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Germanistische Sprachwissenschaft

Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten

Das Jahr der Wörter

(274) 1. Oktober – Daus

„Warum sagt man eigentlich Ei der Daus“, fragte Siegmund Saubär seinen Freund Dieter Daus unvermittelt, indem er eine neue Karte ausspielte. „Potz Tausend!“, antwortete Herr Daus, „In all den Jahren, in denen wir uns bei Egon zum Skatspiel treffen, hast du mich so etwas noch nie gefragt.“ – „Na ja, es fiel mir neulich ein, und da du Daus heißt, müsstest du es doch wissen, dachte ich mir.“ – „Aha, und woher kommt dann bitteschön Saubär?“ – Da Herr Saubär gestehen musste, dass er das nicht wisse, lächelte Herr Daus triumphierend, heimste mit dem Pik-As den Stich ein und hielt die Sache für erledigt. Doch Gastgeber Egon Eluthericum fand das Ganze interessant, stand auf und nahm Küppers Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangsprache aus dem Regal: „Daus, Maskulinum oder Neutrum. ›As‹ oder ›höchster Trumpf‹. Von altfranzösisch dous ›zwei‹ (nämlich zwei Augen im Würfelspiel). [...] Ei, der Daus: Ausdruck der Überraschung, der Anerkennung. Aus der Kartenspielersprache verallgemeinert. Spätestens seit 1900.“ – „Siehst du, so einfach ist das“, sagte Herr Daus zu Herrn Saubär, „und nun kümmere dich mal um das Wesentliche: Sieh zu, dass du aus dem Schneider kommst.“

Herkunft und Bedeutung der Redensart Ei der Daus! sind allerdings längst nicht so einfach zu eruieren, wie es sich bei Küpper darstellt. Zunächst: Man findet sie spätestens 1844 in einem Gedicht von Annette von Droste-Hüls­hoff; bei Johann Christoph Adelung erscheint sogar bereits 1774 der Ausruf Was der Daus!

Zwar stimmt es: Im Kartenspiel ist Daus die beste Karte, „da in den deutschen Karten die Zwei als die höchste an Werth dem Aß [...] der franz. Karten entspricht“, wie Daniel Sanders (1860) erklärt. Ei der Daus! könne also sowohl eine negative als auch eine positive Überraschung ausdrücken, je nachdem, wem der oder auch das Daus gerade den Stich beschert.

Daus ist aber auch ein Wort für den Teufel – vgl. Flüche wie niedersächsisch dat dik de dous! oder mecklen­bur­gisch potz Duus! (daher Potz Tausend!) oder Dus un Duwel! – , so dass die Redewendung mit dem Kartenspiel gar nichts zu tun haben müsste. Mit Daus könnte ein ›Teufel‹, ein listiger, verschlagener Mensch gemeint sein – der dann natürlich auch beim Spiel betrügen könnte, so dass doch wieder ein Zusammenhang bestünde. Zumal, wenn man bedenkt, dass im Mittelalter der Teufel als Erfinder des Spielens um Geld gesehen wurde.

Unser Herr Daus, sollte er sich doch einmal für seinen Nachnamen interessieren, könnte sich also aussuchen, was ihm lieber ist: von einem Spielsüchtigen abzustammen oder von einem, den man ›Teufel‹ nannte. – Und woher Saubär kommt, darf morgen Herr Bär erklären.    ⋄    Jana Tereick

(275) 2. Oktober – Saubär (2. Oktober)

Immer wieder mal hört man das Schimpfwort du Saubär! (manchmal auch Schweinebär), wenn jemand „herumge­saut“ oder sich sonst unanständig verhalten hat. Dass man eine Sau mit Schmutz und Unanständigkeit in Zu­sam­men­hang bringt, ist ja nachvollziehbar, weil Schweine sich bekanntlich gern im Schlamm wälzen. Aber was hat der Bär damit zu tun?

Der Bär wurde in der frühen Neuzeit oft redensartlich genannt, wenn es um unanständige oder unmoralische Zusammenhänge ging (so hieß im Frühneuhochdeutschen den bären stechen ›mit einer Frau schlafen‹, den bären treiben hieß ›Kuppelei betreiben‹ und bärentreiber bedeutete ›Kuppler‹). Gleichwohl ist es nicht das Pelztier, das in dem Wort Saubär steckt, sondern der Eber, das männliche Schwein. Es gibt nämlich in der älteren deutschen Spra­che zwei gleichlautende Wörter Bär, die aber nicht die gleiche Herkunft haben. Das eine, das heute noch ge­bräuch­lich ist (Bär im Sinne von ›Meister Petz‹), geht zurück auf germanisch beran, indoeuropäisch bher (›braun‹). Das andere, heute weitgehend in Vergessenheit geratene (Bär im Sinne von lateinisch aper ›Eber‹), lässt sich mögli­cher­weise in Zusammenhang mit lateinisch porcus bringen; verwandt wäre dann unser Ferkel (vgl. die entsprechende Kolumne Nr. 235 vom 23. August) und das althochdeutsche barug oder baruh, frühneuhochdeutsch barg oder barch (›kastriertes männliches Schwein‹).

Dass das eine Wort Bär mit dem anderen nichts zu tun hat, sieht man unter anderem daran, dass sie zu unter­schied­lichen Flexionsklassen gehören (der Bär, des Bären ›Bär‹ gegenüber der Bär, des Bärs ›Eber‹), und auch dar­an, dass man im verwandten Englischen tatsächlich verschiedene Wörter hat: bear (›Bär‹) und boar (›Eber‹).

Noch das Frühneuhochdeutsche kannte beide Wörter, vermischte sie allerdings in Schreibung und Grammatik vielfach. Die Tatsache, dass man dann nach dem 18. Jahrhundert den Bär (›Eber‹) nur noch in einigen Mundarten kannte, führte dazu, dass man, um das Wort semantisch nicht mit dem Bären (›Bär‹) zu verwechseln, vom Saubär (nicht: vom Saubären!) sprach. Ähnlich verfuhr man oft, wenn ein Wort als solches nicht mehr verständlich war: Man doppelte es durch Hinzufügung eines Wortes mit ähnlicher Bedeutung. Ein Beispiel dafür wäre Lindwurm. Alt­hoch­deutsch lind oder lint bedeutet ›Schlange, Wurm‹, geriet aber in Vergessenheit, so dass es das hinzugesetzte wurm erklären musste (vgl. unsere Kolumne Nr. 48 mutterseelenallein vom 17. Februar).

Übrigens gibt es bis heute sogar noch ein drittes Wort Bär, das in Rammbär (›Rammklotz, Werkzeug zum Ein­ram­men von Pfählen‹) steckt. Seine Herkunft ist allerdings unbekannt.    ⋄    Jochen A. Bär

(276) 3. Oktober – Deutungshoheit (3. Oktober)

Das Wort Deutungshoheit, vorgeschlagen von Hartmann von Fischern (Vechta), erklärt der große Duden mit ›alleini­ge Befugnis, etwas zu deuten; alleiniges Recht zu interpretieren, wie sich etwas verhält‹. Das Wörterbuch ver­schweigt, dass solche Deutungshoheit, zumal in einer Demokratie, in der das Recht auf freie Meinungsäußerung zu den Grundrechten gehört, nur angemaßt sein kann. Es verschweigt auch, dass es gleichwohl Deutungshoheiten gibt. Sie führen dazu, dass man zu bestimmten Themen seine Meinung nicht öffentlich äußern kann, ohne von be­stimmten Personen oder Personenkreisen sofort bestimmter – nicht „politisch korrekter“ – Grundpositionen ver­dächtigt zu werden. Ganz gleich, ob man diese Grundpositionen tatsächlich teilt oder nicht. Denn in solchen Fällen wird gern mit einer „Eigenmacht des Diskurses“ argumentiert: Man kann demnach konservativ, Frauenfeind, Rassist sein auch ohne es zu wollen, schlimmer: ohne es zu wissen.

Die Deutungshoheit in der römisch-katholischen Kirche hat seit dem ersten Vatikanischen Konzil (1870) der Papst: Wenn er „ex cathedra“ (in Ausübung seiner Amtsvollmacht als Nachfolger Petri) spricht, haben seine Aus­sagen aus römisch-katholischer Sicht den Charakter unfehlbarer Lehrsätze.

Ähnliche Absolutheit beanspruchen nach Meinung mancher Literaten manche Literaturkritiker. „In jedem Land gibt es zu jeder Zeit zwei, drei Kritiker, die man Päpste nennen muß. Und es gibt immer mindestens fünfzehn Kritiker, die sich für Päpste halten und sich nur aus Vorurteil gegen die katholische Kirche nicht selber so nennen“, schrieb Mar­tin Walser 1977 in der Zeit. „Über Päpste“ ist der Beitrag betitelt; gemeint sind Kritiker, „die offenbar im Besitz eines absoluten Wissens sind, das mir für immer verschlossen bleibt“.

Damals wurde Martin Walser von sich und anderen noch für einen linken Intellektuellen gehalten; seine Stellung­nahme gegen „Päpste“ gibt sich daher gesellschaftskritisch motiviert. Martin Walser ist aber kein linker Intellek­tuel­ler, er leidet bloß unter der Deutungshoheit. Er beansprucht das Recht, seine eigene, subjektive Meinung nicht nur zu haben, sondern auch öffentlich vortragen zu dürfen (gemäß Artikel 5 des Grundgesetzes). Am besten unwider­spro­chen.

Davon steht allerdings nichts im Grundgesetz. Die Deutungshoheit, die in diesem Lande andere haben, ist ohnehin dagegen. Die „Moralkeule“, über die sich Walser 1998 in seiner Frankfurter Paulskirchenrede be­schwer­te, bekam er wegen seiner politisch unkorrekten Äußerungen (als solche festgestellt vor allem vom Feuilleton der FAZ) selbst zu spüren.    ⋄    Jochen A. Bär

(277) 4. Oktober – Nesthäkchen (4. Oktober)

Der Wort-Vorschlag Nesthäkchen erreichte uns per E-Mail von der Familie Niehaus aus Lohne, deren ältester Sohn Lukas, Schüler der Justus-von-Liebig-Schule in Vechta, es zum Lieblingswort erklärt hatte. Herzlichen Dank!

Als Ältesten betrifft Lukas Niehaus die Definition nun gerade nicht, denn das Wort Nesthäkchen wird im über­tra­ge­nen Sinne für das jüngste Kind einer Familie verwendet. Im ursprünglichen Sinne bezeichnet das Wort ›das zuletzt ausgebrütete, jüngste Vögelchen im Nest‹, andere Formen sind Nesthecklein und Nesthocker. Das Wort Nesthäk­chen setzt sich aus Nest und Häkchen bzw. Heckchen zusammen, ist also ein Kompositum. Wie die anderen For­men zeigen, ist Häkchen eine Ableitung zu dem Verb hocken – also ›das noch im Nest hockende Küken‹.

Eine andere Erklärung, nachzulesen im „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm, bringt Nestheckchen mit dem Verb hecken (›in einer Hecke sitzen; nisten brüten‹) in Zusammenhang; die Bedeutung wäre dann ebenfalls ›jüngs­ter ausgebrüteter, zuletzt noch im Nest sitzender Vogel‹.

Eine dritte Erklärung bietet uns die Volksetymologie, die aufgrund der lautlichen Ähnlichkeit das Nesthäkchen fälschlicherweise von Haken ableitet, wofür sich in Michael Endes Buch „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“ ein schönes und lehrreiches Beispiel finden lässt: „Nesthäkchen zupft, bedächtig still, die Beinchen aus den Fliegen, denn was ein Haken werden will, muss sich beizeiten biegen.“

Nesthäkchen in der übertragenen Bedeutung ›jüngstes Kind einer Familie‹ wurde auch durch die bekannten Kin­derbücher von Else Ury populär, die übrigens seit diesem Jahr nach Ablauf der gesetzlichen Urheberrechtsfrist alle online verfügbar sind. Die Bücher – der erste Band erschien vor ca. 100 Jahren – erzählen die Geschichte des Nest­häkchens Annemarie, ihre Kindheit und Jugend und ihr Leben als Mutter von der Kaiserzeit über den ersten Welt­krieg bis in die Weimarer Republik. Die Beliebtheit der Kinderbücher, die traditionelle, konservative Werte ver­mit­telten, war ungebrochen, das Schicksal der jüdischen Autorin umso tragischer. Sie wurde während der NS-Zeit zunächst mit Schreibverbot belegt, dann deportiert und 1943 im KZ Auschwitz ermordet, wie man in der Biographie von Marianne Brentzel „Nesthäkchen kommt ins KZ“ nachlesen kann.

Das Wort Nesthäkchen kann also zudem als Leseempfehlung für Nesthäkchen, Fortgeschrittene und Erwach­se­ne dienen: seien es die Kinderbücher, der „Wunschpunsch“ oder die Biographie!    ⋄    Jana-Katharina Mende

(278) 5. Oktober – danken (5. Oktober)

„Danke für diesen guten Morgen, | danke für jeden neuen Tag. | Danke, dass ich all meine Sorgen auf dich werfen mag“, heißt es in einem beliebten Kirchenlied. Danken, unser heutiges Wort, bedeutet ›seinen Dank – das Gefühl der Anerkennung und des Verpflichtetseins für etwas Gutes, das man empfangen hat – aussprechen, zeigen; seine Dankbarkeit mit Worten und/oder Taten zum Ausdruck bringen‹. Man kann für alles Mögliche danken: für eine Wohl­tat, ein Geschenk, auch einen Wunsch oder Gruß (das bedeutet oft schlicht: man wünscht oder grüßt zurück: „Danke, gleichfalls!“).

Dank und das davon abgeleitete danken kommt von denken; es bedeutet ursprünglich nur ›Absicht, Gedanke‹, dann im Besonderen ›Gedanke an das erwiesene Gute‹ beziehungsweise ›Absicht, es mit etwas anderem Guten zu vergelten‹. Denken und das gleichbedeutende englische to think, aber auch das deutsche dünken (›jemandem so vorkommen, scheinen‹, auch ›sich etwas einbilden‹) sind verwandt mit lateinisch tongere (›kennen, wissen‹; das zweite e ist betont und lang); alle diese Wörter können auf eine indoeuropäische Wurzel mit der Bedeutung ›denken, fühlen‹ zurückgeführt werden.

Heute ist Erntedank. Mancherorts gibt es eine aus Getreide oder Weinreben geflochtene „Erntekrone“ in der Kir­che, mancherorts wird sie auch in einer Prozession durch das Gemeindegebiet getragen. Mit dem Erntedankfest soll in Dankbarkeit an die Arbeitsleistung in Landwirtschaft und Gärten erinnert werden – und auch daran, dass der Mensch es nicht allein in der Hand hat, über ausreichend Nahrung zu verfügen. Erntedankfeste gab es schon in vorchristlicher Zeit. In der katholischen Kirche ist ein Erntedankfest seit dem 3. Jahrhundert belegt. Da die Ernte in verschiedenen Gegenden zu verschiedenen Zeiten eingebracht wird, gab es nie einen einheitlichen Termin.

Nach der Reformation wurde das Erntedankfest am Michaelistag (29. September) oder am Sonntag davor oder danach gefeiert. Mit der Zeit setzte sich der erste Sonntag nach Michaelis als Termin für das Erntedankfest durch. In Deutschland legte 1972 die katholische Bischofskonferenz den ersten Sonntag im Oktober als Festtermin fest, ohne diese Festlegung für alle Gemeinden verbindlich auszusprechen. Offizieller Bestandteil des Kirchenjahres ist das Erntedankfest bis heute nicht; die Gemeinden sind daher nicht verpflichtet, das Fest zu feiern.

Eigentlich nur konsequent. Denn zur Dankbarkeit kann man ohnedies niemanden verpflichten. Sie sollte von selbst empfunden werden – nur dann ist sie echt.    ⋄    Jochen A. Bär

(279) 6. Oktober – Schabernack (6. Oktober)

Unser heutiges Wort wurde von Heike Bornhorst aus Neuenkirchen-Vörden für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen. Ein Blick in den großen Duden zeigt, dass das Substantiv Schabernack, zu dem es auch das Verb schabernacken gibt, in der Bedeutung ›übermütiger Streich‹ – beispielweise in Wendungen wie jeman­dem einen Schabernack spielen oder jemandem etwas zum Schabernack tun – sowie als ›Scherz, Spaß‹ (etwas aus Schabernack tun) auftritt. Pfeifer gibt in seinem Etymologischen Wörterbuch des Deutschen zudem die Bedeu­tung ›schadenfroher, lustiger Streich‹ an. In dieser ist es wohl auch in der Titelmelodie der bekannten Serie Meister Eder und sein Pumuckl weithin bekannt: „Am liebsten macht er Schabernack, | Leute ärgern nicht zu knapp. | Schwupp, schon ist die Feile weg, | wer hat die wohl weggesteckt?“ Natürlich der Nachfahre der Klabautermänner!

Doch stellt sich die Frage, wie das Wort Schabernack etymologisch verortet werden kann. Die genaue Herkunft ist unbekannt, es sind aber mehrere Erklärungen zu finden.

Im Deutschen Wörterbuch liest man zu Schabernack: Das Wort bedeutete ursprünglich so viel wie ›Nacken­scha­ber‹ – es stand für einen rauhen Winterhut, der im Nacken kratzt. Die ältesten Belege sind allerdings Flurnamen, speziell von Weinbergen: ze Shabernakken hieß um 1200 ein Weinbergsgut bei Haresheim am Mittelrhein.

Auch nach Pfeifer geht Schabernack auf mittelhochdeutsch schavernac, schabernac (›rauhhaariger, grober, den Nacken reibender Winterhut‹) zurück; es bedeutete auch ›höhnender, neckender Streich‹ und (ab dem 14. Jahr­hun­dert) ›Schimpf, Hohn‹. Diese Bedeutung hat sich in der heutigen (›Streich, Possen‹) erhalten.

Eine weitere Erklärung findet sich in der Oekonomischen Encyklopädie von J. G. Krünitz, der das Wort von scha­ben und nach ableiten würde, „weil der [!] Partikel nach auf dem platten Lande im Niedersächsischen, sehr häufig nack ausgesprochen wird. Es würde demnach ursprünglich geheißen haben: schab' er nack, daß ist, schabe er nach, und soll so viel heißen, als etwas wegwischen, wegschaffen, wegreiben“.

So kann das Zerschlagen des Porzellans an einem Polterabend als ein Schabernack – ganz im Sinne eines Klabautermanns, denn klabastern bedeutet ›poltern‹: vgl. die Kolumne Herzklabastern (Nr. 125, 5. Mai) – gesehen werden, „da nun der Schabernack darin besteht, Jemanden etwas anzuhängen, das heißt [...] an seinem Ehrentage [...] überhaupt irgend etwas zu thun, was weggerieben, weggeschaft, weggewischt, weggefegt etc. werden muß, worin diese Schadenfreude besteht.“    ⋄    Vera Willgosch

(280) 7. Oktober – modern (7. Oktober)

Im heutigen Beitrag behandeln wir wieder einmal gleich zwei Wörter auf einmal. Im Gegensatz zur vollständigen Ausdrucksgleichheit, der so genannten Homonymie, haben wir es heute aber mit zwei zwar gleich geschriebenen, nicht aber gleich ausgesprochenen Wörtern zu tun. Das Adjektiv modern wird mit kurzem o und Betonung auf der zweiten Silbe gesprochen, das Verb modern hingegen mit langem o und Betonung auf der ersten Silbe. Eine Ausdrucksgleichheit dieser Art nennt man Homographie; zudem gibt es auch noch die Homophonie, also den Fall, dass zwei Wörter gleich klingen, aber dabei unterschiedlich geschrieben werden (zum Beispiel Wal und Wahl).

Bei homographen Wörtern kann man zwar nicht immer davon ausgehen, dass sie miteinander nicht verwandt sind, im Fall von modern und modern trifft dies allerdings zu. Das Adjektiv bedeutet ›dem neuesten Stand der ge­schichtlichen, gesellschaftlichen, kulturellen, technischen Entwicklung entsprechend; neuzeitlich, heutig, zeit­ge­mäß‹, auch ›der neuen oder neuesten Zeit zuzurechnen‹; es leitet sich von Mode (›in einer bestimmten Zeit, über einen bestimmten Zeitraum bevorzugte, als zeitgemäß geltende Art, sich zu kleiden, zu frisieren, sich auszustatten‹) ab, das wiederum auf das lateinische modus (›Art und Weise‹) zurückgeht. Das Verb bedeutet ›verrotten‹; es gehört zu Moder (›Feuchtigkeit; Schlamm, Schmutz; Schimmelbelag‹) und ist vewandt mit Moos (ursprünglich: ›Sumpf, Mo­rast‹).

Für unsere Kolumne wurde modern vorgeschlagen von meinem Vechtaer Kollegen Professor Wolfgang Mechsner. Ob er modern (›verrotten‹) oder modern (›dem neuesten Stand entsprechend‹) meinte, hat er nicht verraten. Da er jedoch für seine Vorschläge die Selbstdarstellung der Universität Vechta auf deren Homepage durchforstet hat – vgl. unsere Kolumne Nr. 221 (attraktiv) vom 9. August –, dürfen wir davon ausgehen, dass er das Adjektiv im Auge ge­habt haben muss, nicht das Verb. Denn: „Universität Vechta heißt Wissenschaft in modernen Strukturen erleben und Uni-Leben in vertrauter Atmosphäre zu gestalten. Attraktive Studiengänge, persönliche Betreuung und weltweite Austauschprogramme bilden exzellente Studienbedingungen. Das Selbstverständnis der Universität leitet sich aus einer gewachsenen kulturellen Identität ab, in einer ausgewogenen Kombination aus regionaler Verankerung und internationaler Orientierung stellt sich die Universität Vechta dem Wettbewerb um die besten Köpfe.“

Das ist natürlich hoch modern; modern tut da nix!    ⋄    Jochen A. Bär

(281) 8. Oktober – hinterfotzig (8. Oktober)

Der Altbundeskanzler Helmut Kohl hat des öfteren die deutsche Sprache mit Ausdrücken bereichert, sei es mit eigenen Neuprägungen („blühende Landschaften“, „kollektiver Freizeitpark“), sei es, indem er Formulierungen aufgegriffen und bekannt gemacht hat, so die Redensart „Der Hund bellt, die Karawane zieht weiter“, die Rede vom „Mantel der Geschichte“ (frei nach Bismarck) oder von der „Gnade der späten Geburt“ (ursprünglich geprägt von dem Journalisten Günter Gaus). Unvergesslich sind auch Kohls Versprecher, beispielsweise die Aussage, CDU und FDP, seinerzeit Koalitionspartner, würden „pfleglich miteinander untergehen – äh – umgehen“.

Dieser Tage geistert wieder einmal ein Wort durch die Medienlandschaft, das Helmut Kohl (vor Jahren schon) gebraucht hat: hinterfotzig. Der Publizist Heribert Schwan, mit der Biographie Kohls beauftragt, hatte in den Jahren 2001 und 2002 mit dem Altbundeskanzler lange Gespräche geführt; über die Eigentümerrechte an den dabei entstandenen Tonaufzeichnungen wird derzeit gerichtlich entschieden, da Kohl die Zusammenarbeit mit Schwan 2009 eingestellt hat und ihm nun die Nutzung des Materials untersagen will.

Wie der Spiegel meldet, hat der „Kanzler der Einheit“ gute Gründe, alles daran zu setzen, dass seine wörtliche Rede unveröffentlicht bleibt: Er hat sich in den Gesprächen über Parteigenossen und ehemalige Weggefährten teilweise alles andere als freundlich geäußert. Als hinterfotzig bezeichnete Kohl unter anderem den ehemaligen Arbeitsminister Norbert Blüm, Gerhard Stoltenberg, der erst Finanz-, dann Verteidigungsminister unter Kohl war, und Heiner Geißler, damals CDU-Generalsekretär.

Das im Süddeutschen, unter anderem in Kohls Pfälzer Heimat, bekannte Adjektiv hinterfotzig bedeutet so viel wie ›hinterhältig, hinterlistig, unaufrichtig, niederträchtig, feige‹. Es ist zu dem vor allem oberdeut­schen Dialektwort Fotz(e) (›Mund‹) gebildet, zu dem auch die dialektalen Ausdrücke Fotz(n)hobel (›Mundharmo­ni­ka‹) und Fotznspangler (›Kieferorthopäde‹) gehören. Wer hinterfotzig ist, der redet hinter dem Rücken eines anderen schlecht über ihn. Die Unaufrichtigkeit und Niederträchtigkeit besteht darin, dass man nach vorn freundlich tut, so dass der andere nicht weiß, was man in Wirklichkeit von ihm hält.

Die von Kohl hinterfotzig genannten Mitarbeiter hatten an seinem Stuhl gesägt oder sich nach dem Bekanntwerden seiner Verstrickung in die CDU-Spendenaffäre von ihm abgewandt. Und so was geht im System Kohl natürlich gar nicht.    ⋄    Jochen A. Bär

(282) 9. Oktober – neunmalklug (9. Oktober)

Im vergangenen Schuljahr hat die Klasse 6b der Vechtaer Liebfrauenschule das Wort für unsere Reihe vorge­schla­gen. Man muss nicht neunmalklug sein, sondern nur zwei und zwei – oder besser: sechs und eins – zusammen­zäh­len können, um zu wissen, dass es sich nunmehr (im neuen Schuljahr) um die Klasse 7b handelt.

Neunmalklug nennt man jemanden, der sich für sehr viel gescheiter und klüger als andere hält und daher alles besser wissen will. Man erkennt noch heute leicht, dass das Adjektiv eigentlich aus drei Wör­tern (neun, mal und klug) besteht. Die Wortgruppe wurde als so stark zusammengehörig empfunden, dass sie wie ein einziges Wort erschien und daher zusammengeschrieben wurde. Einen solchen Prozess des Zusammenwach­sens verschiedener Wörter zu einem Wort nennt die Sprachwissenschaft Univerbierung.

Das Zahlwort neun hängt möglicherweise mit neu zusammen; es würde sich so erklären, dass man früher in einem Vierersystem rechnete. Neun nannte man demnach die erste („neue“) Zahl der dritten Vierergruppe, die nach der Acht (= zweimal vier) kam.

Warum jemandem, der ironisch als übermäßig klug bezeichnet wird, ausgerechnet neunfache (nicht zwei-, drei-, vier- oder wieviel-auch-immer-fache) Klugheit zugeschrieben wird, ist nicht ganz klar. Mit Sicherheit wurde die Neun als besondere, als magische Zahl angesehen. Es gab allerdings auch noch etliche besondere Zahlen. Die be­kann­testen sind wohl die Drei und die Sieben, und zumindest letztere hat sprachlich bei der Bezeichnung der Überklug­heit ebenfalls eine Rolle gespielt: Anstatt neunmalklug kann man auch siebengescheit sagen: Beide Wörter bedeu­ten das Gleiche.

Bei siebengescheit spielte ursprünglich das Studium der „Sieben Freien Künste“ eine Rolle, was auch in der mittel­hoch­deutschen Wendung er kan wol siniu sibeniu (›er beherrscht alles, hat alles studiert‹) erkennbar wird.

Die Neun, die durch die Dreimaligkeit der heiligen Zahl drei entsteht, betrachtet die christliche Zahlensymbolik als Zahl der Vollendung (beispielsweise bei den neun Chören der Engel). Im Volksglauben versprach man sich eine apotropäische, d. h. Un­heil abwen­den­de Wirkung von Speisen oder Gegenständen, die aus neun verschiedenen Bestandteilen zusam­men­ge­setzt waren. Demnach könnte neunmalklug vielleicht so viel bedeuten wie ›sich besonders gut auskennend, über geheimes Wissen verfügend‹.    ⋄    Jochen A. Bär

(283) 10. Oktober – Märtyrer (10. Oktober)

In der Oldenburgischen Volkszeitung war am vorvergangenen Samstag (27. September) in einem Artikel zum 80. Geburtstag von Brigitte Bardot zu lesen: „Die Bardolâtrie, der Wirbel um sie, hätte sie nach eigenen Angaben fast umgebracht. ,Niemand kann sich vorstellen, wie grauenerregend das war. Ein Martyrium‘, erinnerte sich Bardot.“ Wäre Brigitte Bardot deshalb als Märtyrer zu bezeichnen? Reicht der Wirbel, der Rummel, der Hype (wie manche wohl heute sagen würden) um ihre Person, unter dem sie litt, aus, sie zu jemandem zu machen, ›der sich für sei­ne Überzeugungen opfert oder Verfolgungen auf sich nimmt‹, wie die eine der beiden Definitionen unter dem Stichwort Märtyrer im Duden-Universalwörterbuch lautet? Doch wohl eher nicht. Und schon gar nicht wäre sie ein Märtyrer im primären Sinn, nämlich ›jemand, der um des christlichen Glaubens willen Verfolgungen, schweres körperliches Leid, den Tod auf sich nimmt‹. Und doch kann sie zu Recht sagen, sie habe ein Martyrium durch­lit­ten, denn dieses Wort bedeutet allgemein so viel wie ›Qual, Leiden, Pein‹. Die speziellere Bedeutung ist die ide­ell-religiöse: ›schweres Leiden (bis zum Tod) um des Glaubens oder der Überzeugung willen‹. Der Vollständig­keit halber sei erwähnt, dass mit einem Martyrium auch die ›Grabkirche eines christlichen Märtyrers‹ gemeint sein kann.

Märtyrer und Martyrium stammen, wie schon am griechischsten aller Buchstaben, dem y, zu erkennen, aus dem Griechischen; Märtyrer ist, wie an einem der deutschesten aller Buchstaben, dem Umlautbuchstaben ä, zu sehen ist, eine Eindeutschung; Martyrium hat, wie am Wortausgang -ium, der im Plural (in der „Mehrzahl“) zu -ien wird, deutlich spürbar wird, stärker seinen Fremdwortcharakter bewahrt.

Zur Geschichte und einer neuen Verwendung, die dieser Tage wieder einmal von erschreckender Aktualität ist, erfahren wir im Deutschen Wörterbuch von Wahrig (einem von Umfang und Anspruch her ernstzunehmenden Konkurrenten des Universaldudens) Folgendes: „Das griechische Wort martyr bedeutete ,Zeuge‘. Damit konnte auch ein Zeuge vor Gericht gemeint sein, das heißt, das Wort besaß ursprünglich keine religiöse Bedeutung. Im Neuen Testament bezeichnete das Wort den, der Zeugnis gab von Tod und Auferstehung Jesu, besonders die Apostel und Verkünder des Evangeliums. Im Zuge der Christenverfolgungen in der römischen Kaiserzeit wurde der Begriff von etwa 150 n. Chr. an als Ehrentitel für diejenigen verwendet, die wegen ihres Glaubens an Christus getötet wurden. Sie wurden an ihren Grabstätten kultisch verehrt. Aus dem Zeugen war damit ein Blutzeuge geworden. In dieser Bedeutung gelangte der Begriff als marteraere, merteraere, aus althochdeutsch martirari, ins Mittelhochdeutsche. Die neuhochdeutsche Form Märtyrer (oberdeutsch gibt es auch die Variante Martyrer) stellte vom 16./17. Jahrhundert an eine gelehrte Wiederangleichung an das Griechische dar. [...] Die ersten Märtyrer starben, ohne andere mit in den Tod zu reißen – im Unterschied zu den heutigen islamistischen Selbstmord­atten­tätern. Sie sind nach ihrem Selbstverständnis ebenfalls Märtyrer und berufen sich dabei auf die dritte Sure des Korans: ,Wer für seinen Glauben gestorben ist, ist nicht tot, sondern lebt.‘ Wie diese Sure auszulegen ist, ist allerdings unter Muslimen umstritten. Das arabische Wort für Märtyrer lautet Shahid und bedeutete ursprünglich gleichfalls allgemein ,Zeuge‘.“    ⋄    Wilfried Kürschner

(284) 11. Oktober – Karawane (11. Oktober)

Unser heutiges Wort wurde vorgeschlagen vom letztjährigen Deutsch-Leistungskurs des Vechtaer Gymnasiums Antonianum. Nach Auffassung der Abiturientinnen und Abiturienten ist es „ein harmonisch klingendes Wort, findet aber fast nie Anwendung im Alltag, und wenn, dann nur in Filmen über die Wüsten dieser Welt“.

Damit ist im Grunde schon fast alles gesagt, was es auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht über Karawane zu sagen gibt. Es handelt sich um einen so genannten Bezeichnungsexotismus: ein Wort, das auf eine Sache, eine Person oder einen Begriff der fremdsprachigen Umwelt beschränkt bleibt. Exotismen sind beispielsweise Cowboy, Derwisch, Guillotine, Patio oder Turban. Durch solche Ausdrücke kann wirkungsvoll ein kulturspezifisches Kolorit erzeugt werden: „Wer noch drei Werst zu stapfen hat, dem wird kein Scirocco ins Gesicht blasen, dem wird nicht der Sinn nach einem Sake stehen, und er wird in der Herberge nicht mit Dollar, Pfund oder Franc bezahlen wollen“, so formuliert es der Sprachwissenschaftler Uwe Förster.

Schon der Fremdwörtern gegenüber durchaus skeptisch eingestellte Sprachkritiker Carl Gustav Jochmann wusste: „Eine Karavane ist freilich ein Reisezug, aber ein Reise­zug mag ebensowohl durch die Vorstädte von Paris, oder die Lüneburger Haide, als durch die Wüste Kobi ziehn. Jene zu friedlichen und frommen Zwecken kriegerisch gerüstete Menge von Handelsleuten und Pilgern, ihren vorsichtigen Zug durch die bahnlosen Einöden fremder Welttheile, ihr wohlbewachtes Lager an der einzigen Quelle, die in einem weiten Umkreise die Verschmachtenden spärlich erquickt, das Schiff der Wüste, das Kameel mit seiner köstlichen Ladung, all die Bilder und Wunder des Morgenlandes, die mit einem solchen Reisezuge zusammenhängen, zeigt uns der deutsche Ausdruck nicht.“

Karawane stammt aus dem persischen karwan (›Kamelzug, Reisegesellschaft‹) und wurde im 15. Jahrhundert über das Italienische, wohl durch den Italienhandel, entlehnt. Das persische Wort seinerseits geht vielleicht zurück auf das altindische karabhah (›Kamel, junger Elefant‹).

Karawanserei nennt man eine Herberge, eine Unterkunft für Karawanen. Das Wort wurde Mitte des 17. Jahrhun­derts aus dem persischen karwan-saraj entlehnt. Das persische saraj bedeutet ›Palast‹; wir kennen es im Deut­schen als Serail.    ⋄    Jochen A. Bär

(285) 12. Oktober – Pegel (12. Oktober)

Alle Jahre wieder, so scheint es, müssen wir im Frühjahr das Wort Pegel in den Medien hören oder lesen. Immer wieder kommt es durch Schneeschmelze, durch Unwetter oder durch Dauerregen, zu – teilweise verheerenden – Hochwassern. Immer wieder ist von kritischen Pegelständen die Rede, bei denen das Wasser über die Dämme steigt und Stadtteile, ja ganze Landstriche überflutet.

Das Wort Pegel ist niederdeutsch; es bedeutet ursprünglich ›Eichstrich‹, stammt aus dem mittellateinischen pagella (›Messlatte‹) und ist etymologisch verwandt mit peilen (›Lage oder Richtung zu etwas bestimmen‹, im See­wesen auch: ›die Wassertiefe mit dem Peilstock feststellen‹).

Umgangssprachlich ist Pegel auch Synonym für den Wasserstand selbst. Fachsprachlich gesehen wird am Pegel bzw. mittels des Pegels aber nur der Pegelstand gemessen, aus dem sich der Wasser­stand (die Wasser­höhe für einen repräsentativen Abschnitt des Gewässers) ableiten lässt.

In Physik und Technik steht Pegel auch für einen Logarithmus des Verhältnisses zweier Größen der gleichen Größenart. Ist die Bezugsgröße fest, beispielsweise bei der Lautstärke, so spricht man von einem Pegel. Wenn die Lautstärke richtig ein- oder auch ausgepegelt ist, sind die verschiedenen Tonkanäle richtig aufeinander eingestellt. Das heißt allerdings – insbesondere bei so genannten Ghettoblastern, bei Stereoanlagen in Autos und bei anderen zur Beschallung einer dafür meist wenig dankbaren Öffentlichkeit geeigneten Geräten – noch lange nicht, dass des­halb auch der Lärmpegel angemessen ist.

Die alte Bedeutung ›Eichstrich‹ findet sich noch in der Wortbildung Pegelsaufer (›jemand, der viel trinkt‹), die das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm verzeichnet. Ein Zwei-, Drei- oder Vierpegelsaufer ist jemand, der sich das Glas bis zum jeweiligen Eichstrich vollschenken lässt.

Die meisten aus der älteren deutschen Literatur verfügbaren Belege für Pegel stammen aus dem nieder­deut­schen Sprachraum. So liest man in Fritz Reuters Gedichtsammlung Läuschen un Rimels (1853): „Hei köfft sick nu en schönen Aal | Un set’t sick bi den Bäcker dal | Un lett sick’n Pegel Bramwin geben | Un fängt nu lustig an tau lewen“. In den von Karl Bartsch 1879/80 herausgegebenen Sagen, Märchen und Gebräuchen aus Meklenburg liest man, dass man früher dem Prediger bei Kindstaufen als Honorar „einen Pegel Branntwein und eine Semmel“ schuldig war. Bleibt – mit Blick auf den Alkoholpegel des Predigers – zu hoffen, dass damals nicht zu viele Kinds­taufen an einem Tag stattfanden ...    ⋄    Jochen A. Bär

(286) 13. Oktober – stibitzen (13. Oktober)

Birgit Niehaus aus Lohne hat stibitzen für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen. Das Verb bildet seine Formen regelmäßig (stibitzte, habe stibitzt); es gehört der umgangssprachlich-familiären Stilebene an und bedeutet so viel wie ›auf listige Weise entwenden, an sich bringen‹.

Die Herkunft des Wortes ist ungeklärt. Dialektale Varianten sind stipitzen, stiwitzen oder auch stripitzen. Seit dem 18. Jahrhundert ist stibitzen auch in der Studentensprache bekannt. Vielleicht ist es als eine durch Einfügung der Lautgruppe bi oder pi gestreckte Form von mundartlichem stizen, strizen (›stehlen‹) zu deuten.

Stibitzen wird besonders häufig im Zusammenhang mit Mundraub verwendet. So erzählt der Chirurg und Schrift­steller Carl Ludwig Schleich in seiner Autobiographie: „Natürlich lagen wir Jungen ständig auf dem Wasser oder trieben uns im Hafen [...] umher, da es überall etwas an Ueberseewaren zu bestaunen, studieren, stibitzen und zu naschen gab. Da galt es Johannisbrot, Mandeln, Apfelsinen, Zuckerkand, Rohrzucker, Lakritzen und allerhand Ge­wür­ze zu mausen.“

Selbstverständlich ist es nicht in Ordnung, zur Stillung seiner Gelüste etwas zu stibitzen. Doch bei Gelüsten wie demjenigen, das der Sprachphilosoph Fritz Mauthner in seiner Jugend empfand, wird man vielleicht weniger streng urteilen: „Meine Leidenschaft, die entlegensten Dinge zu lernen, wurde verspottet, und so schämte ich mich bald meiner Wißbegierde. Ich stellte mir die tollsten Aufgaben. Dazu rechne ich nicht, daß ich etwa von meinem zwölften Jahre ab heimlich Französisch, Englisch und Italienisch trieb. Auf unsern österreichischen Gymnasien wurden die modernen Sprachen [...] nicht obligatorisch gelehrt; ich ging zwar einmal in die italienische und viel später in eine französische Privatstunde, aber was ich da gewann, hätte eine Katze bequem auf dem Schwanze forttragen können. Wenn ich heute einige moderne Sprachen geläufig lesen kann, so verdanke ich das meiner heimlichen Leiden­schaft. Ich ging ja allsonntäglich nach dem Trödelmarkte der Judenstadt und da kaufte ich mir eine englische und eine französische Grammatik; die italienische stibitzte ich einem meiner Brüder fort; mit Hilfe dieser Grammatiken und einiger Wörterbücher brachte ich es mit der Zeit so weit, daß ich Shakespeare, den älteren Dumas und Manzoni recht gut lesen konnte. Das waren freilich keine tollen Dinge. Aber in meinem fünfzehnten Jahre hatte ich auch Sans­krit und die Hieroglyphen zu studieren angefangen.“    ⋄    Jochen A. Bär

(287) 14. Oktober – Gas (14. Oktober)

Unser heutiges Wort ist eines, das man aus dem Alltag kennt – zum Beispiel in Wortbildungen wie Gasherd oder Gasheizung –, und auch aus der Naturwissenschaft – zum Beispiel im Zusammenhang der drei Aggregat­zu­stän­de des Festen, des Flüssigen und des Gasförmigen und von den Edelgasen. Aus dem Chemieunterricht erinnert man sich an deren sechs: Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon und das radioaktive Radon. Erst seit wenigen Jahren bekannt ist das künstlich erzeugte, ebenfalls radioaktive Ununoctium. Es ist benannt nach seiner Ord­nungs­zahl 118. In dem Namen stecken lateinische Zahlwörter: zweimal unus (›eins‹) und einmal octo (›acht‹); man muss das Wort daher Un-un-octium aussprechen.

Das Wort Gas ist eine gelehrte Neu­schöp­fung des 17. Jahrhunderts. Es geht zurück auf den Brüsseler Natur­wis­senschaftler und Arzt Johan Baptist van Helmont (1580–1644). Dieser beschrieb in seinem Buch Ursprünge der Me­dizin (1609) einen „wilden Geist“, der von erhitztem Holz und Kohle ausströmte: „hunc spiritum, incognitum hacte­nus, novo nomine gas voco“ („diesen bislang unbekannten Geist bezeichne ich mit einem neuen Namen als Gas“). Das anlautende g wurde vermutlich, wie im Niederländischen üblich, als ch (wie in ach) gesprochen.

Wie er auf diesen Ausdruck kommt, erklärt van Helmont nicht. Vermutlich ist er in Anlehnung an das Wort Chaos gebildet, das von dem frühneuzeitlichen Arzt Theophrast von Hohenheim, besser bekannt als Paracelsus, für den leeren Raum, den Luftraum, auch für luftförmigen, subtilen Dampf gebraucht wurde. Ebenfalls möglich ist die An­lehnung an das Wort Gaze, eine damals gerade in Mode gekommene neue, sehr feine, leichte und gleichsam durchsichtige Stoffart. Die Gaze heißt entweder nach der Stadt Gaza, wo man mit dem Stoff handelte, oder nach dem arabischen gazz (›Roh-, Flockseide‹), das seinerseits aus dem Persischen stammt.

Wie der Lexikograph Johann Christoph Adelung Ende des 18. Jahrhunderts angibt, hieß das Gas in der älteren Sprache bisweilen auch die Gas (was möglicherweise ein Argument für die Anlehnung an die Gaze wäre). Adelung lehnte das „barbarische Wort“ ab: Van Helmont „als ein Schwärmer und Alchymist“ habe mehrere „Nahmen aus­ge­hecket“, um „dunkele und verworrene Begriffe auf eine eben so dunkele Art auszudrucken; daher es zu wünschen wäre, daß unsere Naturkundige ein schicklicheres Wort, welches nicht so sehr das Gepräge der Alchymie an sich hätte, ausfündig machten.“ Adelungs Zeitgenosse, der Sprachpurist Joachim Heinrich Campe, schlug als Ersatz Luftgeist oder Dunstluft vor.

Weil die Nationalsozialisten, speziell in den letzten Jahren des „Dritten Reichs“, Gas zum millionenfachen Mord eingesetzt haben, ist das Wort bis heute belastet. Insbesondere Fügungen wie ins Gas gehen bzw. schicken und Wortbildungen wie vergasen und Vergasung können nicht mehr unbefangen verwendet werden.    ⋄    Jochen A. Bär

(288) 15. Oktober – Abendrot (15. Oktober)

Unser heutiges Wort, vorgeschlagen von Harald Rösler aus Steinfeld, ist eines der klassischen Gefühlswörter der deutschen Sprache. Nicht, weil es, wie beispielsweise Liebe, Zuneigung, Hass, Abscheu, Freude, Ärger, Angst oder ähnliche Wörter, selbst für ein Gefühl stünde, sondern weil es emotional besetzt ist, das heißt Emotionen auslösen kann.

Die häufigsten Assoziationen, die das Wort Abendrot hervorruft, sind ›schön‹ und ›romantisch‹. Das ergab eine – allerdings nicht repräsentative und daher auch nicht wissenschaftlich verlässliche – Umfrage im Familien-, Freun­des- und Bekanntenkreis. Eine Überprüfung der umfangreichen digitalen Textsammlungen des Mannheimer In­sti­tuts für Deutsche Sprache stützt allerdings diesen Befund und bringt zudem weitere Verbindungen ans Licht. Bei­spielsweise erscheint im unmittelbaren Zusammenhang mit Abendrot oftmals Chor oder Lied – ein Hinweis auf die Tatsache, dass das Abendrot eine wichtige Rolle in der deutschen Lyrik spielt und dass beliebte Gedichte wie „Im Abendrot“ von Joseph von Eichendorff häufig vertont wurden (unter anderem von Franz Schubert). Bei Eichendorff heißt es: „Wir sind durch Not und Freude | Gegangen Hand in Hand, | Vom Wandern ruhn wir beide | Nun überm stillen Land. || [...] O weiter, stiller Friede! | So tief im Abendrot | Wie sind wir wandermüde – | Ist das etwa der Tod?“

Man findet in den Mannheimer Korpora, die vor allem Zeitungstexte enthalten, jedoch auch etliche Erwähnungen des Filmtitels Eclipse – Bis(s) zum Abendrot.

Unter Abendrot versteht man die rötliche Färbung des Abendhimmels, die unter bestimmten meteorologischen Bedingungen bei tiefem Sonnenstand, also kurz vor und kurz nach dem Sonnenuntergang zu beobachten ist. Es kommt dadurch zustande, dass das Licht durch Luft- und Wasserdampfmoleküle gestreut wird. Bei tiefem Sonnen­stand bleiben besonders die langwelligen roten Lichttöne übrig, die dann die Farbe des Himmels dominieren.

Bekannt ist die Bauernregel „Abendrot: Gutwetterbot – Morgenrot: schlecht Wetter droht“. Nicht selten trifft sie zu: Abendrot lässt in unseren Breiten oft auf schönes Wetter am folgenden Tag schließen. Bei Abendrot ist nämlich der entfernte Westen nicht wolkenverhangen (die Son­nen­strahlen können also ungehindert durchdringen), und da der Wind in Deutschland oft aus Westen kommt, kann man davon ausgehen, dass von dort erst einmal keine Wolken heraufziehen werden.

Eine alte Seemannsregel besagt übrigens gerade das Gegenteil der Bauernregel: „Abendrot macht Seemann tot“.    ⋄    Jochen A. Bär

(289) 16. Oktober – Bank (16. Oktober)

Es gibt bekanntlich eine ganze Menge Wörter, denen man ihre fremde Herkunft nicht ansieht, weil sie in Aussprache und Schreibung so eingedeutscht sind, dass sie wie deutsche Wörter wirken. Sie heißen in der Sprachwissenschaft Lehnwörter (im Gegensatz zu den nicht assimilierten Fremdwörtern). Krass (lateinisch crassus), Spaß (italienisch spasso) und Tollpatsch (ungarisch talpas) sind solche Lehnwörter.

Nicht bei allen Lehnwörtern liegen die Dinge jedoch so, dass einfach nur ein Wort aus einer anderen Sprache übernommen wurde. Manchmal verstecken sich hinter ganz alltäglichen Wörtern viel komplexere Geschichten. So auch bei unserem heutigen Kandidaten: Bank. Zunächst einmal lässt sich festhalten: Es gibt nicht nur ein Wort Bank, sondern deren zwei. Es handelt sich dabei um so genannte Homonyme (ausdrucksgleiche Wörter). Man er­kennt die Unterschiedlichkeit der Wörter leicht in dem mit dem Deutschen eng verwandten Englischen: Dort heißt die Sitzgelegenheit aus Holz, Stein oder anderen Materialien, die mehreren Personen nebeneinander Platz bietet, bench, das Unternehmen, das Geld- und Kreditgeschäfte betreibt und den Zahlungsverkehr vermittelt, hingegen bank. Man erkennt die Unterschiedlichkeit aber auch im Deutschen, nämlich anhand der Formen des Plurals (der „Mehrzahl“): Bei mehreren Sitzmöbeln sprechen wir von Bänken, bei mehreren Geldhäusern von Banken.

In jedem besseren Wörterbuch finden sich daher nacheinander zwei verschiedene Einträge. Nur nicht im Deut­schen Wörterbuch der Brüder Grimm: Es behandelt die Sitzbank und die Geldbank im selben Artikel. Das ist aller­dings kein Hinweis darauf, dass es sich dabei um ein schlechteres Wörterbuch handelt, sondern ein Hinweis auf die besondere Wortgeschichte. In Kürze: Das Wort für die Sitzgelegenheit ist ein altes germanisches Erbwort, das es im Deutschen immer schon gab. Ursprünglich war damit jede Art von Erhöhung des Bodens gemeint (vgl. Ra­sen­bank, Sandbank), aber auch ein Tisch konnte als Bank bezeichnet werden (so bei den Tischen – den La­den­theken – der Fleischer und der Geldwechsler, den Fleischbänken bzw. Wechselbänken). Speziell im Fall der Bank des Geldwechslers wurde das Wort als Fremdwort im Italienischen verwendet: il banco; es bezeichnete bald nicht mehr nur den Wechseltisch, sondern auch das Haus, in dem Geldgeschäfte stattfanden.

Da sich im 15. Jahrhundert in Norditalien das frühneuzeitliche Finanzwesen entwickelte, das bald auch in Deutschland erfolgreich war, wurde das italienische banco im Sinne von ›Finanzhaus‹ ins Deutsche übernommen. Es handelt sich also um einen Fall von Rückentlehnung.    ⋄    Jochen A. Bär

(290) 17. Oktober – quirlig (17. Oktober)

Unser heutiges Wort haben die Kinder der letztjährigen Klasse 6b der Vechtaer Liebfrauenschule vorgeschlagen. Es bedeutet ›lebhaft, unruhig, rege, geschäftig‹ und ist abgeleitet von dem Substantiv („Hauptwort“) Quirl, das, dem gro­ßen Duden zufolge, verschiedene Bedeutungen hat. Erstens bedeutet es: ›aus einer kleineren, sternförmig gekerb­ten Halbkugel mit längerem Stiel bestehendes Küchengerät (aus Holz oder einem anderen Material), das zum Ver­rühren von Flüssigkeiten dient‹; im übertragenen Sinne kann man – scherzhaft – auch einen Ventilator bzw. einen Propeller Quirl nennen. Zweitens bedeutet es (ebenfalls umgangssprachlich scherzhaft) ›jemand, der sehr lebhaft, von unruhiger Munterkeit ist‹. („Sie ist ein Quirl und ein Wirbelwind, der jederzeit zu Schalk und Spiel bereit ist.“) Drittens heißt in der Botanik die ›stern- oder büschelartige Anordnung von drei oder mehr Ästen oder von Blättern um einen Knoten‹ ein Quirl. Zudem ist Quirl auch noch der Name eines Tafelberges in der linkselbischen sächsischen Schweiz (bei Königstein).

Will man dem Internet-Nachschlagewerk Wikipedia glauben, so ist die dritte im Duden genannte Bedeutung die ursprüngliche: „Der Name leitet sich vom Astquirl ab. Früher wurden Quirle aus Astquirlen insbesondere von Tannen oder Fichten hergestellt.“ Wirft man allerdings einen Blick in die sprachwissenschaftliche Literatur, so findet man: Das Wort leitet sich wohl ab von einer indoeuropäischen Wurzel tuer, tur oder tru (›drehen, wirbeln‹), die auch Wör­tern wie stören und Sturm zugrunde liegt. Verwandt sind mittelhochdeutsch twerl oder dwarl (›Haarwirbel, Kraus­haar‹) und althochdeutsch thweran (›mengen, drehen, durcheinandermischen‹). Der unterschiedliche Anlaut (tw gegenüber kw, geschrieben als qu) geht auf dasselbe lautgeschichtliche Phänomen zurück, das auch bei dem schon erläuterten Wort Zwerchfell (= Querfell, vgl. unsere Kolumne Nr. 84 vom 25. März) erkennbar wird: Man konnte kw im Mittelhochdeutschen auch als tw sprechen und umgekehrt.

Vor diesem worthistorischen Hintergrund ist es mehr als wahrscheinlich, dass nicht der Astquirl die Bezeichnung des Küchengerätes motivierte, sondern dass man umgekehrt ein Stück Holz, bei dem mehrere Äste sternförmig hervorwachsen, Quirl nannte, weil man es gut zum Herumrühren und Vermischen von Flüssigkeiten verwenden konnte. Wie man sieht, sollte man der Wikipedia nicht blind vertrauen – weshalb übrigens die Germanistik­stu­die­renden der Universität Vechta dieses Nachschlagewerk nicht als Grundlage für ihre Arbeiten verwenden dür­fen.    ⋄    Jochen A. Bär

(291) 18. Oktober – Wams (18. Oktober)

„Junge, mach mir den Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen.“ Diese Worte, die im Märchen der Brüder Grimm das tapfere Schneiderlein im Traum spricht und durch die es sich, frisch gebackener Gemahl der Königstochter, als Schneider verrät, waren meine erste Begegnung mit dem Wort Wams. Der Zusammenhang war schon für den Vierjährigen klar genug: Ein Wams ist, ebenso wie Hosen, etwas, an dem ein Schneider oder auch dessen Lehrjunge arbeitet – ein Kleidungsstück. Was der Vierjährige nicht wusste, was aber das große Dudenwörterbuch lehrt: Ein Wams ist zunächst das unter dem Panzer, der Rüstung getragene Untergewand der Ritter, später, mit der Weiterentwicklung der Kleidermode, auch ein Teil der bürger­li­chen Kleidung: ein den Oberkörper bedeckendes, meist hochgeschlossenes, eng anliegendes, bis zur Taille rei­chendes Klei­dungs­stück für Männer. Im 18. Jahrhundert wurden die Wämser (so der Plural) als das üblicher­wei­se unter dem Rock (dem Obergewand für Männer, wie in Gehrock, nicht dem Frauenrock) Getragene durch die är­mellosen Westen verdrängt. Heute gibt es sie nur noch bei bestimmten Volkstrachten, vor allem in Süddeutsch­land.

Gemeinhin heißt es das Wams; die maskuline Form verzeichnet der Duden überhaupt nicht, sie steht aber als Variante im Deutschen Wörterbuch derselben Brüder Grimm, die in ihren Märchen diese Form be­reits dokumentiert hatten. Und, kaum mag man es glauben, Wams ist ein Lehnwort. Es weist zurück auf das grie­chische pambax (›Baumwolle‹), das auch den Wörtern Bombast und bombastisch zugrunde liegt (Bombast be­deutet eigentlich ›Aufgebauschtes‹ und stand ursprünglich für den Stoff, der zum Auswattieren von Jacketts ver­wendet wurde). Das griechische Wort kommt seinerseits von persisch panbah (›Baumwolle‹) und wurde – unter Bei­be­hal­tung der Bedeutung ›Baumwolle‹ – über lateinisch bambax zu altfranzösisch bambais, und letzteres beeinflusste durch die lautliche Ähnlichkeit das ebenfalls altfranzösische wambais – das Wort für das gefütterte Untergewand, des Ritters. Mit wambais hat sich allerdings das Altfranzösische zudem wohl auch beim Althoch­deut­schen bedient. Dort nämlich gab es das Wort wamba (heute noch bekannt als Wampe bzw. Wamme), das so viel wie ›Leib, Bauch‹ bedeutete. Das altfranzösische wambais verband somit die beiden Bedeutungsaspekte ›aus (Baum-)Wolle‹ und ›unmittelbar auf dem Leib getragen‹. Als wambeis oder wambes (›unter dem Panzer, der Rüstung getragenes Untergewand der Ritter‹) wurde es um 1200 ins Mittelhochdeutsche entlehnt.

Der Archivar der Universität Vechta, Franz-Josef Luzak, teilt übrigens mit, dass im Oldenburger Münster­land (spe­ziell in Damme) im Plattdeutschen mit Wams ein Faulpelz gemeint ist, und Prof. Dr. Alwin Hanschmidt (eben­falls Vechta) teilt mit, dass man in der Rietberger Gegend den Faulpelz als Vollwams kennt.    ⋄    Jochen A. Bär

(292) 19. Oktober – Plan (19. Oktober)

Wie heißt es so schön in Bertolt Brechts Dreigroschenoper: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan: Gehn tun sie beide nicht.“ Oder wie sagt der Volksmund in Anlehnung an das Sprichwort „Der Mensch denkt – Gott lenkt“: „Der Mensch dachte – Gott lachte“.

Das menschliche Planen ist oft vergebens, weil eben meistens alles ganz anders kommt als geplant. Aller­dings nicht immer. So war heute geplant, das Wort Plan zu erläutern, und zumindest dieser Plan ist aufgegan­gen.

Na ja: fast. Denn wieder einmal macht uns die Homonymie („Ausdrucksgleichheit“) einen Strich durch die Rech­nung: Es gibt nicht ein einziges Wort Plan, sondern mehrere.

Zunächst ist hier das bis heute geläufige, zur Alltagssprache gehörende Substantiv im Brecht’schen Sinn zu nennen: ›Vorstellung von der Art und Weise, in der ein bestimmtes Ziel verfolgt, ein bestimm­tes Vorhaben verwirklicht werden soll‹, auch ›Absicht, Vorhaben‹ sowie (in der sozialistischen Plan­wirt­schaft) ›verbindliche Richt­linie für die Entwicklung der Volkswirtschaft oder eines bestimmten Bereichs der Volkswirtschaft im Rahmen eines bestimmten Zeitraums‹. Des Weiteren bedeutet dieses Wort Plan auch noch ›Entwurf in Form einer Zeichnung oder grafischen Darstellung, in dem festgelegt ist, wie etwas, was geschaffen oder getan werden soll, aussehen, durch­geführt werden soll‹ (beispielsweise in die Architektin hatte ihre Pläne dabei) und ›Übersichtskarte‹ (wie in Stadt­plan). Dieses Substantiv geht – ebenso wie Pflanze – auf lateinisch planta (›Pflänzling, Setzling, Schössling‹) zurück; die Entlehnung verlief über französisch planter (›pflanzen; hinstellen, aufstellen, errichten‹).

Ein ganz anderes Wort liegt vor bei dem nur noch in der gehobenen Sprache gebräuchlichen Plan im Sinne von ›ebene, weiträumige Fläche‹; so beispielsweise in August Wilhelm Schlegels Gedicht Tristan (1811): „Da ward vor Tintajol auf grünem Plan / Das reiche Fest des Königs aufgethan.“ Dieses Substantiv geht zurück auf latei­nisch planus (›eben, flach, platt; klar‹) beziehungsweise planum (›Ebene, Fläche, Platz‹, auch ›Kampfplatz‹, Turnier­platz‹).

Denselben Ursprung hat auch das dritte ausdrucksgleiche Wort: das Adjektiv plan. Es bedeutet ›flach, eben, nicht gewölbt‹ (eine plane Fläche; etwas plan schleifen) sowie (abwertend) ›ohne gedankliche Tiefe, oberflächlich, seicht‹.

Mit anderen Worten: Der Plan, „das“ (eine) Wort Plan vorzustellen – dieser Plan erwies sich beim ersten Blick ins Wörterbuch als zu plan.    ⋄    Jochen A. Bär

(293) 20. Oktober – jedweder (20. Oktober)

Der Vorschlag für das heutige Wörterjahrwort stammt von Ursula Henjes. Sie schreibt dazu: „Ich liebe Wörter, habe meine Examensarbeit bei Professor Kürschner über Neologismen geschrieben. Besonders aber mag ich Archaismen. Von den vielen habe ich für Sie ausgewählt: jedweder, jedwede, jedwedes, bekannter Gebrauch noch in der Wendung jedweder Couleur.“

Neologismen sind sprachliche Neuprägungen, Archaismen in gewisser Weise das Gegenteil, nämlich „Wörter, Wortformen, syntaktische Erscheinungen und Schreibungen, die für einen bestimmten Zeitraum als veraltend gelten und schließlich als veraltet betrachtet werden“, wie die Definition im Metzler Lexikon Sprache lautet. Die Wörterbücher sind sich nicht ganz einig, ob jedweder hierher zu zählen ist. Im Universalduden fehlt ein entspre­chender Vermerk, im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) und in Wahrigs Deutschem Wörterbuch ist er dagegen vorhanden: „veraltend“ bzw. „veraltet“. In Kluges Etymologischem Wörterbuch heißt es gar: „obsolet (stark veraltet)“. Meinem eigenen Sprachempfinden entspricht am besten die Beschreibung im Duden-Band Richtiges und gutes Deutsch: „Das Pronomen jedweder steht nachdrücklich für jeder, kommt aber nur noch in gehobener Sprache vor.“ Und in dieser Stilschicht ist es ziemlich lebendig, wie etwa die zahlreichen Belege aus der Wochenzeitung Die Zeit zeigen, die im DWDS aufgelistet sind: Schon zwanzig Nennungen im laufenden Jahr und viele aus den Jahren davor, darunter 2012 auch die von Frau Henjes genannte Wendung: „Politiker jedweder Couleur beklagen die Boni-Exzesse und die undurchsichtigen Finanzinstrumente“.

Was die Herkunft des Wortes angeht, ergibt sich auf den ersten Blick ein Zusammenhang mit dem Indefinit­pronomen (dem „unbestimmten Fürwort“) jeder. Doch wie verhält es sich mit weder? Dieses Wort, das wir heute nur noch als Verneinungswort in der Kombination weder ... noch kennen, steckt ursprünglich auch in jeder, das im Althochdeutschen noch iowedar / eohwedar lautete und eine Zusammensetzung aus io / eo mit der Bedeutung ›immer‹ und (h)wedar mit der Bedeutung ›wer von beiden, irgendeiner von beiden‹ darstellte (also so viel wie ›alle beide, jeder von beiden‹ bedeutete). Von wedar ist nur noch -der übriggeblieben, genauer gesagt eigentlich nur noch das d, denn das -er (bzw. -e, -es, -em usw.) dient als Endung. Die Bedeutung hat sich von der Zweizahl auf die Allzahl (›ausnahmslos alle zu einer Gesamtheit gehörenden einzelnen Personen oder Dinge‹) erweitert.

Erhalten geblieben ist der Anfang von weder in unserem jedweder, das im Mittelhochdeutschen ietweder oder iegeweder lautete (und ›jeder von beiden‹ und ›jeder von vielen‹ bedeutete). Auch hier ist der Wortausgang als Endung umfunktioniert worden: jedwed-er, jedwed-e, jedwed-es usw. Es hat eine „flexionszerrüttung“ statt­ge­fun­den, die ursprüngliches ietweder-er / jedweder-er, jedweder-e, jedweder-es usw. ergriff, „wiewol die ältern formen bis ins 17. jh. dagegen ankämpfen“ – so zu lesen beim entsprechenden Stichwort im Grimm’schen Wörterbuch (1877) aus der Feder von Moriz Heyne, einem der Nachfolger der Brüder Grimm.    ⋄    Wilfried Kürschner

(294) 21. Oktober – Sperling (21. Oktober)

Der Vorschlag für unser heutiges Wort kam aus der letztjährigen Klasse 7aR der Oberschule Dinklage. Schülerin Michelle Sperling schrieb dazu: „Ich habe dieses Wort gewählt, weil ich mit Nachnamen auch Sperling heiße und ein wenig lachen musste, als ich es im Wörterbuch fand.“

Personennamen sind auch Wörter: eine besondere Form von Substantiven. Speziell die Familiennamen, die im deutschen Sprachraum seit dem späten Mittelalter existieren, gehen in den allermeisten Fällen auf „echte“ Wörter zurück. Die alten Germanen und auch das Alt- und Mittelhochdeutsche kannte nur den einfachen Personennamen. Er entspricht dem heutigen Vornamen. Die Menge der gebräuchlichen Eigennamen war nicht sonderlich groß. Als im späten Mittelalter die Bevölkerung immer größer wurde, gab es immer mehr Personen mit gleichem Namen. Um die verschiedenen Friedriche, Heinriche, Albrechte usw. zu unterscheiden, bürgerten sich Beinamen ein, die seit der frühen Neuzeit immer mehr von der Einzelperson auf ihre Familie übergingen, also „erblich“ wurden. Sie konnten den Beruf nennen (Müller, Schmidt, Schneider ...), die Herkunft (Bayer, Schwab, Mannheimer ...), den Wohnort (Stein, Busch, Berg, zur Mühlen, Amthor ...), den Namen des Vaters oder auch der Mutter (Friedrichs, Johannson, Meiensen ›Sohn der Maria‹) oder eine besondere Eigenschaft wie die Haar- oder Hautfarbe, körperliche Merkmale (Schwarz, Braun, Weiß, Schön, Klein, ...). Bei Tierbezeichnungen, die zu Familiennamen wurden, konnte entweder das Wort in übertragener Bedeutung verwendet werden (Bär ›jemand wie ein Bär‹) oder das Wort konnte für ein charakteristisches Besitztum stehen (Bär ›der mit dem Bären, der Bärenführer, jemand, dem ein (Tanz-)Bär gehört‹).

Auf welchen historischen Zusammenhang es zurückgeht, dass jemand Sperling heißt, lässt sich heute nicht mehr im Einzelnen sagen: Entweder war der Urahn der Familie gewitzt, frech wie ein Sperling, oder er konnte ebenso gut schimpfen wie ein solcher, oder ihm war einer zugeflogen, oder er fütterte gern die Sperlinge, oder ...

Das Wort Sperling für den bekannten kleinen Vogel, den Spatzen, gab es schon im Althochdeutschen (sperih, sperihha). Es geht, wie schon in anderem Zusammenhang erläutert – Kolumne Nr. 143 (Spürsinn), 23. Mai – auf eine indoeuropäische Wurzel sp(h)er(e) (›zappeln‹) zurück. In der Zoologie wird das Wort auch als Name einer Ordnung gebraucht. Zu den Sperlingsvögeln gehören neben dem bekanntesten Vertreter, dem Haussperling („Passer domesticus“) sämtliche hierzulande bekannten Singvögel, aber auch Raben, Häher, Kleiber, Schwalben und viele andere.    ⋄    Jochen A. Bär

(295) 22. Oktober – feinfühlig (22. Oktober)

Unser heutiges Wort, das Adjektiv feinfühlig, hat mein Vechtaer Kollege Professor Dr. Peter Kaiser vorgeschlagen; ebenfalls eingegangen – von Martina Wiehebrink aus Holdorf – ist der Vorschlag für das zugehörige Substantiv Feingefühl.

Das Adjektiv erklärt der große Duden mit ›fein empfindend, zartfühlend; einfühlsam, sensibel‹ (zum Beispiel ein feinfühliger Mensch) beziehungsweise mit ›auf feinste Impulse ansprechend‹ (in der Technik, zum Beispiel ein feinfühliger Sensor). Insbesondere bei der ersten der beiden Bedeutungen führt das Wörterbuch anschaulich vor Augen: Die Bedeutung eines Wortes ist nicht ein Gegenstand oder Sachverhalt der Realität, auch nicht eine Vorstellung oder sonstige mentale Größe, sondern sie besteht in einer Reihe von anderen Wörtern. Die Bedeutung eines Wortes kenne ich dann, wenn ich weiß, wie und mit welchen anderen Wörtern ich es zu regelgemäßen Sätzen oder Texten zusammenfügen kann. Ich weiß also die Bedeutung von feinfühlig, wenn ich weiß, dass man es in bestimmten Zusammenhängen durch andere Wörter wie einfühlsam, feinsinnig, sensibel oder zartfühlend ersetzen kann, ohne dass sich der Sinn ändert: „Die Pianistin hat die Mozart-Sonate sehr feinfühlig (einfühlsam/feinsinnig/sensibel/zartfühlend) interpretiert.“

Nur: Wenn ich, um die Bedeutung eines Wortes zu wissen, die anderen Wörter kennen muss, mit denen es sinnverwandt ist – woher weiß ich deren Bedeutung? Sensibel beispielsweise heißt so viel wie feinfühlig, einfühl­sam, feinsinnig oder zartfühlend. Es kann allerdings auch so viel bedeuten wie dünnhäutig, empfindlich, mimo­sen­haft, verletzbar oder verletzlich („Sei doch nicht immer so sensibel!“), und auch heikel lässt sich anstelle von sensibel verwenden („ein sensibles Thema“). Woher weiß ich nun wiederum, was empfindlich oder heikel bedeutet? In Wörterbüchern finde ich anstelle des einen Wortes immer nur andere Wörter, die ich ihrerseits nachschlagen muss – und dann komme ich entweder wieder dort heraus, wo ich angefangen habe (sensibel bedeutet so viel wie feinfühlig) oder an einer ganz anderen Stelle (sensibel bedeutet so viel wie heikel, heikel aber ist keineswegs gleichbedeutend mit feinfühlig).

Jede Sprache ist ein dichtes Netz aufeinander verweisender, miteinander in Beziegung stehender Ausdrücke. Dass zwei Wörter exakt das Gleiche bedeuten, ist dabei die Ausnahme. In der Regel gibt es immer kleine Unter­schiede, zarte Nuancen wie die zwischen feinfühlig, sensibel und den anderen vermeintlich gleichbedeutenden Wörtern. Um sie zu (er)kennen, braucht man viel sprachliches Feingefühl.     ⋄    Jochen A. Bär

(296) 23. Oktober – anders (23. Oktober)

Ich habe dieses Wort zum ersten Mal zu hören bekommen, als mir warm war. Alle hatten Pullis, Langarmshirts und lange Hosen an. Ich nicht. Alle sagten, wie kalt es doch sei. Dass der Reif einen schon beim Ansehen zum Frösteln bringe und dass die Luft schneidend frisch sei. Ich nicht. Alle wollten rein und warme Getränke trinken – was ich zwar auch gern mache, aber eben lieber draußen: Dann spürt man die prickelnde Wärme mehr.

Alle sagten, dass, wenn der Atem kondensiert, man bloß nicht mit nassen Haaren rausgehen sollte. Ich hab es doch gemacht. Ich lief mit einer dünnen Regenjacke herum, wenn andere schon ihre Mäntel auspackten. Wenn sie schon reingingen, weil ihnen die Füße abfroren, tanzte ich noch immer auf dem Pflaster. Es war Winter.

In dieser Zeit sagten die Leute zum ersten Mal, ich sei anders. Erst fand ich es komisch und wusste gar nicht, was sie damit meinten. Ich habe versucht, dass sie aufhörten, das zu sagen. Dazu habe ich mich eine Zeit lang verstellt und mich vor ihren Blicken versteckt, doch das hielt nicht lange. Bald fing ich an, mich so zu benehmen, wie ich wollte. Ich ging manchmal nur im Pulli raus, wenn draußen Schnee lag. Ich fand es schön, im Regen zu stehen und nass zu werden und versteckte mich nicht mehr unter einem Regenschirm vor ihm. Wenn andere sagten, dass ein Bild hässlich sei, fand ich es oft schön. Ich hatte keine bestimmte Richtung, sondern mochte eben alles, was ich mochte. Das widersprach sich oft in sich selbst, wofür ich auch keine Erklärung hatte; aber das störte mich nicht. Ich wollte so vieles machen, dass ich es insgesamt niemals in einem Leben schaffen könnte, und so viel erleben, was ich aber insgesamt gar nicht überleben könnte.

Jetzt ist das immer noch so, doch jetzt habe ich meine Freunde um mich herum. Mit jedem von ihnen teile ich ein paar meiner Eigenarten, die gar nicht so eigenartig sind. Oft nerve ich sie und manchmal sie mich auch, doch wir halten immer zusammen. Wir sagen gerade heraus, was wir mögen und wie wir sind. Vor uns selbst müssen wir uns nicht verstecken, sagt man. Also muss ich mich auch nicht vor meinen Freundinnen verstecken, denn jede von ihnen ist zum Teil ein Teil von mir.

Insgesamt ergänzen wir uns.

Wir sind alle anders. Und wir sagen es.

Deshalb ist anders mein Lieblingswort. Und außerdem ist im Grunde jeder Mensch ein bisschen anders.    ⋄    Luisa aus dem Moore

(297) 24. Oktober – Kompetenz (24. Oktober)

Das Wort Kompetenz kommt vom lateinischen competere (›zusammentreffen, zusammenstimmen‹, auch ›der Möglichkeit nach jemandem zukommen, zustehen‹). Es bedeutet nach heutigem Sprachgebrauch dreierlei: erstens ›Sachverstand; Fähigkeiten‹ (jemand hat beispielsweise fachliche Kompetenz, ist in einem bestimmten Gebiet oder einer bestimmten Hinsicht kompetent), zweitens ›Zuständigkeit‹ (jemand überschreitet beispielsweise seine Kompetenz) und drittens – nach dem amerikanischen Sprachwissenschaftler Noam Chomsky – ›Summe aller sprachlichen Fähigkeiten‹ (die muttersprachliche Kompetenz).

Fachsprachen bieten aus der Sicht der Allgemeinsprache nicht selten Anlass zum Schmunzeln oder zum Kopfschütteln. Im vorliegenden Fall ist es die juristische, die Rechtssprache, die ein Wort erfunden hat, das vor einigen Jahren weithin bekannt wurde, weil Edmund Stoiber damit einen seiner unnachahmlichen Redebeiträge schmückte: Kompetenzkompetenz. Man versteht darunter das Recht eines Bundesstaates, seine Zuständigkeiten durch Verfassungsänderung auf Kosten der Gliedstaaten zu erweitern, oder auch die Befugnis eines staatlichen Organs, besonders eines Gerichts, über den Umfang seiner eigenen Kompetenzen (Zuständigkeiten) verbindlich zu entscheiden.

In der neueren Unterrichtslehre und Bildungspolitik ist Kompetenz eines der häufigsten Schlagwörter. Es geht in Zeiten, in denen alles auf die Wirtschaft und eine künftige Steigerung des Bruttosozialprodukts hin ausgerichtet ist, nicht mehr um Wissen, schon gar nicht um Bildung (was sich schon daran zeigt, dass allenthalben Bildung mit Ausbildung verwechselt wird), sondern nur noch um Wettbewerbsfähigkeit. Die Schulen und Universitäten werden von der Politik genötigt, Kompetenzen zu vermitteln; kein Lehrplan mehr, der nicht spezifische Kompetenzen als verbindliche Zielvorgaben enthält. Als ich in Vechta Professor wurde, war eine meiner ersten Aufgaben die Neuformulierung der Studienordnung in meinem Teilfach. Meine Vorschläge kamen von der Verwaltung mit dem Kommentar zurück: „Sie denken zu sehr von den Inhalten her. Bitte orientieren Sie sich an den vorgegebenen Kompetenzen.“

Es sei – wieder einmal – darauf hingewiesen, dass Wettbewerb nicht alles ist und dass nicht jeder Nutzen sich berechnen lässt. In der Wissenschaft hat Wissen einen Selbstzweck. Damit bleiben, Kompetenzen hin oder her, die Studierenden in meinen Lehrveranstaltungen konfrontiert. Gibt man diesen Anspruch preis, läuft im Studium früher oder später alles nur noch auf die Fähigkeit hinaus, das bleibende Nichtwissen oberflächlich zu vertuschen. Anders gesagt: auf Inkompetenzkompensationskompetenz.    ⋄    Jochen A. Bär

(298) 25. Oktober – Rauke (25. Oktober)

Ein altes, hierzulande seit langem bekanntes Gemüse ist die Rauke. Sie war in der ganzen frühen Neuzeit bekannt und beliebt. Schlägt man das vierbändige Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von Jo­hann Christoph Adelung auf, das einflussreichste Wörterbuch des späten 18. Jahrhunderts, so findet man darin einen recht ausführlichen Artikel: „Die Rauke, [...] der Nahme eines Schotengewächses, [...] von welchem es meh­rere Arten gibt. Das Sisymbrium Nasturtium des Línnee ist bey uns unter dem Nahmen der Brunnkresse am be­kanntesten. Die morgenländische Rauke, Sisymbrium orientale L. hat filzige Blätter und einen ebnen Stamm, und ist im Oriente einheimisch. Eine andere Art, deren Schoten senkrecht stehen, Sisymbrium strictissimum L. ist auf den rauhen Bergen der Schweiz und Italiens einheimisch. [...] Eine niedrige Art, welche, wenn sie zwischen den Fingern gerieben wird, wie Knoblauch stinket, deren Same scharf und beißend ist, und wie Senf schmeckt, Sisymbrium supinum L. wächst in Frankreich und Spanien. [...] Auch eine Art des Kohles, welche in der Schweiz einheimisch ist, deren Blätter unter andern Kräutern als ein Salat gegessen werden, Brassica Eruca L. ist unter dem Nahmen der wilden Rauke bekannt.“

In bestimmten niederdeutschen Gebieten kennt man die Rauke als Wruke. Damit ist die Kohlrübe gemeint. Bo­tanisch gesehen handelt es sich um ein anderes Gewächs als bei der Rauke. Doch wie so oft bei Pflanzen­na­men – vgl. auch unsere Kolumne Nr. 126 (Gänseblümchen) vom 6. Mai – wurde eine und dieselbe Bezeichnung auf ganz unterschiedliche Gewächse angewandt. In einigen Gegenden ist auch für die Reseda der Namen der Spanischen Rauke gebräuchlich.

Durchsucht man die Literatur vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, so findet man, abgesehen von ein paar Nach­schla­gewerken, vor allem dem schon zitierten Adelung, kaum einen Hinweis auf die Rauke. Das Gemüse scheint kollektiv in Vergessenheit geraten zu sein. Auch heute sucht man es in der Küche, auf den Märkten und in den Supermärkten vergebens – könnte man denken. Denn das Wort Rauke ist in der Tat kaum noch gebräuchlich; man denkt dabei an Historisches, nicht an Gegenwärtiges.

Die Pflanze selbst aber ist dennoch allgegenwärtig. Wieder. Seit man hier­zu­lande die italienische Küche jenseits von Pizza und Spaghetti Bolognese entdeckt hat, also seit dem späten 20. Jahrhundert. Man muss nur wissen, dass wir sie heute nicht mehr unter ihrem alten deutschen Namen Rauke kennen, sondern eben unter ihrem italienischen Namen Ruca, besser gesagt unter dem zugehörigen Diminutivum (der „Verkleinerungsform“): Rucola.    ⋄    Jochen A. Bär

(299) 26. Oktober – kurzweilig (26. Oktober)

Langeweile ist es, wenn man sich der Zeit in ihrer reinen Zeitlichkeit bewusst wird: ein „als unangenehm, lästig empfundenes Gefühl des Nicht-ausgefüllt-Seins, der Eintönigkeit, Ödheit, das aus Mangel an Abwechslung, An­regung, Unterhaltung, an interessanter, reizvoller Beschäftigung entsteht“ – so erklärt das große Duden­wör­ter­buch das Wort Langeweile.

Das Gegenteil von langweilig ist kurzweilig (›unterhaltsam‹). Dieses Wort wurde von Lydia Eilhoff aus Lohne für unsere Kolumne vorgeschlagen. „Bis heute gibt es dazu leider kein Substantiv“, schreibt sie dazu.

Geht man davon aus, dass man zu kurzweilig nicht Kurzweile, so wie Langeweile zu langweilig, bilden kann, so ist die Beobachtung zutreffend. Es gibt aber im großen Dudenwörterbuch durchaus ein – allerdings als veraltend ge­kennzeichnetes und aus dem heutigen Sprachgebrauch tatsächlich schon weitgehend verschwundenes – Sub­stan­tiv („Hauptwort“) zu kurzweilig: die Kurzweil. Es bedeutet so viel wie ›lustiger, angenehmer Zeitvertreib‹. In der klassi­schen deutschen Literatursprache bedeutete es auch ›Spaß, Scherz‹, so in Schillers Wilhelm Tell: „Scherzt nicht, o Herr! mit diesen armen Leuten! | Ihr seht sie bleich und zitternd stehn – So wenig | Sind sie Kurzweils gewohnt aus Eurem Munde.“ (Wir erinnern uns an den Deutschunterricht: Gessler hat dem Tell soeben befohlen, den Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen.)

Was auf jeden Fall zutrifft, ist die Beobachtung, dass es zwar zu Langeweile und langweilig ein Verb langweilen gibt – man kann sich oder jemanden langweilen –, nicht aber zu Kurzweil und kurzweilig: Man kann niemanden kurzweilen.

Interessant ist auch, dass die Länge beziehungsweise Kürze der Zeit schon in den beiden Wörtern Kurzweil und Langeweile zum Ausdruck gebracht ist. Sie sind im Grunde genau gleich gebildet; aber das eine besteht aus zwei, das andere aus doppelt so vielen Silben. Man braucht daher länger für die Aussprache von Langeweile als für die von Kurzweil.

Ebenfalls interessant ist, dass bei Langeweile etwas im Deutschen sehr Seltenes vorkommt: die so genannte Binnenflexion. Setzt man das Wort in den Genitiv (den „Wesfall“), so kann es entweder der Langeweile oder aber der Langenweile lauten: das n in der Mitte gehört mit zum Genitiv, obgleich man bei Substantiven im Wortinneren sonst keine derartige Kennzeichnung des Falls hat (es heißt die Klinke der Haustür, nicht der Hausestür). Das n zeigt an, dass es sich ursprünglich um eine Zusammensetzung handelte: die lange Weile, der langen Weile. Daran ließen sich höchst tiefsinnige Gedanken über Grammatik anschließen. Aber wir wollen unsere Leser ja nicht langwei­len.    ⋄    Jochen A. Bär

(300) 27. Oktober – Kolumne (27. Oktober)

Zum dreihundertsten Mal erscheint heute unsere Kolumne „Das Jahr der Wörter“. Höchste Zeit, endlich auch einmal nach dem Wort Kolumne zu fragen!

Die meisten wissen: Kolumne ist ein aus dem Lateinischen stammendes Wort; das lateinische columna bedeu­tet ›Säule‹. Es gehört zu dem Verb („Zeitwort“) cellere, das so viel heißt wie ›bewegen, treiben‹ und das auch in un­serem Adjektiv exzellent steckt (vgl. unseren diesbezüglichen Beitrag Nr. 45 vom 14. Fe­bruar). Unter columna ist daher wörtlich ›das Emporgetriebene, Hochragende‹ zu verstehen.

In der Fachsprache der Druckerei versteht man unter einer Kolumne eine Säule im übertragenen Sinn: eine Druckspalte. Oft stehen ja zwei oder mehr Spalten auf einer Seite; sie gleichen dann optisch nebeneinander­ste­hen­den Säulen. Und wenn eine Person in einer Zeitung oder Zeitschrift regelmäßig immer an der gleichen Stelle (in der gleichen Spalte) Raum bekommt, um eine persönliche Meinung, einen Kommentar zu aktuellen Ereignissen oder einen Beitrag zu einem bestimmten Themengebiet zu veröffentlichen, dann nennt man diesen Raum als solchen sowie jeden einzelnen dort erscheinenden Text ebenfalls Kolumne. Das kann dann – wie in unserem Fall – ohne weiteres auch mehr als eine Spalte sein, und es muss sich auch nicht immer um dieselbe Person handeln. Das „Jahr der Wörter“ hat – neben meiner Wenigkeit – neun Autorinnen und Autoren. Ihnen sei für ihre bisherige Arbeit an dieser Stelle schon einmal herzlich gedankt – zumal angesichts der Tatsache, dass sie – wir alle – diese Arbeit aus bloßer Begeisterung für die Sache (will sagen: ohne Honorar) übernommen haben. Das darf dann schon auch nochmal gesagt werden.

A propos Arbeit: In den Kolumnen des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs findet man unter dem Stichwort arbeit folgenden Beleg aus der Vorrede zu einem Wörterbuch des 16. Jahrhunderts: „als ich dieses Dictionarium [...] für die hand genommen“, soll heißen: ›als ich an diesem Wörterbuch zu arbeiten begann‹, „habe ich [...] nicht gewust / [...] was vor ein vberauß grosse arbeit ich mir auff dem halß geladen.“ Zugegeben: Dieser Gedanke ist mir beim „Jahr der Wörter“ auch schon hier und da gekommen ...    ⋄    Jochen A. Bär

(301) 28. Oktober – Kürschner (28. Oktober)

Das heutige Wort stammt aus dem Slawischen. Es ist ein Lehnwort, schon seit dem Althochdeutschen. Kur­si­na­ri, die Berufsbezeichnung des Pelze verarbeitenden Handwerkers ist abgeleitet von kursina, dem spätestens im 10./11. Jahrhundert entlehnten Wort für ›Pelz‹. Vermutlich wurde es durch slawische Pelzhändler vermittelt.

„Der“ Kürschner ist allerdings die Kurzform für Kürschners Deutscher Literatur-Kalender. Dieses 1879 von den Autoren und Literaturkritikern Heinrich und Julius Hart begründete Handbuch wurde 1883 von dem Germanisten Joseph Kürschner übernommen und zu einem populären und umfassenden Nachschlagewerk. Es gibt „den Kürschner“ in regelmäßig aktualisierter Form bis heute; er verzeichnet jeweils zeitgenössische Autorinnen und Autoren.

Der große Übersetzer, Kolumnist und Intellektuelle Harry Rowohlt erzählte einmal, er habe in der Kneipe einen Witz erzählt: „Blau und Goldenberg gehen in der Abenddämmerung über ein Stoppelfeld. Da huscht ein kleines Tier von hier nach dort. Fragt Blau Goldenberg: War das eine Maus oder eine Ratte? Sagt Goldenberg zu Blau: Bin ich ein Kürschner?“ Wenig später habe Harry Rowohlt versehentlich die Namen des Schriftstellers Stefan Heym (1913–2001) und des Dichters Georg Heym (1887–1912) verwechselt. „Daraufhin wurde ich [...] mit Hohn überschüttet, konterte aber, und nun kommt der Triumph: Bin ich der Kürschner? Das muss man sich mal vor­stellen: Einmal der pelzverarbeitende Handwerksberuf und gleich darauf das Literaturnachschlagewerk. Auf so einen Triumph kann man lange warten. Hab ich ja auch getan. Nun ist erst mal wieder für längere Zeit Schluß.“

Darüber hinaus ist Kürschner in Vechta – und in der Sprachwissenschaft – ein Begriff: Mein Amtsvorgänger Prof. Dr. Wilfried Kürschner. Er hatte von 1980 bis 2010 den Lehrstuhl für allgemeine Sprachwissenschaft und germa­nis­tische Linguistik an der Universität (damals noch Hochschule) Vechta inne. In der Forschung hat er einen Namen durch Arbeiten vor allem zur Grammatik, zur Orthographie und zur Geschichte der Sprachwissenschaft.

Wilfried Kürschner ist in seinem Fach auch „der Kürschner“: Er ist Herausgeber des 1994 erschienenen zwei­bän­digen Linguisten-Handbuchs. Darin findet man biographische und bibliographische Daten deutschsprachi­ger Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler der Gegenwart; es ist also der „Who is who“ der Lin­guistik.    ⋄    Jochen A. Bär

(302) 29. Oktober – Drachen (29. Oktober)

Herbstzeit ist Drachen-Zeit. Wenn der Wind über die abgemähten Felder bläst, dann lassen Kinder wie Erwachsene dort gern ihre Drachen steigen.

Der Name des – wie das große Dudenwörterbuch formuliert – ›an einer Schnur oder einem dünnen Draht gehaltenen, mit Papier, Stoff o. Ä. bespannten Gestells, das vom Wind nach oben getragen wird und sich in der Luft hält‹, ist abgeleitet von dem althochdeutschen Wort thrahho (›Drache‹). Es kommt über das lateinische draco aus dem griechischen drakon und gehört zu dem griechischen Verb („Zeitwort“) derkesthai (›scharf blicken‹). Der Drache ist also ursprünglich der ›scharf Blickende‹: Das Fabelwesen stellte man sich ursprünglich als geflügeltes Reptil mit lähmendem Blick vor. Man glaubte zudem, dass Drachen Feuer speien können und dass es Exemplare mit mehreren Köpfen gibt.

In China gilt der Drache als Glückssymbol. Das Flugspielzeug ist nach dem Fabeltier benannt. Die ältesten, seit dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in China verwendeten Flugdrachen bestanden aus mehreren Teilen, deren größter von der Form her dem Kopf eines Drachen ähnelt.

Zu der Drache, dessen Genitiv („Wesfall“) des Drachen lautet, gab es in der frühen Neuzeit die landschaftliche Variante der Drachen (Genitiv: des Drachens). In der jüngeren deutschen Sprachgeschichte hat man eine Unterscheidung vorgenommen: Die Form der Drache wird nur für das Fabeltier verwendet („die Flügel des feuerspeienden Drachen schillerten bunt“), die Form der Drachen hingegen für das Spielzeug („die Schnur meines Drachens ist dreimal gerissen“). Es gilt als falsch, die beiden Formen zu verwechseln – obwohl viele das tun.

Drachen hat neben der bereits zitierten Bedeutung ›an einer Schnur oder einem dünnen Draht gehaltenes, mit Papier, Stoff o. Ä. bespanntes Gestell, das vom Wind nach oben getragen wird und sich in der Luft hält‹ noch einige weitere Bedeutungen: Man nennt salopp abwertend eine zänkische Frau so (ein alter/furchtbarer Drachen), ebenso ein von drei Personen zu segelndes Boot mit Kiel für den Rennsegelsport (Kennzeichen: D) sowie ein großes, deltaförmiges Segelfluggerät, das aus einem mit Kunststoffgewebe bespannten Rohrgerüst besteht. Und in der Mathematik ist Drachen die Kurzform von Drachenviereck. Darunter versteht man ein Rhomboid (ein Parallelogramm mit paarweise ungleichen Seiten), bei dem eine Diagonale die andere halbiert. Also die hierzulande klassische Form des selbstgebastelten Drachens.    ⋄    Jochen A. Bär

(303) 30. Oktober – Platitüde (30. Oktober)

Folgt man der neuen deutschen Rechtschreibung – dem seit der Rechtschreibreform von 1996 geltenden, 2006 letztmals aktualisierten Regelwerk –, so muss man unser heutiges Wort mit Doppel-t schreiben: Plattitüde. Die Väter und Mütter der Reform wollten die Schreibung für alle einfacher machen. Bei Platitüde denken Otto und Anna Nor­malmensch an platt, bei plazieren an Platz. Damit sie nicht durch ihre Anfälligkeit für Rechtschreibfehler weiterhin sozial benachteiligt seien, hat man die Regeln geändert.

Nun ist aber – eine Platitüde! – die Gleichbehandlung des Ungleichen nicht schon deshalb gerecht, weil die Ungleichbehandlung des Gleichen ungerecht ist. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, alle Menschen sollen prinzipiell gleiche Chancen haben: das ist demokratisch. Aber das heißt noch lange nicht, dass alle Menschen gleich begabt sind. Es gibt Unterschiede zwischen ihnen, und man wird ihnen am Ende vermutlich weit eher gerecht, wenn man sie in ihrer Individualität wahr- und ernst nimmt.

Das Gleiche gilt für Wörter. Auch wenn sie ähnlich sein mögen und letztlich sogar tatsächlich auf dieselbe Wurzel zurückgehen, haben sie unter Umständen doch jeweils eine ganz unterschiedliche Geschichte. Platz beispiels­weise geht zurück auf das griechische platys hodos (›breiter Weg‹); der Weg führt über lateinisch platea (›breite öffentliche Straße, Platz‹) und das altfranzösische place zum mittelhochdeutschen plaz oder platz. Die gleiche Wurzel hat plazieren; dieses Wort wurde allerdings erst viel später, nämlich im 18. Jahrhundert, aus dem fran­zösischen placer (›an einen bestimmten Platz bringen‹) entlehnt. Daher die abweichende Schreibung. Gleicht man sie an, nivelliert man fünfhundert Jahre Sprachgeschichte.

Platt wurde im 17. Jahrhundert aus dem Niederdeutschen ins Hochdeutsche übernommen. Es geht über das französische plat ebenfalls zurück auf griechisch platys (›flach, eben, breit‹). Platitüde hingegen kommt im 18. Jahrhundert direkt aus dem französischen platitude (›Plattheit im Ausdruck, nichtssagende Redewendung‹).

Als Sprachhistoriker neige ich dazu, geschichtlich gewachsene Unterschiede nicht plattzumachen. Ich schreibe daher weiterhin Platitüde, mit einem t, wie ich das gelernt habe. Aber das kann man selbstverständlich auch anders halten. Man kann der geltenden Rechtschreibung folgen (dann macht man nichts falsch), man kann aber auch, wie Schiller und Goethe, Platitude schreiben (dann ist man noch näher an der französischen Herkunft). Sprachwissen­schaftlich ist jedenfalls gegen etwas Varianz in der Schreibung nicht das Geringste einzuwenden.    ⋄    Jochen A. Bär

(304) 31. Oktober – Habicht (31. Oktober)

Der Habicht ist – erst kürzlich gekürt – der Vogel des Jahres 2015. Der schöne, aufgrund seiner ganz ähnlichen Färbung und Maserung leicht mit dem kleineren Sperber zu verwechselnde Greifvogel, mit wissenschaftlichem Namen Accipiter gentilis, ist sehr scheu und kommt selten aus der Deckung. Der Ornithologe und Verhaltens­forschers Oskar Heinroth (1871–1945) hat ihn so charakterisiert: „Man erkennt ihn daran, dass man ihn nicht sieht.“

Obwohl er, wie alle Greifvögel, für das ökologische Gleichgewicht wichtig ist, hat der Habicht nicht nur Freunde. Da er unter anderem Tauben und auch Hühner erbeutet, ist er insbesondere bei deren Züchtern nicht beliebt. Früher wurde er deshalb erbarmungslos gejagt. Heute hingegen gelten die Bestände hierzulande nicht als akut gefährdet.

Seine Wahl zum Vogel des Jahres hat dem Habicht in jüngster Zeit einige Aufmerksamkeit beschert. Dabei war viel Lehrreiches, aber auch mancher Unsinn in den Zeitungen zu lesen. Beispielsweise stand in der FAZ vom 17. Oktober: „Sein Name soll von der umgedeuteten Lautäußerung ‚Hab’ ich‘ herrühren. Denn der Habicht versteht sich auf das überfallartige Ergreifen von Beutetieren wie wenige andere Vogelarten.“

Mag die Aussage über die Jagdweise des Habichts auch stimmen – die Herkunft des Wortes Habicht ist mit Sicherheit falsch erklärt. Das im Mittelhochdeutschen als habech und im Althochdeutschen als habuch bekannte Wort ist verwandt mit englisch hawk und schwedisch hök (beide Wörter bedeuten allerdings nicht ›Habicht‹, sondern ›Falke‹) und geht wohl zurück auf eine indoeuropäische Wurzel, die auch im lateinischen capere (›nehmen, fangen, ergreifen‹) begegnet. Der Habicht wäre demnach der ›Fänger‹ oder ›Greifer‹.

Habicht kommt in Deutschland auch als Familienname vor. Allerdings nicht sehr oft: Nur etwa 2000 Personen heißen so. Auffällige Häufigkeiten finden sich in Recklinghausen (dort sind die meisten Telefonanschlüsse dieses Namens gemeldet, nämlich 26) und in einigen mittelhessischen Landkreisen. In Vechta und Umgebung ist der Name nicht belegt (was freilich nicht bedeuten soll, dass hier gar niemand lebt, der Habicht heißt, sondern nur, dass in den Telefonbüchern, die der Statistik zugrundegelegt wurden, der Name nicht erscheint).

Nach dem portugiesischen Wort für Habicht ist die Inselgruppe der Azoren benannt: Ilhas dos Açores bedeutet ›Habichtsinseln‹. Die zahlreichen dort lebenden Bussarde wurden von den portugiesischen Eroberer zunächst fälschlich für Habichte gehalten. Die Flagge der Azoren zeigt bis heute einen Habicht unter einem Sternenbo­gen.    ⋄    Jochen A. Bär