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Germanistische Sprachwissenschaft

Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten

Das Jahr der Wörter

(335) 1. Dezember – Kerze

Gestern hat Professor Kürschner in dieser Reihe den Advent eingeläutet: „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt ...“ Da die Adventszeit eben traditionell Kerzenzeit ist, wird es nicht verwundern, dass wir gleich im Anschluss das Wort Kerze behandeln.

Wieder einmal haben wir es hier mit einem Ausdruck zu tun, dessen Herkunft nicht geklärt ist. Mindestens drei Herleitungmöglichkeiten werden in den Wörterbüchern diskutiert. Erstens könnte das Wort, das im Althochdeutschen charza oder auch kerza lautete, aus lateinisch charta (›Papyrusblatt, Schreibmaterial‹) entlehnt worden sein, weil Kerzen zunächst und lange Zeit aus gewickelter, in Öl getränkter Birkenrinde gefertigt wurden und Birkenrinde auch als Schreibmaterial diente.

Zweitens könnte das lateinische (candela) cerata (›Wachslicht‹) zugrunde liegen: Das z in Kerze war ursprünglich ein t, wie man an der mittelniederdeutschen Form kerte erkennt. Das Niederdeutsche bewahrt bis heute die ältere Lautung, die auch in den übrigen germanischen Sprachen erscheint, wohingegen das Hochdeutsche die so genannte zweite Lautverschiebung durchlaufen hat. In dieser wurde unter anderem t zu z; so entspricht das niederdeutsche tellen (ebenso wie das englische to tell) dem hochdeutschen (er)zählen und niederdeutsch Tied (ebenso wie englisch tide) dem hochdeutschen Zeit.

Drittens könnte Kerze von dem alten Wort karz (›Werg‹) abgeleitet sein und sich also dadurch erklären, dass man den Kerzendocht aus Werg herstellte, also aus Fasern, die beim Spinnen von Hanf oder Flachs abfielen. Dazu passt das Verb („Zeitwort“) karzen (›verwirren, durcheinanderbringen, verdrehen, verflechten‹), das in manchen Mundarten, beispielsweise dem Schlesischen, belegt ist und sich bei Kerze auf das Zusammendrehen der Fasern zum Docht beziehen würde.

Dass es ausgerechnet bei Kerze nicht gelingen will, Licht ins Dunkel zu bringen, mag unbefriedigend sein. Es ist aber durchaus passend, wenn man bedenkt, dass Kerzen früher oft aus minderwertigem Talg hergestellt wurden. Diese so genannten Unschlittkerzen rußten stark; was sie an Licht gaben, wurde nicht selten durch den Qualm wieder zunichte gemacht.

Wie auch immer: Unser Wort hat, ausgehend von der Bedeutung ›(meist zylindrisches) Gebilde aus gegossenem Wachs o. Ä. mit einem Docht in der Mitte, der mit offener Flamme brennend Licht gibt‹ mehrere übertragene Verwendungsweisen entwickelt. So versteht man unter Kerzen beispielsweise die Blütenstände der Rosskastanien und – in der Turnersprache – den Nackenstand. Im Fußballjargon ist eine Kerze ein steil in die Höhe geschossener Ball, und in der Technik ist das Wort die Kurzform von Zündkerze.    ⋄    Jochen A. Bär

(336) 2. Dezember – Pudelmütze

Unser heutiges Wort wurde vorgeschlagen von den Kindern der Grundschule Rechterfeld. Wir haben es naturgemäß für die kalte Jahreszeit aufgespart, in welche die dadurch bezeichnete Sache (eine „rund um den Kopf anliegende, über die Ohren zu ziehende gestrickte, gehäkelte Wollmütze“, erläutert das große Dudenwörterbuch) nun mal gehört.

A propos „gehört“: Zur prototypischen Pudelmütze gehört ein Bommel oder Pompon, das heißt eine ballähnliche, weiche Quaste. Gibt man in eine Internet-Suchmaschine das Wort Pudelmütze ein und lässt sich statt Webseiten Bilder anzeigen, so kommen hunderte von Abbildungen bunter Mützen mit Bommel und nur ganz vereinzelt mal eine ohne einen solchen.

Die Pudelmütze ist, so der große Duden, „nach der Ähnlichkeit mit dem krausen Haar des Pudels“ benannt. Grund für die Benennung ist also, recht einfach, die Oberflächenbeschaffenheit der Mütze. Ganz so sprachlich einfach ist es aber um die Pudelmütze denn doch nicht bestellt. Das bemerkt man sehr schnell, wenn man die einschlägigen Wörterbücher zu Rate zieht. Es sind die beiden Wortbestandteile, die für sich erklärt sein wollen.

Der Pudel stammt aus dem Niederdeutschen, von wo er erst im 18. Jahrhundert ins Hochdeutsche Einzug hielt. Das Wort ist die Kurzform von Pudelhund, einer Zusammensetzung, in der pudeln (auch puddeln oder buddeln) steckt. Das bedeutet so viel wie ›im Wasser plätschern‹. Der Hund – es handelt sich um eine der klügsten Hunderassen – verdankt also seinen Namen seiner Vorliebe fürs Wasser; nicht umsonst nannte man ihn früher auch Wasserhund. Literarische Bekanntheit erlangte der Pudel insbesondere durch Goethes Faust, wo der Teufel der Titelfigur zuerst in Form eines Pudels erscheint: „des Pudels Kern“.

Die Mütze kennt man als almuz oder ar(e)muz (›Chorkappe eines Geistlichen‹) bereits im Mittelhochdeutschen; bereits im Frühneuhochdeutschen des 15. Jahrhunderts ist der Wortanfang abgefallen; es begegnen Schreibungen wie mutz, mutse, mütze, oder mycze. Als zugrundeliegend darf wohl das mittellateinische Wort almucium oder almucia (›geistliche Kopfbedeckung, Art Kapuze, die Kopf und Schultern bedeckt‹) angesehen werden. Woher dieses kommt – ob aus dem Arabischen oder, wie auch angenommen wurde, aus dem Germanischen –, ist unsicher.

Doch wie auch immer es um die Wortherkunft bestellt sein mag: Hauptsache, die Pudelmütze erfüllt ihren Zweck und wärmt Kopf und Ohren. Kalt genug ist es ja mittlerweile wieder dafür.    ⋄    Jochen A. Bär

(337) 3. Dezember – abspenstig

Jemandem etwas oder jemanden abspenstig machen bedeutet so viel wie ›jemanden dazu bringen, sich von einem anderen abzuwenden‹. So kann man einer Partei die Wähler oder einer Firma die Mitarbeiter abspenstig machen.

Wer jetzt etwa vermutet, dass abspenstig etwas mit dem Gespenst zu tun hat – der hat Recht! Es ist in der Tat die gleiche Basis, die beiden Wörtern zugrunde liegt. Denn in abspenstig steckt das mittelhochdeutsch abspanen oder auch abspenen, das so viel wie ›abwerben‹ bedeutet. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war es eine gängige Praxis, anderen – meist den Nachbarn – die Knechte und Mägde, Gesellen oder sonstiges Gesinde abzuwerben. Noch heute verwendet man gleichbedeutend zu jemandem jemanden abspenstig machen auch jemandem jemanden ausspannen. Das Grundwort zu abspanen ist spanen (›locken, anlocken, an sich ziehen‹), das seinerseits mit spannen (›spannen, dehnen, straff, fest anziehen‹) eng verwandt ist.

Und was hat das Gespenst damit zu tun? – Dieses Wort bedeutete ursprünglich so viel wie ›Anlockung, Verführung‹ und wandelte sich erst nach und nach zu ›Spukgestalt, Geist, übler Dämon‹. Die Gespenster der alten Zeit gaukelten den Menschen zunächst schöne Dinge vor, um sie ins Verderben zu locken, und erst, wenn der so Angelockte der Verführung widerstand, zeigten sich die Geister in ihrer schrecklichen Gestalt. Bekannt ist diese Praxis aus Goethes Ballade Erlkönig, in der ein Knabe von dem Geisterkönig zunächst freundlich umworben („Du liebes Kind, komm, geh mit mir! | Gar schöne Spiele spiel ich mit dir; | Manch bunte Blumen sind an dem Strand; | Meine Mutter hat manch gülden Gewand“) und erst aufgrund seiner Weigerung – nicht umsonst spricht man von Widerspenstigkeit (wörtlich: dem Widerstehen der Verlockung) – bedroht wird („Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; | Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“)

Nicht verwandt mit span(n)en ist der Span (›dünnes Holzstück, Splitter‹), und ein wiederum anderes Wort steckt im Spanferkel. Letzteres ist nicht etwa ein Ferkel, das man an einem Holzspan über dem Feuer brät, sondern in diesem Wort findet sich das alte Verb („Zeitwort“) spenen (›nähren, säugen‹), das auch dem althochdeutschen spunni (mittelhochdeutsch spünne: ›Zitze, Brustwarze‹, in der Fachsprache der Jäger ist Spinne das Gesäuge des weiblichen Schalentiers) zugrunde liegt. Das Spanferkel ist also dasjenige Ferkel, das noch gesäugt wird oder das erst kürzlich entwöhnt wurde. Mit abspenstig machen hat das aber wiederum nichts zu tun, ebenso wenig wie die jägersprachliche Spinne mit der Spinne im Netz oder dem Verb spinnen. Und auch das Gespinst (›Gesponnenes, zartes Gewebe‹) ist mit dem Gespenst nicht verwandt.

Wie man sieht, muss man genau hinschauen. Tut man das, so ist Sprachgeschichte auch im letzten Monat des Wörterjahres immer wieder spannend.    ⋄    Jochen A. Bär

(338) 4. Dezember – Mumpitz

Das heutige Wort behandeln wir auf Vorschlag der letztjährigen Klasse 9c des Gymnasiums Damme. Es ist, was aufgrund der lautlichen Ähnlichkeit wohl auch kaum verwundert, mit (ver)mummen (›maskieren, bis zur Unkenntlichkeit verkleiden‹) verwandt. Wahrscheinlich geht dieses mummen auf einen lautmalerischen Ausdruck für ›brummeln, undeutlich sprechen‹ zurück, den man heute noch in mummeln oder mümmeln und übrigens auch im englischen to mumble (›murmeln, kauen‹) kennt. Da maskierte Personen, durch die Vermummung behindert, dumpfe Laute von sich geben, könnte sich die Bedeutung in dieser Weise entwickelt haben. Davon abgeleitet ist Mummenschanz (›Maskerade‹), dessen zweiten Bestandteil Schanz wir heute als Chance kennen: Das Wort bedeutete ursprünglich ›Glücksspiel, Würfelspiel‹. Der (früher auch: die) Mummenschanz ist das Glücksspiel, das in der Fastnachtszeit von maskierten Personen gespielt wurde, so dass die Bedeutung hin zu ›Verkleidung‹ verallgemeinert wurde.

Mumpitz, ein umgangssprachliches Wort für ›Unsinn, Gerede, das man nicht zu beachten braucht‹, ist im 19. Jahrhundert im Berliner Börsenjargon aufgekommen und hat sich von dort aus verbreitet. Wahrscheinlich ist es aus Mumme (›verhülltes Schreckgespenst‹) und Butz(e) (›Kobold, Knirps, Poltergeist‹: bekannt aus dem Kinderlied „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum“) zusammengesetzt. Im oberhessischen Dialekt gibt es das Wort Mombotz (›Gespenst, Schreckgestalt‹); das Frühneuhochdeutsche kannte den Butzenmummel (›Popanz, Vogelscheuche‹), und noch im 17. Jahrhundert war Mummelputz ein Ausdruck für ›Vogelscheuche‹. Davon ausgehend konnte dann später Mumpitz, zunächst in der Bedeutung ›schreckenerregendes Gerede oder Tun‹, gebildet werden.

In den uns zugänglichen Textsammlungen zur deutschen Literaturgeschichte findet sich Mumpitz seit dem späten 19. Jahrhundert. Theodor Fontane gebraucht es in seiner Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig. Bei dem österreichischen Schriftsteller Peter Altenberg (1859–1919) liest man: „Meine Krankheit verflüchtigte sich. Die Ärzte schrieben es auf ihr Konto, besonders auf Injektionen und Lezithin. Aber das war alles schamloser Mumpitz.“ Und der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931) berichtet, dass er von seinen Studenten, weil er ihnen manches vortrug, das ihnen unverständlich war, Wilhelm Mumpitz genannt wurde.    ⋄    Jochen A. Bär

(339) 5. Dezember – quicklebendig

Der heutige Vorschlag für das „Jahr der Wörter“ stammt von Reinhard Sundermann aus Bakum. Sucht man nach der Bedeutung des emotional markierten Adjektivs quicklebendig, so findet man im großen Duden, dass es ›voll sprühender Lebendigkeit, überaus munter‹ bedeutet. Pfeifers Etymologisches Wörterbuch des Deutschen gibt darüber hinaus die Bedeutung ›sehr lebhaft, beweglich, temperamentvoll‹ an und macht den Zusatz „19. Jahrhundert“ – eine Erklärung dafür, warum das Wort in Grimms Deutschem Wörterbuch noch nicht verzeichnet ist, wohl aber der erste Bestandteil queck bzw. quick (›lebendig, lebensfrisch, sehr regsam, munter‹).

Zur Herkunft von quick lässt sich Folgendes sagen: Es ist nach dem Duden-Herkunftswörterbuch die niederdeutsche Variante des neuhochdeutschen keck, wobei in quicklebendig der ursprüngliche Anlaut qu- erhalten geblieben ist. Das mittelhochdeutsche keck/quec (›lebendig; lebhaft; frisch; munter; stark, fest; mutig‹) gehört zusammen mit niederländisch kwi(e)k, englisch quick, schwedisch kvick und gotisch quis zur Wortgruppe der erschließbaren indoeuropäischen Wurzel guei- , die ›leben‹ bedeutet. Ein weiteres, ebenfalls auf dieser Wurzel beruhendes Wort ist das griechische bios ›Leben‹, das zum Beispiel in Biologie (›Lehre von der belebten Natur‹) zu finden ist.

Beim zweiten Bestandteil lebendig handelt es sich um eine Weiterbildung des Verbs leben, welches mit bleiben in Verbindung steht und zur indogermanischen Wurzel *(s)lei- ›feucht, schleimig, klebrig sein, kleben (bleiben)‹ gehört.

Im heutigen Sprachgebrauch wird Leben für gewöhnlich als reines Substantiv empfunden. Zunächst gab es aber zu dem Verb leben die Substantivbildung Leib in der Bedeutung ›Leben‹; erst später wurde die substantivierte Verbform das Leben gebildet.

Quicklebendig stellt damit ein klassisches Kompositum dar. Pfeifer weist auf die Gleichheit der Bedeutung der beiden Glieder hin, was eine Verstärkung zum Ausdruck bringe. Eine weitere Art der Wortbildung finden wir beim zweiten Bestandteil lebendig. Hier liegt eine Ableitung mit -ig vom 1. Partizip des Verbs leben (lebend) vor. Damit einher geht die Änderung der Wortart vom Verb zum Adjektiv.

Als synonym zu quicklebendig gelten unter anderem aufgeweckt, dynamisch, munter, quecksilbrig und – umgangssprachlich – putzmunter. Quecksilbrig (›äußerst lebhaft und von Unruhe erfüllt‹) ist eine Ableitung zu Quecksilber, das seinerseits als Zusammensetzung aus keck und Silber erscheint und nach Pfeifer eine Übersetzung des lateinischen argentum vivum – zu Deutsch: ›lebendiges Silber‹ – ist.    ⋄    Vera Willgosch

(340) 6. Dezember – Pfeffernuss

Der Nikolaus hat eigentlich nichts mit Weihnachten zu tun – aber da der Nikolaustag in die Vorweihnachtszeit fällt und hierzulande der heilige Nikolaus, der zu Lebzeiten die armen Kinder beschenkt hat, schon längst seine Zuständigkeit auf alle Kinder und nicht selten sogar auf die Erwachsenen ausgeweitet hat, findet heute vielerorts schon mal die „kleine Bescherung“ statt. Bei uns zuhause wurden am 6. Dezember, sobald es draußen zu dunkeln begann, die größten Stiefel vor die Tür gestellt, und wir Kinder passten auf wie die Luchse, um den Nikolaus zu erwischen, wenn er etwas hineinsteckte. Geklappt hat das nie, obwohl jedes Jahr dann früher oder später die Stiefel doch gefüllt waren ...

Der Nikolaus brachte immer so dies und das, Spielzeug, Schokolade, Mandarinen und auch Pfeffernüsse. Wir sagten in Süddeutschland allerdings Lebkuchen dazu; das Wort Pfeffernuss kannten wir nicht und hätten es auch kaum verstanden. Denn bekanntlich sind Pfeffernüsse keine Nüsse, und mit Pfeffer haben sie auch nichts zu tun. Es handelt sich um würziges Gebäck, das – so erklärt sich der zweite Wortbestandteil – in Größe und Form an Nüsse erinnert. Natürlich kennt man Leb- oder Pfefferkuchen oder Printen (wie sie in Aachen heißen) darüber hinaus in allen möglichen Erscheinungsformen, sei es flach oder kugelig, rund oder eckig, mit Zuckerglasur oder ohne, bestreut oder plan.

Pfeffer, wie gesagt, ist in aller Regel keine Zutat für Pfefferkuchen und -nüsse. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, als Pfeffer mit Gold aufgewogen wurde, gebrauchte man das Wort Pfeffer aber für Gewürze ganz unterschiedlicher Art, beispielsweise für Muskat, Zimt oder Nelken, und so erklärt sich der erste Wortbestandteil dann doch. Wie wertvoll Gewürze damals tatsächlich waren – sie kamen in der Regel von weit her, früher über die Fernhandelswege, dann oft aus Übersee –, zeigt ein heute kaum noch gebräuchliches Wort, dem man die Kostbarkeit förmlich anhört: Spezerei (›orientalisches Gewürz, Delikatesse‹). Darin steckt lateinisch species (›Gattung Sorte‹); es war ursprünglich der im Gewürzhandel übliche Fachausdruck für verschiedene Arten aromatischer Substanzen.

Ob auch die Schülerinnen und Schüler aus der letztjährigen Klasse 8a der Vechtaer Liebfrauenschule, die das Wort Pfeffernuss für unsere Kolumne vorgeschlagen haben, heute Pfeffernüsse bekommen, wissen wir nicht. Hoffen wir einfach mal, dass bei ihnen und allen anderen, die es verdient haben, der Nikolaus brav sein wird.    ⋄    Jochen A. Bär

(341) 7. Dezember – Schwermut

Unser heutiges Wort gehört offenbar zu den beliebteren Wörtern der deutschen Sprache: Es wurde gleich zweimal für unsere Kolumne vorgeschlagen, von Andrea Hornemann und von Reinhard Schwill aus Vechta. Sicherlich ist der Grund dafür nicht, dass das Wort eine besonders erfreuliche Bedeutung hätte. Denn laut großem Duden bedeutet Schwermut ›durch Traurigkeit, Mutlosigkeit und innere Leere gekennzeichneter lähmender Gemütszustand‹. Früher nannte man dergleichen auch Melancholie (von griechisch melanos cholos ›schwarze Galle‹, einem der vier Körpersäfte, die nach antiker Auffassung den Charakter, das Temperament und die Stimmungen des Menschen beeinflussen). Heute, da die Medizin eine andere ist, sagt man dazu Depression, depressive Verstimmung oder ähnlich.

Die Bildungen mit -mut sind entweder Maskulina oder Feminina: Sie haben entweder „männliches“ oder „weibliches Geschlecht“. Maskulina sind z. B.: der Wagemut, der Übermut, der Hochmut, der Kleinmut, der Wankelmut, der Gleichmut. Feminina sind beispielsweise: die Anmut, die Demut, die Großmut und eben die Schwermut. Zu diesem auf den ersten Blick unregelmäßigen Genus kann es kommen, weil die Feminina wie Schwermut nicht als Substantivkomposita mit dem Zweitglied Mut (›seelische Verfassung, Stimmung‹, insbesondere ›Tapferkeit‹) gebildet, sondern als Rückbildungen von Adjektiven zu verstehen sind: Sanftmut ist rückgebildet aus sanftmütig, Wehmut aus wehmütig usw., und Schwermut eben aus schwermütig usw. Anders als bei Ableitungen, bei denen durch Hinzufügung eines Suffixes (einer „Endung“) ein neues Wort gebildet wird – Mut + -ig = mutig –, lassen sich Rückbildungen so verstehen, dass ein Suffix durch ein anderes ersetzt und dabei die ursprüngliche Wortart wiederhergestellt wird. Im Fall von -mut war es ein Suffix, das im Mittelhochdeutschen als unbetontes -e erschien und im Laufe der Zeit so wenig betont wurde, dass es zuletzt gar nicht mehr gesprochen oder geschrieben wurde.

Einer, der depressive Stimmungen aus eigenem Erleben kannte, war der romantische Dichter Clemens Brentano. Er hat die Thematik auch literarisch verarbeitet, in einer Strophe voll Düsternis: „Schwermut glänzt des Mondes Helle | In mein tränenloses Aug’, | Schatten schweben durch die Zelle, | Seufzer lispeln, Geisterhauch | Rauschet bang durch meine Saiten, | Horchend heb’ ich nun die Hand, | Und es pochen, Trost im Leiden, | Totenuhren in der Wand.“    ⋄    Jochen A. Bär

(342) 8. Dezember – nüchtern

Wer nüchtern ist, muss keine Angst vor der Alkoholkontrolle haben: Nüchtern bedeutet null Promille. Es bedeutet aber auch, dass man längere Zeit nichts gegessen hat. Zu bestimmten ärztlichen Untersuchungen, beispielsweise zur Blutabnahme, geht man nüchtern, und auf nüchternen Magen verträgt man im Allgemeinen weder Schreck noch Schnaps.

Unser Adjektiv ist ein altes Lehnwort; es geht zurück auf das lateinische nocturnus (›nächtlich‹) und bezog sich bei den mittelalterlichen Mönchen auf die Tatsache, dass man zum Frühgottesdienst – der nach heutigen Begriffen mitten in der Nacht stattfand – ging, ohne gefrühstückt zu haben. Da man in der Nacht, gleich ob man sie schlafend, betend oder büßend verbrachte, nichts zu sich nahm, war ›nächtlich‹ gleichbedeutend mit ›fastend‹. Erst nach der Frühmesse gab es etwas zu essen. Das englische Wort für ›Frühstück‹, breakfast, erinnert daran noch heute: Es bedeutet wörtlich nichts anderes als ›Fastenbrechen‹.

Im übertragenen Sinne bedeutet nüchtern heute auch so viel wie ›trocken, sachlich, auf das Zweckmäßige beschränkt‹ (ein nüchterner Vortrag, eine nüchterne Politikerin usw.).

Interessant ist, dass es in der deutschen Sprache zwar Antonyme („Gegensatzwörter“) zu nüchtern im ersten Sinne gibt (betrunken, besoffen, alkoholisiert usw.), dass es aber kein Antonym zu durstig gibt. Wenn man satt ist, hat man genug gegessen, ist also nicht mehr hungrig. Wenn man keinen Durst (mehr) hat – was ist man dann? Voll ist man nicht – das wäre ein weiteres Antonym zu nüchtern.

Die vermutlich bekannteste Antonymenlücke des Deutschen hatte die Gesellschaft für deutsche Sprache bereits Anfang der 1990er Jahre zum Gegenstand einer Preisaufgabe gemacht. Fast tausend Vorschläge gingen ein: von schmöll (einer Prägung des Satirikers Robert Gernhardt), storp, bunz und schmackel über plusch, gork, blubb, schwapp, quell, quick, schöppi und mollstig (im Gegensatz zu durstig) bis hin zu tidiert, aquid, plen und suffekt. Alle Einsender präsentierten jedoch neu erfundene oder geprägte Ausdrücke, keine schon vorhandenen, so dass der Preis nicht vergeben wurde. 1999 lancierte die Duden-Redaktion ein weiteres Preisausschreiben, bei dem es nun explizit ums Erfinden ging. Aus nunmehr fast 45.000 Beiträgen wählte eine Jury ihren Favoriten: sitt.

Dieses Ulkwort, obwohl seinerzeit groß propagiert, hat es bis heute weder in den allgemeinen Wortschatz noch selbst auch nur in eines der Nachschlagewerke der Marke Duden geschafft. Ganz nüchtern muss man also feststellen: Die Deutschen haben zwar einen Begriff von ›zuviel getrunken‹, aber nicht von ›genug getrunken‹ ...    ⋄    Jochen A. Bär

(343) 9. Dezember – Lampenfieber

Unter Lampenfieber zu leiden ist alles andere als erfreulich. Man versteht unter diesem von Bernadette Elberfeld für unsere Reihe vorgeschlagenen Wort – nach Auskunft des großen Dudens – ›starke nervöse Erregung, Angst und innere Angespanntheit unmittelbar vor einer Situation, in der man sich zu bewähren hat, besonders vor einem öffentlichen Auftreten, vor einer Prüfung o. Ä.‹. Eine Sonderform des Lampenfiebers ist demnach die Prüfungsangst. Nicht nur in der Schule und im Studium begegnet man dergleichen, sondern durchaus auch bei Menschen, die als „Profis“ eigentlich an öffentliche Auftritte gewöhnt sein müssten. Berühmte Beispiele sind die Pianisten Frédéric Chopin und Vladimir Horowitz, der Cellist Pablo Casals, die Sopranistin Maria Callas, der Tenor Enrico Caruso, die Schauspiellegenden Laurence Olivier und Meryl Streep und der Komiker Heinz Erhardt. „Ich weiß nicht mehr, ob ich Lampenfieber hatte, als ich das Podium betrat und ein paar lyrische Gedichte von mir vortrug“, schreibt Joachim Ringelnatz in seiner Autobiographie. „Jedenfalls wurde es ein völliger Mißerfolg. Nur aus Mitleid klatschten ein paar Hände. Ich verkroch mich kleinlaut.“

Der Ausdruck Lampenfieber ist seit dem 19. Jahrhundert belegt und entstammt dem Bühnenjargon. Er bezieht sich auf die an der Rampe (dem vorderen Rand der Bühne) angebrachte Bühnenbeleuchtung, das so genannte Rampenlicht. Im Französischen ist die Rede von fièvre de la rampe (wörtlich: ›Rampenfieber‹), das vielleicht auf unseren Ausdruck eingewirkt hat. Ein anderer, gleichbedeutender französischer Ausdruck ist le trac; dieser steht möglicherweise in Verbindung mit traquer (›ein Gebüsch durchstöbern, um das Wild zum Ausbrechen zu veranlassen‹).

Die Wortbestandteile von Lampenfieber sind beide aus dem Lateinischen entlehnt. Fieber kommt von lateinisch febris (›erhöhte Körpertemperatur‹), Lampe von lateinisch lampas (›Fackel‹), das seinerseits aus dem Griechischen stammt.

Ein bisschen so etwas wie Lampenfieber ist auch die Angst vor dem leeren Blatt Papier (die heute vielfach als Angst vor dem leeren Bildschirm erscheint) und bei denen verbreitet ist, die Texte schreiben müssen. Man sitzt da und weiß nicht, wie anfangen. Kleiner Tipp: Einfach irgendwie anfangen. Zum Beispiel, indem man feststellt, dass unter Lampenfieber zu leiden alles andere als erfreulich ist. Der Rest kommt von allein, ganz im Sinne Heinrich von Kleists, der einmal einen Aufsatz mit folgendem Titel schrieb: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“.    ⋄    Jochen A. Bär

(344) 10. Dezember – flachsen

Nichts Genaues weiß man nicht – das ist Jannis Niehaus aus Lohne zu antworten, dem wir den Vorschlag verdanken, das Wort flachsen zu behandeln. Die eine Deutung für dieses Verb („Tätigkeits-, Zeitwort“) ist die, dass es abgeleitet ist vom Substantiv („Nomen/Namen-, Dingwort“) Flachs. Beim Flachs handelt es sich um eine ›einjährige,blau oder weiß blühende Pflanze mit bastreichen Stängeln und ölhaltigen Samen‹. Die Bastfasern im Stängel werden selber auch Flachs genannt und zur Herstellung von Leinengewebe verwendet. Dabei kommt eine Hechel zum Einsatz, ein ›kammartiges Gerät, an dessen spitzen Metallstiften Flachs- und Hanffasern gereinigt, geglättet und voneinander getrennt werden‹ (so wortgleich im Großen und im Universalduden). Heutzutage ist das Gerät bestenfalls im Museum zu besichtigen – es ist längst durch Faseraufschlussmaschinen ersetzt. Wenn Flachs durch die Hechel gezogen wurde, nannte man dies das Durchhecheln, ein Wort, das noch immer in der Umgangssprache im abwertenden Sinn gebraucht wird und so viel bedeutet wie ›sich über jemanden oder etwas in spöttischer Weise verbreiten‹ (die Nachbarn durchhecheln, die Affäre wurde in allen Zeitungen durchgehechelt). Das war, wie die genannten Wörterbücher vorsichtig mutmaßen, die Grundlage für unser Wort flachsen, bei dem es sich „vielleicht um eine scherzhafte Verwendung des ostmitteldeutschen Wortes für (durch)hecheln“, eben flachsen, handeln könnte.

Diese Anknüpfung hält Pfeifer in seinem Etymologischen Wörterbuch für „weniger überzeugend“ – möglicherweise, weil die Bedeutung von flachsen, ›einander necken, anpflaumen, herumblödeln‹, der von (durch)hecheln nicht so ganz entspricht. Pfeifer bevorzugt eine Deutung des Wortes, das erst im 20. Jahrhundert belegt ist, als „Übernahme von rotwelsch flachsen ›schmeicheln, betrügen, narren, aufziehen‹ in die Umgangssprache“. Das Rotwelsche wird im DWDS-Wörterbuch (im Internet) als „frühere Geheimsprache asozialer, meist vagabundierender Personen und Gruppen“ beschrieben, „die auch zur Verschleierung krimineller Inhalte diente und heute nur noch in einzelnen Ausdrücken Verwendung findet“. Stattdessen sagt man auch kurz „Gaunersprache“ (im Sinn der Politischen Korrektheit und des Gendermainstreaming wäre wohl auch „Gaunerinnensprache“ hinzuzufügen).

Wie dem auch immer sei – das heutige Wort gibt Anlass, auf eine orthografische Besonderheit hinzuweisen. Die Lautverbindung „ks“,wie sie im Wort flachsen vorkommt, kann in der Schreibung auf vielfältige Weise wiedergegeben werden: mit nur einem Buchstaben, dem x (wie in Hexe); mit zwei Buchstaben, und zwar ks (wie in Keks) oder gs (wie in flugs); oder gar mit drei Buchstaben,und zwar cks (wie in Klecks) oder chs (wie in Flachs oder Dachs). Welche der fünf Möglichkeiten jeweils zur Anwendung kommt, ist der Aussprache nicht abzuhören – ein weiterer Beleg für die Unzulänglichkeit des Lehrerspruchs „Schreib, wie du sprichst“. Und auch die Umkehrung „Sprich, wie du schreibst“ gilt hier nicht: der Dachs mit „ks“, aber des Dachs mit „chs“ (dem Achlaut) und des Blechs mit dem Ichlaut + „s“.    ⋄    Wilfried Kürschner

(345) 11. Dezember – dämlich

„Fritzchen, tu mir den Gefallen und verwende anstelle des Wortes Weib das Wort Dame!“ – „Wieso denn? Es heißt doch das weibliche Geschlecht und nicht das dämliche Geschlecht.“

Dieser ebenso alte wie schlechte Witz beruht auf einem Wortspiel. Ein Wortspiel, so beschrieb es der Sprachphilosoph, Philologe und Literaturkritiker August Wilhelm Schlegel, „ist ein Gegensatz oder eine Vergleichung zwischen dem Sinne der Wörter und ihrem Klange“. Das bedeutet, man stellt aufgrund des Klangs eine Verbindung zwischen zwei Wörtern her, die miteinander nicht das Geringste zu tun haben. Beispielsweise: „Wenn es heute regnet, wird das Leder billig.“ (Homophonie, will sagen: lautliche Übereinstimmung, zwischen heute und Häute.) Manchmal wird auch mit dem Doppelsinn eines Wortes gespielt: „Bist du per Anhalter gekommen?“ – „Wieso?“ – „Du siehst so mitgenommen aus.“

Die meisten Wortspiele sind ziemlich dämlich, womit wir wieder am Anfang wären. Denn das Wort dämlich sieht zwar aus wie ein von Dame abgeleitetes Adjektiv, hat aber eine ganz andere Herkunft: Es ist abgeleitet von dem niederdeutschen dämeln (›nicht recht bei Sinnen sein‹). Dieses wiederum geht zurück auf eine erschließbare indoeuropäische Wurzel tem- (›dunkel; geistig benommen‹), die in lateinisch temetum (›berauschendes Getränk‹), aber auch im unserer Dämmerung greifbar ist. Dame hingegen wurde im späten 16. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt; der Ursprung dieses Wortes ist das lateinische domina (›Herrin, Gebieterin‹). Das bedeutet: Herrlichkeit ist keineswegs das Gegenteil von Dämlichkeit und nicht nur Damen, sondern selbstverständlich auch Herren können ohne weiteres dämlich sein.

Die meisten heute über Fünfzigjährigen (und vielleicht auch ein paar Jüngere) entsinnen sich übrigens wohl noch der alten Rechtschreibregel: „Wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich.“ Weil nämlich nämlich von Name kommt und Name nichts mit nehmen zu tun hat. Auch wenn das ganze 18. und frühe 19. Jahrhundert und mithin alle unsere Klassiker, Goethe, Schiller, Herder, Wieland und viele andere, sowohl Name mit h (Nahme) als auch nämlich in Anlehnung an nehmen (nehmlich) zu schreiben pflegten. Woran – unter anderem – man erkennen kann, was die Forderung der bis vor etwa zehn Jahren publizistisch höchst aktiven, heute jedoch weitgehend verstummten Gegner der neuen Rechtschreibung ist, man dürfe doch bitte die Schreibung der klassischen deutschen Literatur nicht preisgeben, da ansonsten der Untergang des Abendlandes drohe: dämlich.    ⋄    Jochen A. Bär

(346) 12. Dezember – Kaschemme

Der Zeichner, Maler und Fotograf Heinrich Zille (1858–1929) war ein Stammgast in den Kneipen oder auch Kaschemmen des Berliner „Milljöhs“ – so schrieb er selbst das Wort Milieu –, wo er seine bevorzugten Sujets fand: Szenen aus der proletarischen Unterschicht. Der „Pinselheinrich“, wie er liebevoll genannt wurde, genoss Ruhm als virtuoser Porträtzeichner. Seine Arbeiten riefen aufgrund ihrer Sozialkritik am Wilheminischen Kaiserreich jedoch nicht immer Zustimmung hervor. Seine teilweise bitterbösen Zeichnungen waren abgründig: „Wenn ick will, kann ick Blut in den Schnee spucken …“, rühmt sich in einer seiner Zeichnungen ein schwindsüchtiges kleines Mädchen gegenüber seiner Mutter. Eine Zille-Ausstellung kommentierte ein Offizier erbost: „Der Kerl nimmt einem ja die janze Lebensfreude!“

Aus Zilles Arbeiten erkennt man, wie es Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in den Berliner Kaschemmen zuging. Unter anderem, dass die Löffel mit Ketten am Tisch befestigt waren, damit sie nicht stibitzt wurden. Aber auch in die Literatur hat es die Kaschemme geschafft, beispielsweise bei Alfred Henschke (1890–1928, der unter dem Pseudonym Klabund bekannt wurde: „Es tickt wo eine Uhr. Der Bäckerjunge tappert | Und schleppt im Sack Verschlafenheit und Bemme. | Von nebenan schwirrt, summt aus der Kaschemme | Ein trübes Lied auf trübgestimmter Zither.“

Kaschemme bedeutet, dem großen Duden zufolge, so viel wie ›übel beleumdetes Lokal‹. Es kommt aus dem Romani (der Roma-Sprache), wo man das Wort katschima in der Bedeutung ›Wirtshaus, Schenke‹ kennt. Es wurde seinerseits aus einer slawischen Sprache entlehnt. Im Tschechischen beispielsweise kennt man krčma (›Taverne‹), im Polnischen karczma (›Kneipe, Schenke‹). Das Wort wurde – als Kretscham oder Kretschem – auch in einige ostmitteldeutsche Dialekte entlehnt. Die Bezeichnung für den Inhaber eines Kretschams, also den Wirt, kennen wir zudem als Familiennamen: Kretschmar oder Kretschmer.

Kaschemme steht für die unterste Kategorie einer Kneipe. Andere Namen dafür sind Spelunke (von lateinisch spelunca bzw. griechisch spelynx ›Höhle‹), im Berliner Raum auch Budike (früher abschätzig, heute eher salopp-familiär), Stampe, Glasbiergeschäft oder Destille. Wie in einem Berliner Traditionslokal auf der Speisekarte zu lesen, hat letzterer Ausdruck „den Vorteil, sich auf einen Lieblingsbesucher solcher Lokalitäten zu reimen: Heinrich Zille“.    ⋄    Jochen A. Bär

(347) 13. Dezember – Lichtgrenze

Über 8000 weiße, leuchtende Ballons erinnerten in Berlin am 9. November 2014, dem Jahrestag der Maueröffnung, auf einer Länge von 15 Kilometern an den Verlauf des „antifaschistischen Schutzwalls“ (so nannte die SED-Propaganda ihr Monstrum) und die frühere Teilung der Stadt. Die filigrane Durchlässigkeit der Installation und das Aufsteigen der Ballons auf dem Höhepunkt der Feierlichkeiten symbolisierten beeindruckend die Auflösung der einst in jeder Hinsicht dunklen Demarkationslinie. Denn die einzigen Lichter, die seinerzeit diese Grenze erleuchtet hatten, waren die der Suchscheinwerfer gewesen.

Die Lichtgrenze, auch Lichtergrenze genannt, setzte in dem ansonsten an positiven Ereignissen und Meldungen – sieht man einmal von der Fußballweltmeisterschaft ab – nicht allzu reichen Jahr 2014 einen hellen Akzent. „So schön war die Grenze nie“, stand auf einer Berliner Internetseite. Einer der Leuchtballons flog bis nach Lettland, drei andere schafften es bis nach Polen und vier weitere in den Westen Deutschlands.

Lichtgrenze wurde am 12. Dezember von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden zum Wort des Jahres 2014 erklärt. Ebenfalls charakteristisch für das zurückliegende Jahr waren nach Ansicht der Jury die Wörter schwarze Null, Götzseidank (bezogen auf das Siegtor von Mario Götze bei der Fußball-WM), Russlandversteher, bahnsinnig (vor dem Hintergrund der völlig überzogenen Bahnstreiks, die auch jetzt offenbar noch nicht ausgestanden sind), Willkommenskultur, Social Freezing (mit diesem Schlagwort wurde in den Medien eine intensive ethische Kontroverse ausgetragen, seit die Firmen Facebook und Apple bekannt gaben, ihren Mitarbeiterinnen kostenlos das Einfrieren von unbefruchteten Eizellen anbieten zu wollen, um den karrierestörenden Kinderwunsch auf spätere Lebensjahre verschieben zu können), Terror-Tourismus (gewaltbereite Islamisten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern reisen nach Syrien, um dort Bürgerkrieg zu „spielen“), Freistoßspray (nach der WM auch im deutschen Profifußball eingeführt) und Generation Kopf unten (steht für die Altersgruppe derer, die immerzu den Kopf gesenkt halten, weil sie sich auf ihr Smartphone konzentrieren).

Die Wörter des Jahres werden von der Gesellschaft für deutsche Sprache (von der im Sommer 2014 ein Zweig Vechta gegründet wurde) seit 1971 bekannt gegeben. Wer sich für die Aktion interessiert und mehr darüber wissen möchte, findet viele Informationen unter https://www.uni-vechta.de/germanistik/sprachwissenschaft/wdj.    ⋄    Jochen A. Bär

(348) 14. Dezember – läuten

Das, was unser heutiges Wort besagt, tun die Glocken in der Adventszeit besonders intensiv. Und überhaupt tun es nur Glocken (allenfalls noch das Telefon oder die Türklingel), zumindest in der Alltagssprache. Die Jägersprache kennt Geläut auch im Sinne von ›Gebell‹: das Geläut der Hundemeute.

Läuten geht zurück auf das althochdeutsche Wort (h)lûtjan, mittelhochdeutsch liuten zurück, das zur Wortbildungsfamilie von laut gehört. Der Umlaut bei läuten ergibt sich durch das germanische, im Althochdeutschen noch erkennbare Suffix -jan, die ›machen, veranlassen‹ bedeutete; so konnte zu faran (›gehen, sich bewegen‹, neuhochdeutsch fahren) ein farjan (neuhochdeutsch führen, wörtlich ›jemanden/etwas gehen machen‹) gebildet werden, und zu (h)lûtên (›klingen, tönen‹, neuhochdeutsch lauten) eben (h)lûtjan. Das j des Suffixes bewirkte den Umlaut der vorangehenden Silbe.

Zunächst wurde noch zwischen dem intransitiven (objektlosen) lauten und dem transitiven (mit Akkusativobjekt verwendeten) läuten unterschieden – die Glocke lautete, aber jemand läutete die Glocke –; doch schon in althochdeutscher Zeit wurden beide Wörter gleichbedeutend verwendet, und nach und nach setzte sich die eingangs erwähnte Differenzierung durch: läuten bezieht sich heute fast ausschließlich auf Glocken.

So auch in dem Gedicht Ein Winterabend des expressionistischen Lyrikers Georg Trakl (1887–1914), das der Philosoph Martin Heidegger zum Ausgangspunkt für eine berühmte Literaturinterpretation nahm. Bei Trakl heißt es: „Wenn der Schnee ans Fenster fällt, | Lang die Abendglocke läutet, | Vielen ist der Tisch bereitet | Und das Haus ist wohlbestellt. || Mancher auf der Wanderschaft | Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden. | Golden blüht der Baum der Gnaden | Aus der Erde kühlem Saft. || Wanderer tritt still herein; / Schmerz versteinerte die Schwelle. | Da erglänzt in reiner Helle. | Auf dem Tische Brot und Wein.“

Heidegger schreibt dazu: „Die erste Strophe schildert, was draußen geschieht: Schneefall und Läuten der Abendglocke. Das Draußen rührt an das Drinnen der menschlichen Wohnstatt. Der Schnee fällt ans Fenster. Die Glocke läutet in jegliches Haus hinein.“ Das Gedicht „nennt den Schnee, der spät am schwindenden Tag, während die Abendglocke läutet, lautlos das Fenster trifft. Bei solchem Flockenfall währt alles Währende länger. Darum läutet die Abendglocke, die täglich ihre streng begrenzte Zeit hindurch ertönt, lang.“

Große Literatur, sieht man, muss nicht alles ausdrücklich sagen. Sie braucht und verlangt den Leser, der zu lesen versteht. Für diesen ergibt sich hier hinter dem kurzen Wortlaut des Läutens ein langer Sinn.    ⋄    Jochen A. Bär

(349) 15. Dezember – Schelm

„Ich bin wieder ein Schelm heute“, pflegte der Komiker Heinz Erhardt mit schelmischem Lächeln zu sagen. Schelm bedeutet, dem großen Duden zufolge, ›jemand, der gern anderen Streiche spielt, Spaßvogel, Schalk‹. Dabei ist Harmlosigkeit impliziert: Ein Schelm tut niemandem weh; man amüsiert sich über seine Späße und hebt allenfalls unernst den Zeigefinger: „Du kleiner Schelm, du!“

Das war nicht immer so. In einer zweiten Verwendungsweise, die laut Duden „veraltet“ ist, bedeutet Schelm so viel wie ›unehrenhafter Mensch, Schurke, Schuft; Betrüger, Verbrecher‹. In dem anoymen Pickelherings Spiel von 1620 heißt es: „mich düncket daß mir mein Fraw ein baar Hörner auffsetzet / denn der Schelm mein Nachbawr Wilhelm weiß sich so bald bey ihr zu finden / wann ich auß dem Hause gehe / ja ja es ist nicht anders der Schelm hülffet mir“. Im Remstal bei Lorch (Baden-Württemberg) gibt es eine Schlucht mit dem Namen Schelmenklinge. Eine Klinge ist nicht nur der Bestandteil eines Messers, Schwertes, Säbels usw., sondern auch eine enge Kluft. Aus dem Heimatbuch der Stadt Lorch geht hervor, dass sich in der Schelmenklinge in früherer Zeit Schelme (also Verbrecher) vor dem Zugriff der Obrigkeit versteckt haben.

Das Wort Schelm gab es bereits im Althochdeutschen (als scelmo oder scalmo); damals bedeutete es ›totes Tier, Kadaver‹. Ebenso wie andere Wörter mit der gleichen Bedeutung (Aas, Luder) wurde Schelm bald zur verächtlichen Bezeichnung für einen als unehrenhaft empfundenen Menschen und zum Schimpfwort. Dies hängt damit zusammen, dass der Schinder oder Abdecker, der im Mittelalter und der frühen Neuzeit die Aufgabe hatte, gestorbene (nicht geschlachtete, sondern auf andere Weise zu Tode gekommene) Tiere zu entsorgen, als ein unehrenhafter Beruf galt. In Annette von Droste-Hülshoffs Erzählung Die Judenbuche heißt es von der Hauptfigur Friedrich Mergel: „Die Leiche ward auf dem Schindanger verscharrt.“ Ein ehrliches – das heißt hier insbesondere: ein katholisches – Begräbnis bleibt ihm als mutmaßlichem Mörder und vor allem Selbstmörder verwehrt; er kommt nicht auf den Friedhof zu seiner Familie, sondern auf den Abdeckplatz. Auf diese Weise wird Friedrich im wörtlichen Sinne zum Schelm (›Aas‹) – als der er bereits zuvor im Text, und zwar scheinbar völlig unverfänglich, bezeichnet worden war: „Herr von S. hatte das innigste Mitleiden mit dem armen Schelm.“ Doch vom Ende der Erzählung, eben vom Schindanger her gelesen, gewinnt die Formulierung armer Schelm ihren dunklen Doppelsinn.

So funktioniert große Literatur: Das Wort hat nicht nur eine Bedeutung im Rahmen der Einzelstelle, sondern auch im ganzen Text.    ⋄    Jochen A. Bär

(350) 16. Dezember – bugsieren

Nicht selten kann man an der äußeren Gestalt eines Wortes einiges über seine Geschichte ablesen – die Herkunft aus einer anderen Sprache etwa oder eine frühere Aussprache. Manche Wörter zeugen aber auch davon, dass ihre Schreibung dereinst von wohlmeinenden Lexikographen fixiert wurde, wodurch sie zum Teil in eine ganz andere Richtung bugsiert wurden, als ihre Herkunft hätte ahnen lassen.

So ist es beim Wort bugsieren: Wortgeschichtlich hat bugsieren nämlich eigentlich mehr mit fixieren zu tun als mit dem Bug, den es mittlerweile als vermeintliches Wortbildungselement in sich trägt. Und das kam so:

Die Herkunft des Wortes liegt aller Wahrscheinlichkeit im portugiesischen puxar, das ›ziehen‹ oder ›schleppen‹ bedeutet. Über die niederländische gelangte es in die deutsche Seemannssprache und bedeutete, wie auch heute noch, das Ziehen oder Schleppen eines größeren Schiffes durch ein oder mehrere kleinere Boote. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde es nicht nur als bugsieren, sondern auch als buxiren, buxieren oder buchsieren geschrieben.

Dann jedoch kam das Bedürfnis auf, die Schreibung festzulegen und logisch zu begründen – und eine Verwandtschaft mit Bug schien gar zu naheliegend: So leitet das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bugsieren vom Wort Bug her und lässt sich auch davon nicht irritieren, dass es gleichzeitig das schwedische buxera als verwandtes Wort angibt. Ähnlich hält es das Weigandsche Wörterbuch von 1857 und gibt als Beleg das niederländische boegseren an. Dass jedoch auch boegseren volksetymologisch aus alternativen Schreibungen entstanden war, wird nicht erwähnt; auch schien sich niemand Gedanken zu machen, ob es das angenommene Verb sieren eigentlich gebe. Es machte denn auch keine Karriere – vielleicht würden wir sonst heute tagsieren und wegsieren statt taxieren und vexieren schreiben?

So sorgte allein der Zufall, dass Schiffe (häufig) am Bug bugsiert werden, für diese Schreibung. Die Herleitung klang so plausibel, dass nicht nur im Niederländischen, sondern auch in anderen Sprachen entsprechend angepasst wurde: das Schwedische bogsera hätte Grimm zum Beispiel heute schon gar nicht mehr auf Abwege manövrieren können.

Gleichzeitig blieben außerhalb der strengen Herrschaft der Wörterbücher die alten Schreibungen durchaus erhalten: Sucht man etwa bei Google Books nach „buchsiert“ und „buxiert“, findet man sowohl Texte aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als auch im Selbstverlag veröffentlichte Bücher aus den letzten Jahren. Da stehen die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ von 1836 neben „Auch Moppelchen können lieben“ von 2011.    ⋄    Jana Tereick

(351) 17. Dezember – korrupt

Wem fiele bei dem Wort korrupt nicht sofort ein anderes Wort ein: Politiker? Das ist nicht etwa ein billiges Klischee oder gar eine böswillige Unterstellung, sondern lässt sich wissenschaftlich belegen. Politiker ist nach Ausweis der Archive des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache, das heißt der weltweit größten digitalen Textsammlungen zur deutschen Gegenwartssprache, das in Pressetexten am häufigsten im Zusammenhang mit korrupt belegte Substantiv. Allerdings muss man aufrichtigerweise hinzufügen, dass es dabei keineswegs immer nur um deutsche Politiker geht.

Korruption ist eines der Grundübel jeder Gesellschaft. Korrupt bedeutet so viel wie ›bestechlich, käuflich oder auf andere Weise moralisch verdorben und deshalb nicht vertrauenswürdig‹ (so in korrupte Geschäftsleute oder korrupte Beamte oder eben auch korrupte Politiker) und auch ›aufgrund von Abhängigkeiten, Vetternwirtschaft, Bestechung, Erpressung o. Ä. so beschaffen, dass bestimmte gesellschaftliche Normen oder moralische Grundsätze nicht mehr wirksam sind‹ (z. B. eine korrupte Existenz, ein korruptes System). Zugrunde liegt das lateinische corruptus, das von corrumpere (›verderben, verschlechtern; verführen, verleiten‹, deutsch: korrumpieren) abgeleitet ist.

In wörtlicher Übersetzung bedeutet korrupt so viel wie ›verdorben‹. Das Wort verderben ist ein starkes (unregelmäßiges) Verb, das seine Zeitformen mittels Ablaut bildet: verderben, verdarb, verdorben. Die Vergangenheitsform der schwachen oder regelmäßigen Verben, die mit -te gebildet wird, gilt als falsch. Früher jedoch gab es verderben durchaus auch als schwaches Verb. Das starke bedeutete ›zugrunde gehen, zerstört werden‹, das schwache hingegen ›etwas zugrunde richten, zerstören‹.

Beide Wörter sind im Laufe der Zeit zusammengewachsen. Nur einige der alten schwachen Formen haben sich erhalten, insbesondere verderbt, das man vor allem in der Literaturwissenschaft kennt. Dort bedeutet es ›schwer oder gar nicht mehr zu entziffern‹ (beispielsweise in eine verderbte Handschrift oder der Text, die Stelle ist verderbt). Demgegenüber würde man von schlecht gewordener Milch oder einem sonstigen nicht mehr guten Lebensmittel verdorben sagen.

Das Wort korrupt bedeutete früher keineswegs nur ›bestechlich‹, sondern konnte durchaus auch im Sinne von ›verderbt‹ verwendet werden. So liest man beispielsweise im Jahre 1804 bei Goethe, dass er „drey offenbar corrupte Stellen herzustellen gesucht“ habe; will sagen: Er hat versucht, schwer lesbare Textstellen zu deuten.    ⋄    Jochen A. Bär

(352) 18. Dezember – naseweis

Unser heutiges, von Ursula Röttgers aus Damme für die Reihe „Jahr der Wörter“ vorgeschlagenes Wort gehört zur Wortart der Adjektive: Man kann es flektieren (ein naseweiser Mann, eine naseweise Frau, ein naseweises Kind) und auch komparieren (du bist nicht nur naseweiser als ich, sondern du bist von uns allen am naseweisesten).

Wer ohne in ein Wörterbuch schauen zu können die Frage beantworten soll, wie das Wort sich erklärt, wird vermutlich annehmen, es komme von Nase und weisen (›zeigen‹) und jemand, der naseweis ist, recke keck oder auch allzu keck seine Nase in die Luft, um sie gleich darauf in Dinge zu stecken, die ihn nichts angehen oder von denen er nichts versteht. Denn naseweis heißt ja eben so viel wie ›vorlaut, vorwitzig‹.

Doch weit gefehlt. Zwar kommt das Wort von Nase, aber nicht von weisen, sondern von weise (›kundig, erfahren, wissend‹). Im Mittelhochdeutschen gebrauchte man es – damals in der Form nasewîs vor allem von Hunden. Es bedeutete ›einen feinen Geruchssinn habend, mit Spürsinn begabt‹, wurde erst nach und nach auch von Menschen gesagt und nahm dabei die Bedeutung ›sich einen besonders feinen Geruchssinn einbildend (und daher seine Nase in alles steckend), alles wissen und verstehen wollend‹ an. Im Neuhochdeutschen hat naseweis nur noch diese übertragene und zugleich negative Bedeutung; der Zusammenhang mit dem Jagdhund ist längst vergessen.

Dass Naseweisheit nicht von Vorteil ist, haben nach Karl Bartsch (Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg, Bd. 1, Wien 1879) ein paar Mecklenburger Bauern erlebt, die einen verzauberten Schatz heben wollten. Die Bedingung war: Man durfte nicht dabei sprechen. „Schon nach einer Stunde klapperten die Schaufeln auf dem eisernen Sarge. Derselbe wurde eiligst von der ihn umschließenden Erde völlig befreit und mit armdicken Tauen umspannt. Bis jetzt war Alles in säuberlicher Ordnung vor sich gegangen. Keiner hatte ein Wörtchen gesprochen und kein Hund mit tellergroßen Augen oder sonst etwas hatte sie gestört. Die Bauern erfaßten die Taue und Hebel. Jetzt ein kräftiger Ruck und Zuck und der Schatz hätte sich gehoben – da erschien der leibhaftige Teufel. ‚Dat is min un blift, wo ’t liggt!‘ sagt er kurz und herrisch. ‚Dreck is din!‘ gibt ihm ein naseweiser Bursche zur Antwort. Das war aber, was Beelzebub gewollt hatte, eine Antwort nämlich. Sarg und Teufel verschwanden hienach sogleich, die Grube stürzte krachend zusammen.“

Merke: Hinsichtlich der Nase ist insbesondere dies weise: durch dieselbe zu atmen. Dabei kann nämlich der Mund geschlossen bleiben.    ⋄    Jochen A. Bär

(353) 19. Dezember – Kegel

Ein Kegel oder auch Konus ist ein geometrischer Körper, der entsteht, wenn man alle Punkte eines in einer Ebene liegenden, begrenzten runden Flächenstücks geradlinig mit einem Punkt außerhalb der Ebene verbindet. Das Flächenstück nennt man Grundfläche, deren Begrenzungslinie die Leitkurve und den Punkt die Spitze oder den Scheitel des Kegels. Ein Kegel hat also eine Spitze (den Scheitelpunkt), eine Kante (die Leitkurve) und zwei Flächen (die Mantel- und die Grundfläche). Es gibt Kreiskegel (mit kreisrunder Grundfläche) und solche mit ovaler Grundfläche. Ein stumpfer Kegel oder auch Kegelstumpf entsteht, wenn man von einem Kegel den oberen Teil abschneidet.

Kegelförmige Gebilde unterschiedlicher Art werden Kegel genannt, beispielsweise der Kegel eines Vulkans oder der Lichtkegel einer Taschenlampe. Wenn ein Hase Männchen macht, nennt die Jägersprache dies ebenfalls einen Kegel. Dies erfolgt aber wohl in Anlehnung an den Kegel des bekannten Spiels, eine aufrecht stehende, flaschenartig geformte Figur aus Holz oder Kunststoff.

Kegel ist zurückzuführen auf ein germanisches Wort kagila, das als Diminutivum („Verkleinerungsform“) von kag (›Kohlstengel, Stumpf, Ast, Pfahl‹) zu sehen ist.

Vermutlich gleichen Ursprungs ist das Wort in der Wendung mit Kind und Kegel (›mit der gesamten Familie‹). Hier hat es aber nicht eine der zuvor genannten Bedeutungen, sondern heißt so viel wie ›uneheliches Kind, Bastard‹ (im Gegensatz zum ehelichen – und damit erbberechtigten – Kind). Wie es zu dieser Bedeutungsentwicklung kam, ist unklar. Möglicherweise, so mutmaßt das Etymologische Wörterbuch des Deutschen, ist vom mittelhochdeutschen kegel (›Stock, Knüppel, Prügel‹) auszugehen, das, ähnlich wie Bengel, geringschätzig für ›Kind‹ verwendet wird.

Außerhalb der Wendung Kind und Kegel begegnet Kegel im Sinne von ›uneheliches Kind‹ kaum, wie das Grimm’sche Wörterbuch berichtet. Es ist, heißt es dort, „gewiss ein im hause entstandner ausdruck, der seinen rechten sinn im munde des hausvaters hatte zu einer zeit, die eben sehr weit zurückliegt, als kebsweiber [›Nebenfrauen, Konkubinen‹] neben dem eheweib von herkommen und sitte erlaubt waren“. (Die Kleinschreibung der Substantive ist original; sie entspricht den Schreibgepflogenheiten des Grimm’schen Wörterbuchs.) Hält man sich die germanische Hausgemeinschaft vor Augen, in der ein Mann tatsächlich neben seiner eigentlichen Ehefrau noch mehrere – meist im Krieg geraubte – Sklavinnen haben konnte, die mit ihm das Lager teilen mussten, so wird die Bedeutung von Kind und Kegel (›die ganze Familie; alle Nachkommen‹) nachvollziehbar.    ⋄    Jochen A. Bär

(354) 20. Dezember – Vergnügen

Auf der Liste der Wörter, die im so langsam zu Ende gehenden „Jahr der Wörter“ zur Behandlung ausgesucht wurden, ist unser heutiges Wort mit einem großen Anfangsbuchstaben geschrieben. Also hat die Einsenderin, Magdalena Gelhaus von der Universität Vechta, wohl an das Substantiv („Nomen/Namen-, Dingwort“) Vergnügen gedacht. Das Wort kommt aber auch in einer anderen Wortart vor, nämlich als Verb („Tätigkeits-, Zeitwort“); äußerliches Kennzeichen ist die Anfangskleinschreibung. Das Substantiv bedeutet so viel wie ›Freude, Spaß, amüsanter Zeitvertreib‹, aber auch, wenn auch veraltend, ›unterhaltsame, gesellige Veranstaltung mit Tanz‹ (jetzt wohl weitgehend durch Party ersetzt, vom Tanztee ganz zu schweigen). Das Verb kann transitiv (jemanden vergnügen) oder reflexiv (sich vergnügen) gebraucht werden und bedeutet im ersten Sinn so viel wie ›belustigen, amüsieren‹ (ihre Betroffenheit schien ihn zu vergnügen). Häufiger aber ist die reflexive Verwendung im Sinne von ›sich heiter unterhalten, sich die Zeit kurzweilig vertreiben‹ wie in sich auf dem Fest, beim Tanzen vergnügen oder, wie das Beispiel im Universalduden lautet: „Sie vergnügte sich mit ihrem Liebhaber auf den Bahamas.“

Was die Wortgeschichte angeht, zeigt die mittelhochdeutsche Form vergenüegen noch deutlich den Zusammenhang mit dem Adjektiv („Eigenschaftswort“) genug, das ursprünglich zu einem Verb mit der Bedeutung ›reichen, langen, erlangen‹ gehörte. Vergenüegen bedeutete also zuerst so viel wie ›zufriedenstellen, befriedigen‹, dann ›jemandem eine Freude machen‹. Der Bedeutungswandel, so erfahren wir aus Pfeifers Etymologischem Wörterbuch, von ›befriedigen‹ zu ›in einen angenehmen Zustand völliger Zufriedenheit versetzen, ergötzen, heiter machen‹ vollzog sich Mitte des 17. Jahrhunderts. Der substantivierte Infinitiv (die als Substantiv verwendete „Grundform“ des Verbs) Vergnügen ist mit der Bedeutung ›innere Befriedigung, zufriedene Heiterkeit‹ seit dem Ende des 17. Jahrhunderts belegt. Zur Wortfamilie gehören außerdem das Adjektiv vergnüglich (›erheiternd, Vergnügen bereitend, heiter, vergnügt‹) sowie das Substantiv Vergnügen mit der Bedeutung ›Freude, Spaß, erheiterndes Erlebnis‹, seit dem 19. Jahrhundert auch ›unterhaltsame Veranstaltung‹ wie in Vergnügungsfahrt, Vergnügungsreise.

Dies ist mein vorletzter Beitrag (der letzte folgt am 25. Dezember) zu der von Herrn Bär entwickelten und mit dem Löwenanteil an Artikeln bestrittenen Kolumne „Jahr der Wörter“. Es war mir ein Vergnügen, daran mitzuwirken, und Ihnen, liebe Leser, die eine oder andere Wort-Geschichte möglichst vergnüglich zu präsentieren (vergnügungssteuerpflichtig war das Unternehmen übrigens nicht, denn wir haben honorarfrei zu unserem Privatvergnügen gearbeitet).    ⋄    Wilfried Kürschner

(355) 21. Dezember – Licht

Adventszeit ist Lichterzeit. Denn es ist die dunkle Jahreszeit, und Licht, so schreibt uns die letztjährige Klasse 1b der Kardinal-von-Galen-Schule in Dinklage, die das Wort für unsere Reihe vorgeschlagen hat, „ist in der Dunkelheit ganz wichtig, um etwas sehen zu können“.

Das Substantiv Licht ist eine Wortbildung auf der Basis des alten Adjektivs licht (›hell, leuchtend, strahlend‹); es bedeutete ursprünglich so viel wie ›Leuchten, Strahlen, Glanz‹, später dann auch ›Kerze‹ und überhaupt ›Leuchtmittel‹. Das Adjektiv seinerseits geht zurück auf eine durch Sprachvergleich erschließbare indoeuropäische Wurzel leuk- (›leuchten, strahlen, funkeln‹), von der sich auch Wörter wie griechisch leukos (›glänzend, hell, weiß‹), lateinisch lux (›Licht‹), lucere (›leuchten‹) und luna (›Mond‹), aber auch Luchs (eigentlich: ›der mit den funkelnden Augen‹) ableiten.

In verschiedenen Religionen spielt das Licht eine wichtige Rolle. In der christlichen Tradition werden nicht nur zu Sankt Martin, in der Adventszeit und zu Weihnachten Lichter angezündet. Die katholische Kirche kennt das Fest Mariä Lichtmess, das am 2. Februar gefeiert wird. Es wird so genannt nach der an diesem Tag stattfindenden Kerzenweihe und Lichterprozession. An Lichtmess werden traditionell die Tannenbäume aus den Kirchen geräumt und die Krippenfiguren verpackt, denn es ist das letzte Fest in der Weihnachtszeit: vierzig Tage nach dem 1. Weihnachtsfeiertag. Das Fest heißt auch „Darstellung des Herrn“. Nach dem Lukasevangelium wurde das Jesuskind, dem jüdischen Gesetz gemäß, im Tempel präsentiert, bei welcher Gelegenheit der fromme Simeon den Säugling als den verheißenen Messias erkannte: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitest hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volkes Israel.“

Im Dezember auf den Februar vorauszublicken, heißt, über das „Jahr der Wörter“ hinauszudenken. Das ist im Fall des Wortes Licht ganz legitim. Denn die UN-Generalversammlung hat das Jahr 2015 als „Internationales Jahr des Lichts und der lichtbasierten Technologien“ ausgerufen. Dadurch soll an die Bedeutung von Licht als elementare Lebensvoraussetzung für Menschen, Tiere und Pflanzen und daher auch als zentraler Bestandteil von Wissenschaft und Kultur erinnert werden.    ⋄    Jochen A. Bär

(356) 22. Dezember – Tannenbaum

Ob die letztjährige Klasse 1b der Kardinal-von-Galen-Schule in Dinklage bei ihrem Vorschlag des Wortes Tannenbaum an das Lied O Tannenbaum dachte, wissen wir nicht, vermuten es aber fast. Immerhin passt das Wort bestens in die aktuelle Jahreszeit, weshalb wir es auch bis knapp vor Weihnachten aufgespart haben. Und bevor jetzt jemand auf den Gedanken kommt, das Lied verbreite – in der Zeile „wie grün sind deine Blätter“ – Unsinn, weil Tannen keine Blätter, sondern Nadeln haben: Die Nadeln von Nadelbäumen sind botanisch gesehen sehr wohl Blätter, sie weisen nur eine besondere Form und Beschaffenheit auf, und viele Nadelbäume, darunter die in Rede stehende Tanne, behalten sie sommers wie winters.

Was uns an ein altes Kinderbuch erinnert, in dem die Geschichte erzählt wurde, dass der Winter verärgert war, weil die Bäume im Herbst ihr Laub abwarfen und alles kahl war, wenn er seinen Einzug hielt. Er befahl dem Nordwind, er solle der Tanne, der Fichte, der Kiefer und der Lärche ausrichten, sie mögen ihre Blätter behalten, damit er auch etwas Grünes vorfinde, an dem er sich freuen könne. Der Nordwind aber passte nicht recht auf oder war vergesslich, und so rief er, als er über das Land fegte, immerzu: „Schönen Gruß vom Winter! Tanne, Fichte, Kiefer und Föhre sollen ihre Blätter im Herbst nicht abwerfen!“

Föhre aber ist bekanntlich nur ein anderes Wort für Kiefer, und als der Winter dann kam, sah er: Die Lärche hatte entgegen seinem Gebot ihre Nadeln wie früher abgelegt. Da er sie zur Rede stellte, berichtete sie, was der Nordwind gesagt hatte. Das ist der Grund, warum Tannen, Fichten und Kiefern, anders als Lärchen, im Winter ihre Nadeln behalten, und auch der Grund, warum der Nordwind so heult. Denn der Winter war natürlich böse auf ihn und bestrafte ihn, weil er seinen Auftrag so schlecht ausgerichtet hatte.

Die Herkunft des Wortes Tanne ist ungeklärt. Möglicherweise bedeutete es ursprünglich ›Bogen, Schießbogen‹ (der dann vermutlich bevorzugt aus Tannenholz hergestellt wurde). Das Tannin (›Gerbsäure‹), das von Weinkennern geschätzt wird, hat mit der Tanne nichts zu tun; dieses Wort ist abgeleitet vom französischen tan (›Gerberlohe‹) und hat wohl einen keltischen Ursprung.

Tannen, speziell die Nordmann-Tanne (Abies nordmanniana, benannt nach dem finnischen Biologen Alexander von Nordmann, der von 1803 bis 1866 lebte), sind als Weihnachtsbäume besonders beliebt. In Vechta gibt es einen Weihnachtsbaum-Verkaufsstand, an dem ich auf meinem Weg zur Universität täglich vorbeikomme. Er wirbt mit dem Slogan: „A Tännschen please!“    ⋄    Jochen A. Bär

(357) 23. Dezember – frohlocken

„Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage!“ So beginnt das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach, das dieser Tage wieder überall in ganz Deutschland aufgeführt wird. Anlass genug, das schöne Wort frohlocken zu behandeln, das von Antonia Niehaus aus Lohne für unsere Reihe vorgeschlagen wurde.

Bei frohlocken handelt es sich um eines jener Wörter, bei denen ein Bestandteil (in diesem Fall froh) durchsichtig ist, der andere hingegen dem alltäglichen Sprachwissen Rätsel aufgibt. Froh bedeutet ›von Freude erfüllt, glücklich‹; es geht wohl – ebenso wie Frosch – auf eine indoeuropäische Wurzel mit der Bedeutung ›hüpfen, springen‹ zurück. Die heutige Bedeutung von froh hat sich wohl über ›lebhaft, schnell‹ und ›erregt, bewegt‹ herausgebildet.

Was aber soll locken in frohlocken bedeuten? Dass es nicht das Verb („Zeitwort“) locken (›anlocken, zum Kommen bewegen‹) sein kann, dürfte klar sein, denn das passt von der Bedeutung her überhaupt nicht. Und auch die Locke (›geringeltes Haarbüschel‹) kann hier nicht gemeint sein: Das passt noch weniger.

Wieder einmal ist ein Blick in die ältere deutsche Sprache hilfreich. Martin Luthers Bibelübersetzung verdanken wir, dass eine im Frühneuhochdeutschen offenbar verbreitete Redewendung bis in unsere Zeit erhalten geblieben ist: wider den Stachel löcken (›sich einer Sache widersetzen‹). Die Bekehrung des Saulus (des nachherigen Apostels Paulus) im 9. Kapitel der Apostelgeschichte gibt Luther folgendermaßen wieder: „Und da er auf dem Wege war und nahe an Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der Herr sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Es wird dir schwer werden, wider den Stachel zu löcken.“

Mittelhochdeutsch lecken oder (gerundet) löcken bedeutete ›springen, stoßen‹; wider den Stachel löcken wurde von Zugochsen gesagt, die mit den Hörnern nach dem Stab des Fuhrmanns schlugen, der sie anspornen („anstacheln“) sollte. Dieses lecken oder löcken steckt in ablautender Form auch in frohlocken, das daher wörtlich ›vor Freude springen‹ bedeutet. Heute handelt es sich dabei um einen Ausdruck, der zur gehobenen Stilebene gehört. Man kennt ihn, dem großen Duden zufolge, in den Bedeutungen ›lebhafte Schadenfreude empfinden (und laut zum Ausdruck bringen); triumphieren‹ (du hast zu früh frohlockt), ›vor Freude jubeln‹ und ›lobsingen‹ (dem Herrn frohlocken oder eben auch „Jauchzet, frohlocket!“).    ⋄    Jochen A. Bär

(358) 24. Dezember – siehe

„Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und siehe, der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.“

Siehe! Zweimal kurz hintereinander erscheint in Martin Luthers Übersetzung des Lukasevangeliums (Kap. 2, Verse 8–10: hier in modernisierter Form) der Imperativ von sehen. Interessanterweise steht im griechischen Originaltext nur an der zweiten Stelle („siehe, ich verkündige euch ...“) tatsächlich die Entsprechung idoú (›sieh!, sieh da!‹). Das erste siehe („siehe, der Engel des Herrn ...“) ist Interpretation: Achtung, jetzt passiert etwas besonders Bemerkenswertes! Aber von Martin Luther ist ja ohnehin bekannt, dass er sich bei der Übersetzung mit Blick auf die Leserschaft etliche Freiheiten genommen hat. Dafür hat er jedoch einen Bibeltext vorgelegt, der für seine Zeitgenossen verständlicher war als alles, was man bislang an Übersetzungen hatte.

Das Verb sehen geht zurück auf eine erschließbare indoeuropäische Wurzel mit der Bedeutung ›sehen, bemerken, mit den Augen verfolgen‹, die auch dem lateinischen sequi (›folgen, verfolgen‹) zugrunde liegt. Von letzterem wiederum kommen Wörter wie Sequenz (›Folge, Abfolge‹) und sequentiell (›gereiht, fortlaufend‹).

Der korrekte Imperativ von sehen ist sieh! (ohne das e am Ende), so wie lies! bei lesen, gib! bei geben usw. In Thüringen und Obersachsen, also der Gegend, in der Martin Luther lebte, gab es aber in der frühen Neuzeit die Tendenz, das immer unbetonter werdende und schließlich ganz wegfallende e am Wortende wiederherzustellen. Man schrieb nicht, wie in den meisten oberdeutschen Gebieten, ich sag, sondern ich sage, man schrieb nicht die Tisch oder die Schaf, sondern die Tische und die Schafe. Bei Beispielen wie diesen war das e am Ende auch tatsächlich ausgefallen; es zu schreiben war also korrekt. Im Übereifer setzte man es aber auch dort, wo keines ausgefallen war: so bei sieh! Die Sprachwissenschaft nennt so etwas hyperkorrekt: die Anwendung der richtigen Regel am falschen Ort.

Luther tat also nur das, was in seiner Gegend üblich war; aber aufgrund der sprachlichen Qualität seiner Übersetzung wurde er auch in den katholischen Gebieten gelesen und konnte so die Sprache in ganz Deutschland beeinflussen. Heute gilt siehe als gehobener, leicht antiquierter Sprachgebrauch: Man schreibt beispielsweise in wissenschaftlichen Texten bei Zitaten oft „siehe Seite xy“ oder „siehe das folgende Kapitel“.    ⋄    Jochen A. Bär

(359) 25. Dezember – Weihnachten

Das für heute nicht ohne Bedacht ausgesuchte Wort wurde wie viele andere von Alfred Kuhlmann aus Ellenstedt, dem Vorsitzenden des Plattdütschen Kring und Autor mancher plattdeutschen Geschichte in dieser Zeitung und anderswo, vorgeschlagen. Er hat dazu notiert: „wunderschönes deutsches Wort“.

Diese Bemerkung ist im wörtlichen Sinn zu nehmen. Anders als in vielen anderen Sprachen geht unsere Bezeichnung für das ›am 25. Dezember begangene Fest der christlichen Kirche, mit dem die Geburt Christi gefeiert wird‹ (so die Definition im Duden-Universalwörterbuch) nicht auf ursprünglich im Lateinischen geprägte Namen zurück – wie zum Beispiel Navidad(es) im Spanischen, Natale im Italienischen, Noël im Französischen aus lateinisch nativitatis/natalis (dies) ›(Tag) der Geburt‹. Das englische Christmas, das zunehmend Einzug im Deutschen hält, ist eine Kombination aus dem griechischen Christos (wörtlich ›der Gesalbte‹ für hebräisch Messias) und dem lateinischen missa (›Messe‹); der erste Buchstabe in der Schreibung Xmas meint den griechischen Anfangsbuchstaben Chi in Christos – das X entspricht also nur äußerlich dem lateinischen X („iks“, engl. „eks“), sodass die Aussprache „eksmes“ diesen Sachverhalt verkennt.

Zurück zum deutschen Weihnachten. Das Wort besteht aus zwei Teilen. Das Vorderglied bildet der Stamm des Verbs (des „Tätigkeits-/Zeitwortes“) weihen mit der Bedeutung ›durch eine religiöse Handlung heiligen, segnen‹. Das Hinterglied ist eine alte Form des Substantivs (des „Nomens/Namen-, Dingwortes“) Nacht, und zwar im Dativ Plural (dem „3. oder Wemfall der Mehrzahl“). Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Wort bei seinen Anfängen im 12. Jahrhundert häufig in der Verbindung ze den wihen nachten (›an den geweihten/heiligen Nächten‹) auftrat. Daneben war, wie wir dem Grimm’schen Wörterbuch entnehmen, auch der Singular (die „Einzahl“) diu wihe nacht gebräuchlich, was manche Forscher als Lehnübersetzung des Ausdrucks nox sancta (›heilige Nacht‹) aus den Gebeten der lateinischen Christmette sehen. Die Singularform Weihnacht wird aber erst seit dem 18. Jahrhundert geläufig. An der Pluralform erkennen andere einen Bezug auf vorchristliche, heidnische Begriffsbildungen, die mit den zwölf Nächten nach der Wintersonnenwende (am 21./22. Dezember) mit ihren Festessen, Geschenken, Orakelbräuchen, Traumdeutungen und dergleichen mehr zu tun haben. Christlich gedeutet, können aber auch die Tage vom 25. Dezember bis zum 6. Januar gemeint sein, dem Erscheinungsfest (Epiphanias), dem Tag, an dem die Geburt Jesu ursprünglich gefeiert wurde, bis das Fest in der römischen Staatskirche im 4./5. Jahrhundert auf den 25. Dezember verlegt wurde. Dies war die Zeit des römischen Festes des unbesiegten Sonnengottes (nach der Wintersonnenwende erhebt sich die Sonne wieder höher über den Horizont, und die Tage werden wieder länger). Das christliche Geburtsfest überlagerte in der Folge dieses Sonnenfest.

Auch in grammatischer Hinsicht ist Weihnachten ein besonderes Wort, was sich aus seiner oben geschilderten Entstehung erklären lässt. Nach den Angaben in den Wörterbüchern ist sein Genus (sein „grammatisches Geschlecht“) das Neutrum (das „sächliche Geschlecht“): Das war ein schönes Weihnachten. Dass es ein Singular ist, zeigt sich an einem Satz wie Weihnachten steht vor der Tür (und nicht Weihnachten stehen ...). In bestimmten Fügungen wird es aber im Plural gebraucht: grüne/weiße Weihnachten. So auch in den Wunschformeln, mit denen meine Beiträge zum „Jahr der Wörter“ enden sollen: Schöne, frohe, fröhliche, gesegnete Weihnachten!    ⋄    Wilfried Kürschner

(360) 26. Dezember – Obdach

Unser Wort geht zurück auf das alt- und mittelhochdeutsche ob(e)dach (›Überdach, Vorhalle‹) und entspricht in seiner Bedeutung somit am ehesten dem, was wir heute „ein Dach über dem Kopf“ nennen: ›(vorübergehende) Unterkunft, Wohnung‹. Dem großen Duden zufolge handelt es sich um Amtsdeutsch; in der Allgemeinsprache ist das Wort dabei zu veralten. Bis ins 19. Jahrhundert wurde es jedoch oft gebraucht, nicht selten sogar in seiner ursprünglichen Bedeutung ›Überdachung‹. So heißt es bei der Schriftstellerin Charlotte von Ahlefeld (1781–1849): „Als sie nun einsam ihren Weg dahin pilgerte, und die Gluth der Mittagssonne einst sengend auf ihre Scheitel fiel, wandte sie sich ab von dem Staub der Straße, um unter dem Schatten eines dichtbelaubten Baumes zu ruhen, der seitwärts im Felde stand. Aber als sie hin kam, blieb sie zweifelhaft stehen, ob sie sich auch nähern dürfe. Denn ein Mann lag schlummernd unter seinem grünen Obdach, und nahm den wenigen Raum ein, der linde Kühlung versprach.“ Und in Goethes Italienischer Reise: „Unter dem Obdach einer luftigen, an der schlechten Herberge vorgebauten Halle erquickten wir uns an einem mäßigen Imbiß.“

Auch die Bedeutung ›vorübergehende Unterkunft‹ ist literarisch gut bezeugt, beispielsweise bei Ludwig Bechstein („Da kam einst [...] ein müder Pilgersmann [...] vor des Schlosses Pforte und erbat Obdach für die Nacht“) und bei Heinrich Heine („ Gastfreundlich nahm ich also auf den Sohn, | Und gab ihm Speis’ und Obdach, vierzehn Tage“).

Das Grundwort Dach, Plural Dächer, ist abgeleitet von decken und bedeutet mithin ›das Deckende, Bedeckende‹. Es ist unter anderem verwandt mit lateinisch tegere (›decken‹) und tegula (›Ziegel‹).

Einen Plural von Obdach gibt es (anders als beim Grundwort Dach), nach Auskunft des großen Dudens nicht – wahrscheinlich, weil der Mensch nicht mehrere Unterkünfte auf einmal braucht, sondern an einer genug hat. Da wir immer noch Weihnachten haben, mag es aber durchaus nicht unangebracht scheinen, daran zu erinnern, dass viele Menschen nicht einmal dieses eine, vielmehr gar kein Obdach haben: sie sind obdachlos. Nicht anders als Maria und Joseph, als sie in Bethlehem eintrafen: „Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, da sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ (Lukas 2, 6–7.) Und kurze Zeit später mussten sie vor Herodes fliehen und hatten daher schon gleich gar kein Dach mehr über dem Kopf.

Wie war das noch gleich: „Bei einer Weihnachtskrippe ohne Araber, Afrikaner, Juden und Flüchtlinge bleiben nur noch Ochs und Esel übrig.“    ⋄    Jochen A. Bär

(361) 27. Dezember – Wintertraum

Eines der Lieblingswörter von Harald Rösler aus Steinfeld ist Wintertraum. Vermutlich, weil man dabei so wunderbare Bilder vor Augen hat. Tiefverschneite Wälder und Felder. Zugefrorene Wasserflächen. In der Sonne glitzernde Eiskristalle.

Interessant: Das, was Winter hierzulande meistens ist, erscheint nicht vor unserem inneren Auge. Dasjenige, was Kurt Tucholsky so schildert: „Winter? Es wird eine Art Schnee geliefert, der sich, wenn er die Erde nur von weitem sieht, sofort in Schmutz auflöst; wenn es kalt ist, ist es nicht richtig kalt sondern naßkalt, also naß ... Tritt man auf Eis, macht das Eis Knack und bekommt rissige Sprünge, so eine Qualität ist das! [...] Kalt ist der Ostwind, kalt die Sonnenstrahlen, am kältesten die Zentralheizung“. – Nein, vor dem inneren Auge erscheint die Idealvorstellung vom Winter, wie sie in dem schönen Winterlied Es ist für uns eine Zeit angekommen anklingt: „Es schlafen Bächlein und Seen unterm Eise, | es träumt der Wald einen tiefen Traum. | Durch den Schnee, der leise fällt, | wandern wir, wandern wir | durch die weite, weiße Welt.“

Denn das Wort Wintertraum bedeutet nicht etwa ›Traum des Winters‹, so wie Kindertraum, Elterntraum, Politikertraum, Professorentraum ›Traum, den Kinder, Eltern, Politiker, Professoren haben‹ (was immer das im Einzelnen für Träume sein mögen), sondern ›Traum, den jemand oder etwas – die Welt, die Natur, der Wald ... – im Winter träumt‹ oder auch ›Traum vom Winter‹ (wobei dann Traum im Sinne von ›Wunschvorstellung, Idealbild‹ gemeint ist).

Träume implizieren das Aufwachen, und wer Idealvorstellungen hat, muss mit Desillusionierung rechnen. Für den Winter hat das schon Tucholsky besorgt; dem ist nichts hinzuzufügen. (Wahrscheinlich sind deswegen derzeit viele im Urlaub: um den Winter anderswo zu suchen.) Für das schöne Winterlied reichen wir folgende Information nach: Es handelt sich ursprünglich um ein Sternsingerlied, das im 19. Jahrhundert in der Schweiz entstand. Die erste Strophe lautet in der Originalfassung: „Es ist für uns eine Zeit angekommen, | es ist für uns eine große Gnad, | Denn es ist ein Kind geboren | und das der höchste König war, | Unser Heiland Jesus Christ, | der für uns, der für uns, | der für uns Mensch geworden ist.“

Die bis heute an vielen Schulen gelehrte Fassung, aus der wir oben zitiert haben, wurde 1939 von dem Komponisten und Musiklehrer Paul Hermann vorgelegt. Wie in der Nazizeit üblich, versuchte er jeden offensichtlichen Bezug zum christlichen Glauben zu tilgen und machte aus dem alten (Nach-)Weihnachtslied ein weltliches Winterlied.    ⋄    Jochen A. Bär

(362) 28. Dezember – Hibernakel

Wer glaubt, der Kolumnist habe seiner eigenen Passion für elaborierte Lexeme frönen wollen oder habe das heutige Wort gar erfunden, irrt gewaltig. Vorgeschlagen wurde es: von der letztjährigen Klasse 8a der Vechtaer Liebfrauenschule. Und zwar, wie eines der Kinder schrieb, weil „mein Nachbar, der Gärtner ist, dieses Wort erwähnte und ich es mir gemerkt habe“.

Großartig! Genau einer der Gründe, warum wir diese Aktion „Jahr der Wörter“ machen: um einen Eindruck zu geben vom Reichtum und von der Vielfalt unseres Wortschatzes. Und um Klischees zu begegnen wie demjenigen, die deutsche Sprache sei bedroht, weil die Jugend von heute nicht mehr über hinreichend viele und differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten verfüge. Keineswegs! Selbstredend gibt es Kinder, die keinen großen Wortschatz haben; aber das gilt natürlich auch für Erwachsene. Und ein Kind, das ein Wort wie Hibernakel kennt, stellt mit Sicherheit so manchen Erwachsenen in den Schatten.

Sollte sich der geschätzte Leser oder die verehrte Leserin nunmehr selbst im Schatten fühlen, so dürfen wir beruhigen: Es ist keine Schande, das Wort Hibernakel nicht zu kennen. Denn es handelt sich um ein Fachwort. Und zwar ein solches aus der Botanik. Es bedeutet ›Winterknospe‹, also eine der Überwinterung dienende Knospe bestimmter Pflanzenarten. Gebildet wurde es zu lateinisch hibernare (›überwintern‹), das zur Wortfamilie von lateinisch hiems (›Winter‹) und hibernus (›winterlich‹) gehört.

Hat aber ein Fachwort in unserer Kolumne überhaupt etwas zu suchen? Vorgeschlagen werden sollten doch nur Wörter der Allgemeinsprache.

Gewiss; doch wir machen es in diesem Fall wie beim Scrabblespiel. Wenn das Wort im allgemeinsprachlichen Wörterbuch steht, dann wird es akzeptiert. Und Hibernakel steht tatächlich in einem solchen Wörterbuch, nämlich im großen Duden. Was auch kein Wunder ist. Denn eine der sprachhistorischen Tendenzen der Gegenwart ist die immer stärkere Durchdringung der Allgemeinsprache mit Fachwortschatz. Die Fachsprachen, so formulierte es einmal der bedeutende Linguist Harald Weinrich, legen sich „wie ein großer Kranz“ um die Allgemeinsprache und beeinflussen sie von allen Seiten.

Ein Beispiel ist das Wort nachhaltig. Ursprünglich stammt es aus der Forstwirtschaft; das Prinzip der Nachhaltigkeit besagt, dass man nicht mehr Holz fällt als in einem sinnvollen Zeitraum nachwachsen kann. Heute hört und liest man nachhaltig in den unterschiedlichsten Zusammenhängen; es bedeutet ›bleibend, dauerhaft, langanhaltend‹. Man kann unter anderem sagen: „Dass in Vechta eine achte Klasse das Wort Hibernakel kennt, hat mich nachhaltig beeindruckt.“    ⋄    Jochen A. Bär

(363) 29. Dezember – Wehmut

Dreimal werden wir noch wach ... dann ist das „Jahr der Wörter“ vorbei. Erleichterung? Oder Wehmut? – Wahrscheinlich etwas von beidem. Denn unsere Leserschaft muss die Kolumne, wenn sie nicht will, ja nicht jeden Tag lesen. Aber wir müssen sie jeden Tag schreiben. Und das ist einerseits Last, andererseits aber durchaus auch Lust. Denn man lernt jeden Tag noch irgendetwas, das man zuvor nicht wusste oder sich zumindest noch nicht so klar gemacht hatte. So zum Beispiel heute über Wehmut – das Wort wurde von Dr. Helmut Gross (Universität Vechta) vorgeschlagen. Ist das so etwas wie Trauer? Oder eher wie Traurigkeit? Oder Betrübnis? Herzeleid, Kummer, Gram, Verzagtheit? Gar Weltschmerz? Unsere Sprache kennt erstaunlich viele Wörter für das Traurigsein und unterscheidet sehr feine Nuancen. Demgegenüber haben wir für einen so alltäglichen Zustand wie ›nicht mehr durstig‹ kein eigenes Wort (vgl. unsere Kolumne nüchtern vom 8. Dezember). Davon jedoch auf Besonderheiten der deutschen Mentalität rückschließen zu wollen, wäre dann doch kaum seriös.

Wehmut bedeutet ›verhaltene Trauer, stiller Schmerz bei der Erinnerung an etwas Vergangenes, Unwiederbringliches‹. So zumindest steht es im großen Duden. Die Wehmut – über das Genus von Wörtern auf -mut hatten wir schon am 7. Dezember bei Schwermut berichtet – ist also vergangenheitsorientiert, im Gegensatz zur zukunftsorientierten Sehnsucht, bei der man etwas noch nicht Vorhandenes erhofft oder herbeiwünscht. „Komm’, Erinnerung, denn mit aller lieblichen Wehmut“, heißt es bei Ernst Moritz Arndt. Im Unterschied zu dem bedeutungsähnlichen Wort Nostalgie steht Wehmut aber nicht für eine Einstellung oder Lebenshaltung, sondern für ein aktuelles Gefühlserleben: „Früher war mehr Lametta!“

Überhaupt, was waren das früher noch für Zeiten! Der Richter war beispielsweise in der frühen Neuzeit so lange im Amt, wie er sich aus eigener Kraft gerade auf dem Richtstuhl halten konnte. Nun ja ... Opa Hoppenstedt lässt grüßen ...

Was haben wir von Philipp Lahm, Miroslav Klose und anderen Weltmeistern gelernt? Abtreten, wenn man auf der Höhe ist! Gern mit Wehmut. Dass wir Lametta – es ist die Verkleinerungsform von italienisch lama (›Metallblatt‹) und geht zurück auf lateinisch lamina (›Platte, Blatt‹) – und so viele andere wunderbare Wörter nicht mehr behandeln können, stimmt uns wehmütig. Trotzdem ist übermorgen Schluss. Denn was aufhört, solange es noch schön ist, bleibt auch schön: in der Erinnerung.    ⋄    Jochen A. Bär

(364) 30. Dezember – mager

ist das Antonym („Gegenwort“) zu fett. Letzteres hatten wir in dieser Reihe nicht behandelt, wohl aber dasjenige Wort, das auf seine lateinische Entsprechung zurückgeht: krass.

Mit der Antonymie ist es so eine Sache: Sobald ein Wort mehr als eine Bedeutung hat, gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder hat ein bestimmtes Antonym ebenfalls mehrere Bedeutungen, und hinsichtlich jeder der Bedeutungen besteht zwischen den beiden Wörtern das Antonymieverhältnis – oder aber es gibt ein bestimmtes Antonym nur zu einer der Bedeutungen gibt, zu einer anderen hingegen ein anderes. Zu gesund beispielsweise lässt sich als Gegenwort krank finden, wenn gesund so viel bedeutet wie ›durch Krankheit nicht beeinträchtigt‹ (Hans Castorp ist wieder ganz gesund), hingegen ungesund, wenn gesund so viel bedeutet wie ›die Gesundheit fördernd, ihr zuträglich‹ (gesundes Essen, gesunde Luft). Zwischen gesund und krank ebenso wie zwischen gesund und ungesund besteht also jeweils nur partielle Antonymie.

Vollständig ist sie hingegen zwischen mager und fett. Mager bedeutet erstens ›wenig Fleisch und Fett am Körper, an den Knochen habend; dünn‹: Von jemandem, der mager ist, lässt sich also auch sagen, er sei nicht fett. Zweitens bedeutet mager ›kaum Fett enthaltend, fettarm‹ (mageres Fleisch, magerer Quark im Gegensatz zu fettem Fleisch / Quark). Drittens bedeutet mager ›nicht üppig, nicht ertragreich‹: magere Wiesen im Gegensatz zu fetten Wiesen, die sieben mageren Jahre, die im Alten Testament auf die sieben fetten Jahre folgen. Und selbst im Druckwesen spricht man von mageren Lettern im Gegensatz zu fetten (das heißt solchen, die sich durch eine größere Breite auszeichnen.

Damit wären die Bedeutungen von mager erschöpft – nicht aber die von fett. Denn fett kann salopp-umgangssprachlich auch noch ›stark betrunken‹ bedeuten (er kam gestern ziemlich fett nach Hause), und jugendsprachlich – ebenso wie krass oder geil – ›sehr gut‹ (boah, voll fett, ey!). Damit ist paradoxerweise fett zwar vollständig antonym zu mager (das heißt zu jeder Bedeutung von mager), aber umgekehrt ist mager nur partiell antonym zu fett.

Mager geht zurück auf ein indoeuropäisches Etymon (eine „Wurzel“) mit der Bedeutung ›lang, dünn, schlank‹, das auch dem lateinischen macer (›dünn, mager‹) und dem griechischen makros (›lang, groß‹) zugrunde liegt.

Wer sich übrigens Gedanken macht wegen mangelnder Magerkeit dieser Tage, sei beruhigt: Fett wird man bekanntlich nicht zwischen Weihnachten und Neujahr, sondern zwischen Neujahr und Weihnachten ...    ⋄    Jochen A. Bär

(365) 31. Dezember – Jahresende

365 Tage – 365 Beiträge. Das „Jahr der Wörter“ ist zu Ende. Vieles haben wir in den zurückliegenden zwölf Monaten über die deutsche Sprache, ihre Geschichte und ihre unterschiedlichen Ausprägungen erzählt. Immer wieder ging es um Fremdwörter und Scheinfremdwörter, um Entlehnungen und Rückentlehnungen, um Bedeutungswandel, übertragene Verwendungen und Volksetymologie. Weitaus mehr als wir behandeln konnten, mussten wir unerwähnt lassen. Aber um die Geschichte der deutschen Sprache ganz zu erzählen, reicht ein Jahr nicht. Es reicht nicht einmal ein ganzes Forscherleben.

Sehr dankbar bin ich für die großartige Unterstützung durch meinen Amtsvorgänger Professor Wilfried Kürschner, meine Mitarbeiter/-innen Jana-Katharina Mende, David Römer und Vera Willgosch und durch Luisa aus dem Moore (Bersenbrück), Kirsten Grote-Bär (Frankfurt a. M.), Dr. Christian Kreuz (Trier), Dr. Pamela Steen (Leipzig) und Dr. Jana Tereick (Vechta). Ganz herzlich danke ich der Oldenburgischen Volkszeitung für die Kooperation, speziell allen Mitgliedern der OV-Redaktion, die im Laufe des Jahres meine Ansprechpartner waren und ebenso zuverlässig wie geduldig all meine peniblen Korrekturwünsche umsetzten. Die Zusammenarbeit hätte nicht besser laufen können!

Besonders ist aber all den Menschen zu danken, die Vorschläge für die Kolumne eingesandt haben, und auch all denen, die uns das Jahr hindurch mit Zuspruch, teils auch mit kritischen Anmerkungen, begleitet haben. Mit ihrem Interesse an der deutschen Sprache haben sie wesentlich dazu beigetragen, dass die Aktion „Jahr der Wörter“ erfolgreich war und dass wir bis zum Schluss Freude an der Arbeit hatten.

Das Jahr ist nun zu Ende. Wir schließen mit einem Blick auf die Herkunft von Jahr – zusammen mit Wörtern wie lateinisch ire (›gehen‹) weist es zurück auf eine indoeuropäische Wurzel mit der Bedeutung ›Gang, Lauf‹, steht also für den Sonnenumlauf – und von Ende: Dieses Wort ist unter anderem verwandt mit griechisch antí (›gegen, entgegengesetzt, gegenüber‹) sowie mit den Gegenüberliegendes, Entgegengesetztes oder Gegenteiliges anzeigenden deutschen Präfixen Ant- (in Antlitz ›Entgegenblickendes‹ und Antwort ›Gegenwort, Erwiderung‹) sowie ent- (z. B. in entspannen, entladen, entehren). Ende bedeutete ursprünglich ›Gegenüberliegendes, auf das man zustrebt, Ziel, äußerste Begrenzung‹.

Am Jahresende wünscht man sich normalerweise einen „guten Rutsch“ ins neue Jahr. Die wenigsten wissen, dass das nicht von rutschen kommt, sondern aus der im vergangenen Jahr auch immer wieder mal erwähnten „Gaunersprache“, dem Rotwelschen: rosch bedeutet dort so viel wie ›Beginn, Anfang‹.    ⋄    Jochen A. Bär