. 18,25).

Klar: Ein Kamel passt nicht durch ein Nadelöhr; also kann das Christuswort sinngemäß so übersetzt werden: Es ist einem Reichen unmöglich, ins Reich Gottes zu kommen. Dennoch: Warum ausgerechnet ein Kamel?

Die Antwort führt wieder einmal auf das Phänomen der Homonymie (Ausdrucksgleichheit oder -ähnlichkeit verschie­de­ner Wörter). In diesem Fall liegt sie nicht im Deutschen vor, sondern in der Ursprache des Neuen Testaments, dem Griechischen. Denn dieses kennt neben dem Wort für das Kamel (kámelos) ein fast gleichlautendes Wort kámilos (›dickes Seil, Ankertau‹). Martin Luther hätte also stimmiger übersetzen sollen: „Es ist leichter, dass ein Schiffstau durch ein Nadelöhr gehe ...“    ⋄    Jochen A. Bär

(79) 20. März – Augenblick

Als ich las, dass Alfred Kuhlmann aus Ellenstedt das Wort Augenblick vorgeschlagen hat, weil es ein „wunderschönes deutsches Wort“ ist, dachte ich im ersten Moment, dass es sich dabei wohl um eine der vielen Eindeutschungen von Fremdwörtern handeln müsse, die in sprachpuristischen Zeiten immer wieder einmal vorgenommen wurden und aus der Bibliothek eine Bücherei, aus dem Perron einen Bahnsteig und aus dem Laptop einen Klapprechner machten oder dies zumindest versuchten.

Nun gilt aber unter Wortfreunden die goldene Regel: Nachschlagen, nachschlagen, nachschlagen. Und siehe da, im „Universalwörterbuch“ des Duden (einer kürzeren Fassung des zehnbändigen, jetzt einscheibigen Duden-Großwörter­buchs), mit dem ich immer beginne, erfuhr ich, dass unser heutiges Wort keineswegs ein Ersatz für den aus dem Lateinischen herrührenden Moment ist, sondern bereits im Mittelhochdeutschen in der Form ougenblick vorhanden war und „eigentlich“ so viel bedeutete wie ›(schneller) Blick der Augen‹.

Mein nächster Blick geht üblicherweise in das „Herkunftswörterbuch“ des Duden. Dort erfährt man, dass das Wort seit dem 13. Jahrhundert zusätzlich die Bedeutung ›ganz kurze Zeitspanne‹ angenommen hat. Meine beiden nächsten Nachschlagewerke, Pfeifers „Etymologisches Wörterbuch des Deutschen“ und Kluges „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“, helfen diesmal nicht weiter.

Selbst in Zeitnot sollte man es nie versäumen, im Grimm’schen „Deutschen Wörterbuch“ nachzusehen. Dort ist im ersten Band (1854) unter dem Stichwort als Erstes zu lesen: „ictus oculi, momentum“. Dies ist jedoch keine Bestätigung meines Anfangsverdachts, sondern momentum steht hier neben ictus oculi (wörtlich ›Schlag des Auges‹) als Wiedergabe der Bedeutungen des Wortes, die bei Grimm eben auf Lateinisch geschieht. Jacob Grimm scheut sich auch nicht vor Wertungen und setzt hinzu: „eine treffende, lebendige zusammensetzung“ (das Grimm’sche Wörterbuch kennt bis heute keine Großschreibung der Substantive). Die „sinnliche [= wörtliche, konkrete] bedeutung“ habe sich im Neuhochdeutschen „selten erhalten“. „Desto häufiger ist die abgezogne [= übertragene, abstrakte] anwendung für den enteilenden punct der zeit“, schreibt Grimm weiter und belegt dies mit zahlreichen literarischen Zitaten. In der Neubearbeitung des Grimm’schen Wörterbuches (die entsprechende Lieferung erschien 2004) wird eine dritte, ebenfalls übertragene Verwendung des Wortes angeführt: „die unmittelbare gegenwart, das jetzt, das heute“ und ebenfalls mit Zitaten (jetzt auch aus Sachbüchern und Zeitungen) demonstriert.

Erstaunlicherweise fehlt hier wie dort der vielleicht bekannteste Vers mit Augenblick – natürlich von Goethe, natürlich aus dem Faust. Dort bietet, so ist in einem Kommentar zu lesen, Faust dem Mephistopheles eine Wette an, dass es diesem nicht gelingen wird, ihn, Faust, von seinem Streben nach immer mehr Wissen abzubringen. Sollte Faust sich dennoch der Bequemlichkeit hingeben, dann dürfe Mephisto ihn ins Verderben mitnehmen (Vers 1692–1711): „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zu Grunde gehn!“    ⋄    Wilfried Kürschner

(80) 21. März – Rindfleischettikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz

Das heutige Wort hat die Klasse 7aR der Oberschule Dinklage vorgeschlagen. Schülerin Sophia Engbarth schreibt: „Ich habe das Wort im Duden gefunden. Ich habe es ausgewählt, weil ich es lustig und unglaublich lang finde.“

Bei diesem Bandwurmwort, das 1999 unter den Wörtern des Jahres war, handelt es sich um den Titelvorschlag für ein Landesgesetz, den sich das Landwirtschaftsministerium in Mecklenburg-Vorpommern ausdachte. In voller Länge sollte es heißen: Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischettikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz. Die Jahreswörter-Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden entschied sich dafür, weil es als mit Abstand längstes Wort einerseits ein Pendant zum Kurzwort des Jahres 1999 – Sofi (›Sonnenfinsternis‹) – darstellte, und weil es andererseits charakteristisch ist für eine Eigentümlichkeit der deutschen Sprache: die Wortbildung durch Zusammen­setzung. Mit 63 Buchstaben, 20 Sprechsilben und 14 verschiedenen lexikalischen und grammatischen Wortbestand­teilen (Rind, Fleisch, Ettikett, -ier-, -ung [dreimal], Fugen-s [dreimal], über [zweimal], wach[en], auf, Gabe, Fugen-n, trag[en], ge-, setz[en]) sind die Möglichkeiten noch lange nicht am Ende. Denken ließe sich z. B. ein Klub, der über den genannten Gesetzentwurf debattiert, und auch, dass eine Tagung veranstaltet werden soll, um über den Diskussions­stand zu berichten. Sobald jemand für eine solche Veranstaltung Tagungsgeld beantragen wollte, bräuchte er ein Rind­fleisch­ettiket­tierungs­über­wachungs­aufgaben­über­tragungs­gesetzes­ent­wurfs­debat­tier­klub­dis­kus­sions­stands­bericht­erstat­ter­tagungs­geld­antrags­formular. Weiterungen nicht ausgeschlossen.

Mark Twain verspottete die deutsche Sprache wegen ihrer Tendenz zur Wortlänge und nannte Ausdrücke wie unser R-Wort „Wortprozessionen“. Doch die Faszination der Wortbildung empfanden bereits Sprachtheoretiker des 17. Jahr­hun­derts. Sie erkannten die nahezu unbeschränkten Möglichkeiten, den deutschen Wortschatz zu erweitern. Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) stellte einen „Fünffachen Denckring der Teutschen Sprache“ vor, bei dem auf fünf konzentrischen Kreisen verschiedene Wortbildungsbestandteile angeordnet waren. Durch das Drehen der Ringe sollten mögliche deutsche Wörter entstehen. Der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz rechnete aus, dass es über 97 Millionen Kombinationsmöglichkeiten gebe (wobei nicht erwähnt werden muss, dass die weitaus meisten von ihnen Klang- oder Buchstabengebilde ohne sprachliche Bedeutung wären).    ⋄    Jochen A. Bär

(81) 22. März – Oxymoron

Manche Wörter sind autothematisch: Sie „thematisieren sich selbst“, indem sie dasjenige, was sie bedeuten, in ihrer Wort­gestalt zugleich ausdrücken. So beispielsweise die ursprünglich aus dem Griechischen stammenden Namen für bestimmte Versmaße. Das Wort Daktylus ist selbst ein Daktylus (nämlich eine Abfolge von einer betonten und zwei unbetonten Sil­ben) und Anapäst ist selbst ein Anapäst (das Gegenteil eines Daktylus: eine Abfolge von zwei unbetonten Sil­ben und einer betonten).

Auch Oxymoron ist solch ein autothematisches Wort. Es steht für eine Stilfigur, bei der zwei nicht zueinander passende, sich gegenseitig ausschließende Begriffe aufeinander bezogen werden, so wie beispielsweise in stummer Schrei oder lautes Schweigen, in der Wortbildung traurigfroh aus Friedrich Hölderlins Ode Heidelberg („Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog, / Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön, / Liebend unterzugehen, / In die Fluten der Zeit sich wirft“) oder im Lebensgefühl von Goethes Faust: „So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde.“

In dem Wort Oxymoron stecken griechisch oxýs (›spitz, scharf, scharfsinnig‹) und morós (›dumm, einfältig, töricht‹); es ist also selbst ein Oxy­mo­ron, denn die beiden Wortbestandteile schließen sich gegenseitig aus. Scheinbar ist ein Oxy­mo­ron (die zweite und die vierte Silbe sind betont, die Mehrzahl lautet: die Oxymora) eine sprachliche Dummheit. Genauer betrachtet aber bringt es eine kluge, scharfsinnige Beobachtung zum Ausdruck. Oft spielt es mit der Mehrdeutigkeit der zusammengefügten Wörter (so in die Nacht zum Tage machen, was dann, wenn man Tag wörtlich versteht, natürlich nicht möglich wäre).

Das Gegenteil des Oxymorons ist der Pleonasmus oder die Tautologie, bei der durch zwei Wörter derselbe Sachverhalt ausgedrückt wird (so in schwarzer Rappe oder weiße Milch). Ein Oxymoron ist demgegenüber die schwarze Milch (bekannt aus Paul Celans Gedicht Todesfuge).

Ein anderer Ausdruck für Oxymoron ist Contradictio in adiecto (›Widerspruch in der Beifügung‹). Eine solche kann aber auch versehentlich unterlaufen – beispielsweise, wenn von einem eingefleischten Vegetarier die Rede ist –, wohingegen ein Oxymoron immer auf Absicht beruht. Ein unbeabsichtigtes Oxymoron ist daher genau genommen gar nicht möglich, und der Ausdruck unbeabsichtigtes Oxymoron wäre somit eine Contradictio in adiecto. Es sei denn, dass jemand ihn ab­sicht­lich gebraucht, um damit etwas Kluges zu sagen, so wie im gegenwärtigen Fall. Dann ist es ein Oxymoron.    ⋄    Jochen A. Bär

(82) 23. März – Palmkätzchen

Noch ist zwar nicht Palmsonntag, aber die Palmkätzchen blühen bei dem schönen warmen Frühlingswetter längst, und so ist es an der Zeit, das Lieblingswort von Marlies Bellmann aus Langförden unter die Lupe zu nehmen. Dabei kommt manch Interessantes zu Tage. Zunächst einmal ist klar, dass es bei den Palmkätzchen, auch Weidenkätzchen genannt, weder um Palmen geht noch um Katzen.

Die Salweide (Salix caprea) ist keine Palme. Sie wird nur deshalb auch Palmweide genannt, weil sie im christlichen Brauchtum eine Rolle spielt. Spätestens seit dem 7. Jahrhundert werden am Palmsonntag vielerorts Weidenzweige zu Büscheln, so genannten Palmen zusammengebunden und in der Kirche geweiht. Dass es dabei tatsächlich nicht um wirkliche Palmbäume geht, zeigt der Singular (die Form der „Einzahl“): Er lautet nicht die Palme, sondern der Palm. Die Zweigbündel haben auch im Volksaberglauben eine Bedeutung: Am Fenster eines Hauses befestigt, sollen sie Hexen und böse Geister vertreiben; steckt man sie in den Ackerboden, soll das Feld fruchtbar werden und vor Hagel und Getreidebrand verschont bleiben. Auch medizinische Wirkung wird ihnen zugeschrieben.

Aufgrund ihrer pelzigen Beschaffenheit erinnern die Blüten der Salweide an flauschige kleine Katzen, so dass auch der zweite Wortbestandteil erklärt ist. Kätzchen kann man nicht nur die Blütenstände der Weide, sondern (aus gleichem Grund) unter anderem auch die der Birke, der Erle oder des Haselstrauchs nennen.

Die Salweide hat ihren Namen daher, dass man das ältere Wort sal(h)e (althochdeutsch: salaha), das für sich bereits ›Weide, Weidenbaum‹ bedeutete, nicht mehr verständlich fand und daher durch den Zusatz von Weide verdeutlichte. Zugrunde liegt wohl, ebenso wie beim lateinischen salix (›Weide‹), ein indoeuropäisches Wort mit der Bedeutung ›grau‹, das auch im englischen sallow (›fahl, bleich‹) steckt. Das Benennungsmotiv war also offenbar die Farbe der Rinde.

Über die heutige Kolumne freut sich vielleicht auch die Klasse 2b der Overbergschule in Vechta. Die Kinder haben Kätzchen (allerdings in seiner eigentlichen Bedeutung) für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen. Warum es ihr Lieblingswort ist, erklären sie unter anderem so: „Kleines Kätzchen schmuseweich, kommst auf leisen Pfoten. Willst nur kuscheln und schnurren. Hab dich lieb.“ Und: „Kätzchen haben ein weiches Fell. Man kann sie streicheln. Wenn sie miteinander spielen, sieht das drollig aus. Wenn Kätzchen Milch schlabbern, muss ich lachen. “    ⋄    Jochen A. Bär

(83) 24. März – Techtelmechtel

Das heutige Wort hat sich Birgit Vonhusen aus Vechta gewünscht. Sie bringt den Sprachhistoriker in einige Verlegenheit. Nicht aufgrund der harmlosen Bedeutung ›Flirt, Liebschaft, (nicht ganz ernst gemeinte) Liebelei‹, sondern aufgrund der Problematik, Techtelmechtel historisch zu erklären. In den meisten der gängigen Nachschlagewerke heißt es nur: „Herkunft unbekannt.“

Zumindest ein bisschen weiter führt ein Blick in das Etymologische Wörterbuch des Deutschen von Wolfgang Pfeifer. Dort liest man zwar auch, dass „die Herkunft [...] ungeklärt“ ist, findet aber noch folgenden Hinweis: Zugrunde liegen könnte italienisch a teco meco (›unter vier Augen‹), wörtlich: ›(ich) mit dir, (du) mit mir‹, das wiederum zurückführt auf lateinisch tecum (›mit dir‹) und mecum (›mit mir‹). Diese Herleitung mag einleuchtend klingen; ehrlicherweise muss man aber doch zugeben, dass sie nicht gesichert ist. Ebenfalls möglich wäre, dass es sich bei Techtelmechtel um ein Wort aus dem Rotwelschen (der „Gaunersprache“) handelt: Diese kennt den Ausdruck tacht(i) (›heimlich, geheim‹).

Wie auch immer: Spätestens seit dem späten 18. Jahrhundert ist im Österreichischen das Wort Dechtlmechtl in der Bedeutung ›geheimes Einverständnis‹ bekannt; man darf wohl annehmen, dass es von hier aus in der engeren Bedeutung ›geheimes Einverständnis unter Liebenden‹ in die Allgemeinsprache gekommen ist.

Interessant wirkt Techtelmechtel nicht nur aufgrund seiner dunklen Vergangenheit, sondern auch durch seine lautliche Gestalt. Wenn zwei sich reimende Wörter unmittelbar aufeinanderfolgen, nennt man dies einen Schlagreim. Es gibt einige Wörter im Deutschen, die schlagreimend gebildet sind, zum Beispiel Hausmaus, Frischfisch, Weinstein, aber auch Charivari (›Durcheinander; Katzenmusik‹).

Der Schlagreim ist auch ein beliebtes Stilmittel in der Poesie. Von einem der größten Sprachkünstler des Mittelalters, Konrad von Würzburg († 1287 n. Chr.), stammt ein ganzes Gedicht das praktisch nur aus Schlagreimen besteht: „Gar bar lît wît walt, / kalt snê wê tuot: gluot sî bî mir. / gras was ê, clê spranc blanc, / bluot guot schein: ein hac pflac ir. / schoene doene clungen jungen liuten, / triuten inne minne mêrte“ usw. („Gar bloß liegt weithin der Wald, / kalter Schnee tut weh: Glut möge bei mir sein. / Gras war ehemals, Klee wuchs (wörtl.: entsprang) hell, / die Blüte leuchtete gut: ein Hag hütete sie. / Schöne Töne erklangen jungen Leuten, / den Traulichen vermehrte sich drinnen die Liebe“ usw.) – Mit anderen Worten: ein mittelhochdeutsches Techtelmechtel.    ⋄    Jochen A. Bär

(84) 25. März – Zwerchfell

Das Zwerchfell ist ein enorm wichtiger Teil des Körpers. Es handelt sich dabei um ein Gebilde aus Muskeln und Sehnen, das die Brust- und die Bauchhöhle voneinander trennt.

Der erste Wortbestandteil ist das alte, in der Gegenwartssprache kaum noch gebräuchliche Adjektiv zwerch (›quer‹). Tatsächlich handelt es sich um eine bloße Variante von quer, denn die Lautverbindung kw, die als qu geschrieben wird, konnte in mittelhochdeutscher Zeit auch als tw bzw. zw artikuliert werden. Durch diese Lautentsprechung erklären sich Wortvarianten wie Quetsche (landschaftlich für Zwetschge) oder das frühneuhochdeutsche quergelig (›zwergenhaft‹).

Zwerch kommt heute nur noch in wenigen Zusammensetzungen vor. In der Architektur kennt man das Zwerchhaus (ein quer zum Giebel aus dem Dach hervortretender, in einer Ebene mit der Fassade abschließender Gebäudeteil in der Form eines Häuschens) und den Zwerchgiebel (den Giebel eines Zwerchhauses). In Süddeutschland heißt Zwerchsack eine Art Rucksack, den man quer über der Schulter trägt, und überzwerch bedeutet ›überkreuz‹ oder auch ›übermütig‹.

Das Fell in Zwerchfell erscheint ebenfalls in einer älteren Bedeutung des Wortes: ›Haut‹. Es ist mit dem gleichbedeutenden lateinischen pellis verwandt, das seinerseits die Basis für deutsche Lehnwörter wie Pelle (›Haut, hautartige Hülle‹) und pellen (›häuten‹) darstellt. Auch in Wortbildungen wie Bauchfell oder Trommelfell weist Fell noch die alte Bedeutung auf.

Das Zwerchfell ist nicht nur lebenswichtig, weil es die Atmung steuert, sondern es ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir lachen können. Lachen ist nichts anderes als eine stark beschleunigte Folge von Atembewegungen. Wörter wie zwerchfellerschütternd (›sehr komisch‹), Zwerchfellangriff, -attacke, -attentat usw. lassen diesen Zusammenhang erkennen.

Die alten Griechen nannten das Zwerchfell phrén und hielten es für den Sitz des Geistes oder der Seele. Auch dafür verwendeten sie das Wort phrén; wir kennen es beispielsweise in Schizophrenie (wörtlich ›Geistes-/Seelenspaltung‹). Auch die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem Arzt Franz Joseph Gall begründete Pseudowissenschaft Phrenologie, die versuchte, geistige Eigenschaften und Zustände bestimmten, klar abgegrenzten Hirnarealen zuzuordnen und mit bestimmten Schädelformen in Verbindung zu bringen, hat ihren Namen daher. Die lateinische Bezeichnung Diaphragma (so auch der medizinische Fachterminus für das Zwerchfell) kommt ursprünglich ebenfalls aus dem Griechischen; sie bedeutet wörtlich ›Trennwand‹.    ⋄    Jochen A. Bär

(85) 26. März – verhunzen

Das heutige Wort hat Wolfgang Nolte aus Goldenstedt vorgeschlagen. Es bedeutet ›etwas (durch unsorgfältige, unsachgemäße Behandlung) verunstalten, verderben‹; beispielsweise kann man einen Text, ein Werkstück, die Landschaft oder das Stadtbild verhunzen; das schlechte Wetter kann einem den Urlaub verhunzen; manche Leute machen Dummheiten und verhunzen sich dadurch ihr ganzes Leben.

Aufgrund der Schreibung ist schwer zu erkennen, woher das Wort kommt. Schriebe man es statt mit z mit ds (verhundsen), so wäre offensichtlich, dass darin der Hund steckt. Man könnte also fast sagen: Die Orthographie verhunzt hier die etymologische Durchsichtigkeit. (Das tut sie des Öfteren, beispielsweise auch bei belämmert,

Tollpatsch

, Quäntchen, einbläuen, Zierrat; aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.)

Was aber hat nun verhunzen mit dem Hund zu tun? Ganz einfach: Jemanden (ver)hundsen bedeutete ursprünglich, ihn als Hund oder wie einen Hund zu beschimpfen, ihn schlecht, verächtlich zu behandeln. Heutzutage sind Hunde oftmals geliebte Hausgenossen – leider nicht immer: die Tierheime sind voll von Tieren, die gequält oder auch einfach ausgesetzt worden sind –, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit aber gab es viele herumstreunende Hunde, denen man bestenfalls misstrauisch begegnete (daher bis heute die Redewendung jemanden wie einen Hund davonjagen), und auch die nicht herrenlosen wurden oft geschlagen und schikaniert.

Aus einer ganzen Reihe von Substantiven konnte man durch Zusatz des Suffixes (der „Endsilbe“) -(s/z)en früher Verben bilden, die dann jeweils die Bedeutung ›jemanden/etwas zum ... machen‹ oder ›zu jemandem ... sagen‹ hatten. Noch heute kennt man beispielsweise jemanden knechten oder jemanden narren (›zum Narren machen‹); auch duzen und siezen (›jemanden du/Sie nennen‹) gehören in diese Reihe. Früher konnte man auch jemanden dieben, schelmen, zwergen (›Dieb/Schelm/Zwerg nennen‹) oder deppen (›als Deppen behandeln‹, noch heute landschaftlich: ›unterdrücken, demütigen‹). – Ein anderer Fall ist allerdings jemanden hänseln (›verspotten‹): Hier ging es nicht darum, jemanden spöttisch Hänsel zu nennen, sondern es liegt das Substantiv Hanse (der Name des norddeutschen Kaufmannsbundes) zugrunde: Das mittelhochdeutsche Verb hansen, von dem hänseln die Intensivierung ist, bedeutete ›jemanden unter gewissen (scherzhaften) Zeremonien in eine Kaufmannsgilde aufnehmen‹.

Bei (ver)hunzen ging in der Bedeutung der ursprüngliche Zusammenhang mit dem Wort Hund verloren; da man ihn nicht mehr sah, gab es auch keinen Grund, ihn in der Schreibung zum Ausdruck zu bringen.    ⋄    Jochen A. Bär

(86) 27. März – Eichhörnchen

Das Lieblingswort von Petra Klein aus Quakenbrück ist Eichhörnchen. „Die Tierchen sind so possierlich, wenn sie Männ­chen machen oder durchs Geäst flitzen“, schreibt sie. „Manche werden sogar ganz zahm; und die spitzen Ohren sehen wirklich wie kleine Hörnchen aus.“

Zweifellos! Und mit possierlich (›drollig, belustigend wirkend‹, abgeleitet von Possen ›Spaß, Unfug‹) hat Frau Klein gleich noch ein weiteres Wort verwendet, das es wert wäre, in unserer Kolumne behandelt zu werden. Eichhörnchen aber ist es allemal, denn darüber hat der Sprachhistoriker Unerwartetes zu berichten. Die Vorstellung, dass das Wort sich aus Eiche und Horn zusammensetze, ist nämlich falsch. Schon im Althochdeutschen eihhurno oder eihhorno ist offenbar nicht mehr verstanden worden, dass der Ausdruck, der im Gotischen noch aikurna lautete, wohl auf die indoeuropäische Wurzel aig- (›sich heftig bewegen, schwingen‹) zurückgeht. Benennungsmotiv wäre dann die Flinkheit des Tieres. Die spätere Anleh­nung an Eiche sollte, vermutet Jacob Grimm im Deutschen Wörterbuch, „den unverständlichen Ausdruck neubeleben“, wie es „für das auf Eichen nistende, von Eicheln lebende Geschöpf [...] geeignet“ schien. Die ebenfalls nicht mehr durch­sich­tige Endung wurde zu Horn umgedeutet. An dessen Diminutivform („Verkleinerungsform“) orientierte sich dann im 19. Jahr­hundert die Bezeichnung Hörnchen für die gesamte Familie der eichhörnchenähnlichen Nager (Baum-, Erd-, Flug­hörn­chen).

Grimm geht davon aus, dass Eichhorn (ebenso wie die Entsprechungen in anderen Sprachen, z. B. lateinisch sciurus, französisch écureuil, englisch squirrel) auf griechisch skíouros zurückgehe. Letzteres sei eine Zusammensetzung aus griechisch skiá (›Schatten‹) und ourá (›Schwanz, Schweif‹), „weil das Thier mit seinem breiten Schwanz Schatten wirft“. Allerdings spricht dafür wohl nicht mehr als für die umgekehrte Annahme, dass auch im Griechischen ein nicht mehr ver­ständlicher Ausdruck volksetymologisch neu interpretiert wurde.

Eine ganze Reihe von Wörtern teilt das Schicksal von Eichhörnchen, im Laufe der Jahrhunderte undurchsichtig ge­wor­den zu sein. Bekannte Beispiele sind Armbrust, eine Umdeutung von lateinisch arcuballista (›Bogenschleuder‹, zu la­tei­nisch arcus ›Bogen‹ und ballista ›Wurf-, Schleudermaschine‹), Vielfraß (das Wort hat nichts mit den Ernährungs­ge­wohn­hei­ten des Tiers zu tun, sondern kommt von dem norwegischen Ausdruck fjeldfross ›Bergkater, Felsenkatze‹) und Liebstöckel (von spätlateinisch levisticum, aus ligusticum ›aus Ligurien stammende Pflanze‹).    ⋄    Jochen A. Bär

(87) 28. März – famos

„Ich habe ganz viele Lieblingswörter“, schrieb uns Charlotte Mende aus Celle, „und mein liebstes ist famos.“ Famos, dass die Aktion „Jahr der Wörter“ über das Oldenburger Münsterland hinaus wahrgenommen wird!

Das Adjektiv („Eigenschaftswort“) famos geht über das französische fameux zurück auf lateinisch famosus (›viel be­spro­chen, berühmt‹, auch ›berüchtigt‹), einer Ableitung von lateinisch fama (›Gerede, Gerücht, Sage‹, auch ›Ruf, Leu­mund‹). Famos war im 18. und frühen 19. Jahrhundert ein beliebter Ausdruck der Studentensprache. In enger Anlehnung an die lateinische Ausgangssprache bedeutete es ursprünglich ebenfalls ›bekannt‹, ›berühmt‹ oder ›berüchtigt‹ (die Gren­zen zwischen diesen Bedeutungsaspekten sind unscharf). Nur zwei Beispiele: Zu den literarischen Gegnern Goethes zählt Heinrich Heine den „famose[n] Hofrat Müllner und [...] einige andere, die minder famose Namen führten“ (der Zei­tungs­redakteur Adolf Müllner war seinerzeit ein bekannter und gefürchteter Literaturkritiker), und Friedrich Hebbel mokiert sich über „Kants famosen Ausspruch [...], das poetische Vermögen, von Homer an, beweise nichts, als eine Unfähigkeit zum reinen Denken“.

Offene Übergänge gibt es von hier zu der Bedeutung ›vom Hörensagen bekannt, sagenhaft, mythologisch‹: Ludolf Wien­barg berichtet über „das alte Thule, jene famose Insel, die ein Kaufmann von Marseille, ich weiß nicht wie viel Jahre vor Christi Geburt, in der Nordsee entdeckt haben wollte“.

Von ›sagenhaft‹ ist es dann zu ›fabelhaft, ausgezeichnet, großartig‹ nur noch ein kleiner Schritt: derjenigen Bedeutung, unter der famos heute noch bekannt ist. „Du bist und bleibst doch der famoseste, beste Kerl in der Welt“, heißt es 1896 bei Wilhelm Raabe, und wenig später dichtete Wilhelm Busch: „In Sommerbäder / Reist jetzt ein jeder / Und lebt famos. / Der arme Dokter, / Zu Hause hockt er / Patientenlos.“

Famos ist seit dem 19. Jahrhundert hauptsächlich ein Wort, das der nachdrücklichen Bekundung von Bewunderung, Anerkennung oder Wohlgefallen dient. Mit anderen Worten: Es ist eines jener Wörter, die, ausgehend von der Jugend­sprache, in der heutigen Umgangssprache immer mehr von Ausdrücken wie geil oder krass verdrängt werden. Nichts gegen Sprachwandel (sowohl

geil

als auch

krass

haben wir im „Jahr der Wörter“ ja ebenfalls schon behandelt): Dass eine Sprache sich verändert, ist nichts Schlimmes, sondern ganz normal. Aber schade wäre es doch um ein so schönes Wort wie famos. Es neben anderen, bedeutungsähnlichen Wörtern nicht ganz in Vergessenheit geraten zu lassen – wäre das für den Reichtum unserer Sprache nicht famos?    ⋄    Jochen A. Bär

(88) 29. März – moin!

Woran erkennt man in Süddeutschland einen Norddeutschen? Daran, dass er nachmittags und sogar abends zur Begrüßung noch ›guten Morgen‹ sagt. – Und woran erkennt man in Norddeutschland einen Süddeutschen? Daran, dass er sich wundert, wenn man ihn mit ›guten Tag‹ begrüßt, und sagt, es sei doch gar nicht mehr Morgen.

Ganz klar: Hier geht es um den norddeutschen Gruß moin! (für unsere Reihe vorgeschlagen von Alfred Kuhlmann aus Ellenstedt) und das klassische Missverständnis, dabei handle es sich um eine verschliffene Form von Morgen. Auf so etwas können wirklich nur Süddeutsche (und Mitteldeutsche) kommen: insbesondere diejenigen, in deren Dialekten sich Morgen so ähnlich anhört wie Morrje.

Noch bis ins spätere 20. Jahrhundert hinein war es tatsächlich nicht ungewöhnlich, dass man in den südlicheren Gebieten Deutschlands das niederdeutsche moin! nicht kannte. Heute, aufgrund der viel größeren Mobilität (viele Menschen ziehen beispielsweise berufsbedingt in andere Dialektregionen) und auch aufgrund der viel größeren Informationsfülle, die uns das Internetzeitalter beschert hat, ist es auch anderswo als in Norddeutschland bekannt, dass moin! nicht ›Morgen‹ bedeutet, sondern ›gut‹ oder ›schön‹. Es gibt ein niederdeutsches Adjektiv („Eigenschaftswort“) moi(e) mit ebendieser Bedeutung, und also wird bei der Begrüßung moin! nicht das Adjektiv weggelassen, so wie es bei der Begrüßung Morgen! (verkürzt aus Guten Morgen!) der Fall ist, sondern das Substantiv („Hauptwort“). Man wünscht sich also in Norddeutschland ›einen guten‹ – ob Morgen, Tag oder Abend spielt dabei keine Rolle; das kann man sich je nach Tageszeit richtig dazu denken. Erklärt man das jemandem, der aus Südhessen kommt, wird er verständnisvoll nicken: Im Hessischen macht man es auf seine Weise genauso mit der Begrüßung Ei gude wie? (›Ei, guten Morgen/Tag/Abend; wie geht es Ihnen/dir?‹).

Dialektale Verschiedenheiten bei der Begrüßung gibt es übrigens auch innerhalb Süddeutschlands. So ist aus Weinheim an der Bergstraße (Dialekt: Kurpfälzisch, also Westmitteldeutsch, normale Begrüßung: gun Morje!/gun Dach!/gun Oowend!) das Erlebnis eines kleinen Jungen überliefert, der vor der Haustür spielte. Ein Tourist, offenbar aus Bayern, kam vorbei und sagte, wie in Bayern bekanntermaßen üblich: Grüß Gott! Der Kleine lief daraufhin empört zu seiner Mutter ins Haus und beklagte sich: „Da war eben ein Mann, der hat Grießknopp zu mir gesagt!“    ⋄    Jochen A. Bär

(89) 30. März – fremdschämen

Das heutige Wort ist eines, das erst die allerjüngste Sprachgeschichte kennt. Vorgeschlagen wurde es von Jana Tereick (Universität Hamburg), die auch Lehrbeauftragte an der Universität Vechta ist.

Fremdschämen: Das Gefühl stellt sich ein, wenn man beobachtet, wie sich jemand anders peinlich benimmt. Der früheste Beleg, den man für das Neuwort (fachsprachlich: den Neologismus) in der größten Datenbank zur deutschen Gegenwartssprache, den digitalen Textsammlungen des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache findet, ist ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2005. Über den TV-Komiker (neudeutsch: Comedian) Oliver Pocher schrieb damals der Mannheimer Morgen: „Bei Pocher, der mit seinen 27 Jahren ausschaut wie ein Pennäler, den seine Mami mit Absicht vergessen hat, aus dem Ferienlager abzuholen, wirkt vieles wie auf einer Schülerparty – wenn der Klassenclown spontan ein paar Einlagen gibt, die dann immer so peinliche Stellen haben, dass man sich ‚fremdschämt‘ und betreten wegschaut.“

2009 schaffte es fremdschämen in den Duden, 2010 war es das Wort des Jahres in Österreich. „Dieses Wort“, begründete damals die Jury ihre Wahl, „beschreibt Empfindungen, die auftreten, wenn jemandem die Verhaltensweisen einer anderen (meist bekannten) Person oder Gruppe so peinlich sind, dass man sich für diese schämt, während dies bei der betreffenden Personen gerade nicht der Fall ist. Angesichts des Verlusts an Qualität in vielen Bereichen (Bildung, Verwaltung, Krankenwesen usw.) und der Stagnation in der heimischen Politik verschiebt sich das Verantwortungsgefühl auf die einzelnen Bürger, die sich für die Zustände und die dafür Verantwortlichen immer öfter genieren (fremdschämen) [...]. Zum Wort des Jahres wurde es, da es auf ein weit verbreitetes Unbehagen verweist und als Wortschöpfung originell ist: ein durch ein Adjektiv bestimmtes Verb, das eine neue Art des (kollektiven) sich Schämens für andere bezeichnet.“

Grammatisch ist die Zusammensetzung von fremd und schämen nicht deshalb interessant, weil hier ein Adjektiv („Eigenschaftswort“) ein Verb („Zeitwort“) näher bestimmt, sondern weil es sich um ein so genanntes prädikatives Adjektiv handelt: Es benennt keine Eigenschaft des Verbs, sondern derjenigen Größe, auf die sich das Verb bezieht. Bei den Tisch blankputzen ist nicht das Putzen blank, sondern der Tisch soll es werden. Bei fremdschämen schämt man sich als ein Fremder.    ⋄    Jochen A. Bär

(90) 31. März – schicken

Die deutsche Sprache kennt eine Reihe von Wörtern, die scheinbar das Gleiche bedeuten (so genannte Synonyme). Oft ist aber bei genauerem Hinsehen doch ein Unterschied festzustellen. So denkt man wohl, dass bekommen und erhalten oder sicher und gewiss oder essen und speisen oder schlagen und hauen oder auch schicken und senden Synonyme sind. Aber zwischen ein Kind bekommen (›gebären‹) und ein Kind erhalten (altertümlich für ›ernähren, am Leben erhalten‹) ist ein Unterschied. Bei Gefahr rettet man sich an einen sicheren Ort, nicht an einen gewissen. Christus speiste (nicht: ) fünftausend Menschen. Die Standuhr schlägt die Stunden, aber sie haut sie nicht. Und von einem Diplomaten soll Otto von Bismarck gesagt haben: Er ist ein Gesandter, aber kein geschickter.

Schicken ist mit dem in geschehen bekannten Verb verwandt. Das einfache schehen ist heute ausgestorben, aber im Althochdeutschen kannte man es noch in der Form skehan. Es bedeutete ›eilen, rennen, laufen, schnell fortgehen‹. Schicken ist dazu das kausative Verb. Das heißt: Schicken bringt zum Ausdruck, dass dasjenige, was schehen bedeutete, verursacht wird: ›jemanden oder etwas eilen/rennen/laufen machen‹. Von dieser ursprünglichen Bedeutung leitet sich dann die heutige Bedeutung ›etwas auf den Weg bringen‹ ab.

Senden bedeutete schon von Anfang an etwas ganz Ähnliches: ›reisen machen, auf die Reise schicken‹. Es ist verwandt mit dem Wort Sinn, das ursprünglich ebenfalls ›Weg, Reise‹ hieß. Das zugehörige Verb sinnen stand für ›einen Weg, eine Fährte verfolgen‹, im übertragenen Sinne dann für ›einen Gedanken, ein Ziel verfolgen‹. Etwas, das man im Sinn hat, beabsichtigte man zunächst nur, später konnte etwas im Sinn haben aber auch ›an etwas denken‹ bedeuten. So kommt auch Sinn zu der Vielzahl von Bedeutungen, die es heute hat, unter anderem ›Wahrnehmungsfähigkeit, Gespür‹ (so in die fünf Sinne oder einen Sinn für etwas haben) und ›Bedeutung, (tieferer) Bedeutungsgehalt‹ (in Wortsinn, auch in tieferer Sinn oder das hat keinen Sinn).

Morgen ist der 1. April. Spätestens seit 1618 kennt man für den Brauch, an diesem Tag jemandem einen Streich zu spielen, die Redewendung jemanden in den April schicken (nicht: senden). Vermutlich leitet sie sich davon ab, dass man in solchen Fällen gerne jemanden einen vergeblichen Gang tun ließ. Wir erzählen dies bewusst schon heute, damit niemand befürchten muss, es handle sich seinerseits um einen Aprilscherz. Und ebenfalls kein solcher ist es, wenn wir vorausschicken, dass wir zu einem späteren Zeitpunkt noch etwas Schickes zu schicken nachtragen wollen (vgl.

schnieke

, das am 12. April behandelt wird).    ⋄    Jochen A. Bär