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Germanistische Sprachwissenschaft

Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten

Das Jahr der Wörter

(32) 1. Februar – Makulatur

Ein Wort aus der Fachsprache der Buchdrucker ist in die Allgemeinsprache und auch in unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ vorgedrungen: Makulatur. Christine Gröneweg aus Cloppenburg hat das Substantiv vorgeschlagen. Obwohl: Allgemeinsprache ist vielleicht doch etwas übertrieben: Es handelt sich eher um einen bildungssprachlichen Aus­druck. Jemand, der Makulatur redet oder schreibt, äußert Dinge, die keinen bleibenden Wert haben, die schon in dem Augenblick, in dem er sie vorträgt, überholt sind.

Zu Makulatur liest man im großen Duden, dass es vom mittellateinischen maculatura (›beflecktes, schadhaftes Stück‹) kommt. Dieses ist seinerseits zu lateinisch maculare (›fleckig machen, beflecken, besudeln‹) und – so das Etymologische Wörterbuch von Kluge – zu macula ›Loch, Lücke, schadhafte Stelle, Fleck‹ gebildet. Das Substantiv Makel hat denselben Ursprung: Es ist im Unterschied zu dem Fremdwort Makulatur, dem man die lateinische Her­kunft aufgrund der Endung -ulatur noch unmittelbar ansieht, ein so genanntes Lehnwort, das heißt in Aus­spra­che und Schreibung komplett eingedeutscht.

In der Druckerei versteht man unter Makulatur zunächst die in der Presse schadhaft gewordenen oder fehlerhaften Bogen, dann aber auch jede Art von nicht mehr brauchbarem, bedrucktem Altpapier, das man durch Einstampfen zu neuem Papier machen kann. Das Verb makulieren bedeutet eben dies: ›Gedrucktes einstampfen‹ – das Schicksal so manches hoffnungsvollen Schriftstellers, desssen Werke sich so schlecht verkaufen, dass sie das Papier nicht wert sind und der Verlag mithin mehr Geld am Rohstoff verdienen kann als am Absatz der Bücher. „Das kaum ge­borene Wort wandert warm und naß in die Presse“, schreibt Heinrich Heine, „und was ich in diesem Augenblick denke und fühle, kann morgen mittag schon Makulatur sein.“

Manchmal hat ein Autor aber auch Glück. So erzählt der Leipziger Verleger Brockhaus, dass die Werke des Philo­sophen Schopenhauer lange Jahre als unverkäuflich bei ihm auf dem Boden unter dem Dach gelegen hätten, und dass er nahe daran gewesen sei, sie als Makulatur zu gebrauchen, bis plötzlich Schopenhauers Stern aufging und alle ihn lesen wollten. Er gilt heute als einer der bedeutendsten Denker des 19. Jahrhunderts.

Obwohl Schopenhauer so ziemlich alles kritisierte, was ihm in die Feder geriet: Das Verb mäkeln (›etwas bemän­geln, tadeln‹) hat nichts mit Makel und Makulatur zu tun. Es kommt von makeln (›Geschäfte machen‹, platt­deutsch maken) und geht zurück auf Händler, die durch das Feststellen von Mängeln bei der Ware den Preis zu drücken versuchten. Wortähnlichkeit ist eben nicht gleich Wortverwandtschaft.    ⋄    Jochen A. Bär

(33) 2. Februar – Wort

Viele haben sicher längst darauf gewartet: Was wäre das „Jahr der Wörter“ ohne eine Kolumne zum Wort Wort? Ein Allerweltswort, das Wort, gewiss – aber gerade deswegen spannend. Denn niemand macht sich normalerweise darüber Gedanken. Aber man darf durchaus Interessantes erwarten, wenn man doch einmal nachforscht.

Etymologisch, also zur Wortherkunft, gibt es zu berichten, dass das Wort bereits im Althochdeutschen, ja sogar schon im Germanischen vorkommt und dass es auf eine indoeuropäische Wurzel wer- ›sagen, sprechen‹ zurück­geht, die auch Wörtern anderer indoeuropäischer Sprachen zugrunde liegt: z. B. lateinisch verbum (›Wort‹), litauisch vardas (›Name‹) und griechisch eiro (›ich sage‹), rhetor (›Redner‹) und rhema (›Gesagtes, Aussage‹).

Schwierigkeiten bereitet manchmal der Plural (die „Mehrzahl“) von Wort. Es gibt zwei Formen: Wörter und Worte, und beide bedeuten Unterschiedliches. Das Wort Wort hat nämlich (mindestens) zwei Bedeutungen: 1. ›kleinste im Satz selbständige sprachliche Einheit von Lautgestalt und Bedeutung‹; 2. ›etwas, das man als Ausdruck seiner Gedanken oder Gefühle zusammenhängend äußert‹. Der Plural Wörter wird für die erste, der Plural Worte für die zweite Bedeutung verwendet. Wörter sind mehrere einzelne sprachliche Einheiten (so beispielsweise in „das Jahr der Wörter“), Worte sind eine zusammenhängende sprachliche Äußerung, die aus einzelnen Wörtern besteht, aber nicht hinsichtlich ihrer Bestandteile, sondern nur als Ganzes interessiert (beispielsweise: „mit diesen Worten [›mit dieser Aussage, so sprechend‹] verließ sie den Raum“: aus wie vielen Wörtern die Aussage genau besteht, ist dabei ohne Belang). – Eine ähnliche Unterscheidung finden wir übrigens beim Plural von Land und Mann: Länder sind mehrere einzelne, klar abgegrenzte Gebiete, die man gegebenenfalls zählen kann („die Länder Spanien und Portugal liegen auf der iberischen Halbinsel“); Lande sind mehrere, zwar prinzipiell verschiedene, aber als Einheit betrachtete Gegenden („in allen Landen von der Nordsee bis zu den Alpen“). – Männer sind mehrere einzelne Indi­viduen; Mannen sind zusammengehörende, eine Gruppe bildende Personen, die man zwar auch einzeln betrachten kann, deren Individualität und auch Anzahl aber keine Rolle spielt. (Der Plural Mannen ist heutzutage eher veraltet und nur noch im Sinne von ›Gefolgsleute, Mannschaft‹ gebräuchlich; bei Alle Mann an Deck! liegt eine Kurzform vor: das e ist ausgefallen, so dass man – wäre es nicht so umständlich – genau genommen Mann’n schreiben müsste).

Ja, Wörter sind manchmal kompliziert: Mit diesen Worten wollen wir für heute schließen.    ⋄    Jochen A. Bär

(34) 3. Februar – Horde

Wörter aus anderen Sprachen kennt die deutsche Sprache viele. Sie unterscheidet sich darin nicht von anderen Sprachen: keine einzige gibt es, deren Wortschatz keine Fremdwörter aufwiese. Das war schon immer so, denn immer schon standen Menschen unterschiedlicher Herkunft miteinander in Kontakt, immer schon war es der Normalfall, dass Menschen mehr als eine Sprache konnten (wie gut oder bruchstückhaft auch immer), und da kann es gar nicht ausbleiben, dass Wörter übernommen werden.

In vielen Fällen erkennt man überhaupt nicht, dass es sich um Fremdwörter handelt. Wer käme auf den Einfall, dass so bekannte Alltagsausdrücke wie Fenster, nüchtern, Sack, Tisch, Wein oder Ziegel aus dem Lateinischen, Bischof, Engel, Kirche oder Zoll (›Abgabe, Maut‹) aus dem Griechischen und Admiral, Arsenal, Borretsch (›Gurkenkraut‹), Havarie oder Matratze aus dem Arabischen stammen?

Vergleichsweise selten finden wir hierzulande Wörter aus dem Mongolischen – doch auch sie gibt es. Unser „urdeutsch“ klingendes und aussehendes Wort Horde gehört dazu. Unter einer Horde versteht man nach Auskunft des zehnbändigen Dudenwörterbuchs eine „(in bestimmter Absicht umherziehende) ungeordnete (wilde) Menge, Schar, deren man sich (in gewisser Weise) zu erwehren hat“; das Wort, so heißt es im Duden weiter, wird „häufig abwertend“ verwendet. Man kennt unter anderem Horden von Jugendlichen, Fotoreportern oder Ausflüglern; im Dreißigjährigen Krieg zogen Horden plündernder Landsknechte durch das Land.

In der Ethnologie versteht man unter einer Horde zudem eine ohne feste soziale Ordnung lebende Gruppe verwandter Familien mit gemeinsamem Lagerplatz; und hier kommt man dem Ursprung des Wortes näher. Es lässt sich (über mehrere Vermittlersprachen, vermutlich zunächst das Türkische, dann das Polnische) zurückführen auf mongolisch ordu, was ›Lager, Heerlager, Volksstamm‹ bedeutet, und ist wohl zur Zeit der Türkenkriege, also in der frühen Neuzeit, ins Deutsche gelangt.

Keinerlei Zusammenhang besteht zu dem ähnlich geschriebenen und klingenden Verb horten, das ebenso wie englisch to hoard (›anhäufen, sammeln, hamstern‹) auf eine indoeuropäische Wurzel (s)keu (›bedecken, umhüllen‹) zurückgeht. (Dieselbe Wurzel liegt übrigens auch den deutschen Substantiven Scheune, Haus und Hose zugrunde.) Der Hort (›Schatz, Gold‹, in neuerer Zeit auch ›Einrichtung zur ganztägigen Betreuung schulpflichtiger Kinder‹) ist also ursprünglich das Umschlossene, Verborgene, sicher Aufbewahrte – nicht etwa die große Menge von etwas, wie man bei fälschlicher Assoziation von Horde vielleicht annehmen könnte.    ⋄    Jochen A. Bär

(35) 4. Februar – Contenance

Der Deutsch-Leistungskurs des Gymnasiums Antonianum in Vechta hat eine ganze Liste von Wörtern eingesandt. Unter anderem: Contenance. Folgende Erklärung liefern die Abiturientinnen und Abiturienten: „Bewahre die Contenance, auch wenn du bis Mitternacht gelernt, bis drei Party gemacht oder bis fünf mit deinen Freunden gechattet hast! Der Ausdruck bedeutet so viel wie Haltung in einer schwierigen Lage bewahren und mit Eleganz sicher aufzutreten. Außerdem erinnert man seine Freunde immer gerne daran, dass Haltung das Wichtigste ist und dass man wenigstens so tun muss, als wäre man ausgeschlafen.“

In der Tat: Contenance (zu Deutsch ›Fassung, Haltung‹) zu bewahren ist eine wichtige Fähigkeit in allen Lebenslagen. Für den Professor unter anderem dann, wenn ihn eine Kollegin aus Übersee mit freundlichem Nachdruck daran erinnert, dass der Abgabetermin für den Sammelband-Beitrag schon letzten Monat gewesen wäre (er aber den Beitrag mit Abgabetermin vom vorletzten Monat auch noch nicht fertig hat), wenn aus Hannover wieder mal eine neue bildungspolitische Initiative kommt oder wenn die Studierenden in der Acht-Uhr-Vorlesung nicht mal so tun, als wären sie ausgeschlafen.

Contenance ist ein Wort aus dem Französischen, das seinerseits auf das Lateinische continentia (›Ansichhalten, Selbstbeherrschung, Mäßigung‹) zurückgeht: eine Ableitung von dem Verb continere (›zusammenhalten, sich zusammennehmen‹). Wie viele andere französische Wörter, die das 17. und 18. Jahrhundert noch als Beitrag zum fortschreitenden Sprachverfall („Fremdwörterei“) gegeißelt hat, gilt Contenance heute als gehoben und bildungssprachlich. Französisch war damals die Modesprache. Entsprechend dürfen wir wohl davon ausgehen, dass man in dreihundert Jahren etliche der englischen Ausdrücke, die von vielen heute als störend empfunden werden, als wertvoll ansehen wird. Denn dann werden wir voraussichtlich aus irgendeiner anderen Sprache – Contenance: niemand weiß heute schon, welche das sein wird – die meisten unserer Fremdwörter beziehen.

Der Deutsch-LK des Vechtaer Antonianums ist übrigens einer der Preisträger des Wettbewerbs zum „Jahr der Wörter“: Der Kurs hat eine Bären-Deutschstunde gewonnen und kommt morgen zu Besuch an die Universität Vechta. Die richtige Einstellung zum Studium (s. o.) bringen die Schülerinnen und Schüler schon mit.    ⋄    Jochen A. Bär

(36) 5. Februar – Ekel

Ekel ist keine schöne Sache – aber Ekel ist ein interessantes Wort. Genau genommen sind es deren zwei: der Ekel (›Widerwille, Abscheu‹) und das Ekel (›widerwärtiger, unsympathischer Mensch‹). Woher es kommt, weiß man nicht, es gibt nur Vermutungen. Möglicherweise lässt es sich in Verbindung bringen mit Wörtern wie gotisch aiwiski, altenglisch äwisc und griechisch aischos, die alle ›Schande‹ bedeuten; vielleicht auch mit lateinisch aeger (›krank, verstimmt‹). Das Grimm’sche Wörterbuch zieht auch einen Zusammenhang mit dem mittelhochdeutschen erklich (›zuwider‹) oder mit heikel (›wählerisch‹) in Erwägung. Zu letzterem würde passen, dass das Adjektiv ekel früher nicht nur dasselbe bedeuten konnte wie ek(e)lig und ekelhaft (›Ekel, Abscheu erregend‹), sondern eben auch ›wählerisch, eigen, eigensinnig‹: Wenn jemand ekel ist, bedeutet dies, dass er nicht alles isst. Über den französischen Schriftsteller Alexis Piron (1689–1773) sagt Goethe, „daß er das ekle Publicum durch keines seiner [...] Stücke befriedigen konnte“.

Das Substantiv Ekel steht nicht nur für Übelkeit erregende Abscheu (so beispielsweise in dem gleichnamigen Thriller – im englischen Original: Repulsion – von Roman Polanski aus dem Jahr 1965), sondern kann auch so viel wie ›Überdruss‹ bedeuten: Ekel vor sich selbst oder dem Leben.

Eindeutig keine Verwandtschaft gibt es zwischen Ekel und dem heute praktisch ausgestorbenen Substantiv Ekelname (›Übername, Spitzname‹), das aus dem Niederdeutschen (Ökelname) stammt. Man kann es auf das altnordische – das ‚ur-skandinavische‘ – aukanafn (›Übername‹) zurückführen, in dem auka (›vermehren‹) steckt. Ins Englische wurde das Wort ebenfalls entlehnt – dort heißt es nickname. Das n am Wortanfang erklärt sich aus einer Verschiebung der Wortgrenze, nämlich einer falschen Ablösung des unbestimmten Artikels: an ekename wurde in Zeiten, in denen man Sprache fast nur über das Ohr wahrnahm, zu a nickname.

Man nennt solche Versuche, unverständliche Wörter an bekannte anzuschließen, Volksetymologie; auch Maulwurf und Rosenmontag sind Beispiele dafür: Der Maulwurf wirft nichts mit dem Maul, sondern in dem Wort steckt das niederdeutsche Mul(le) (›Erde, Staub‹), und der Rosenmontag hat nichts mit Rosen zu tun, sondern mit dem Verb rasen (›wild, toll sein‹). Apropos toll: auch Tollpatsch ist keine Zusammensetzung aus toll und patschen; aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.    ⋄    Jochen A. Bär

(37) 6. Februar – Mausoleum

Wenn man ein neues Wort kennenlernt, prüft man automatisch, ob es sich an bereits bekannte Wörter anschließen lässt. Oft kommen dabei lustige Missverständnisse zustande – so beispielsweise, wenn Kinder das Wort Musketier (in dem die Muskete, der Name einer altertümlichen Feuerwaffe steckt), als Muskeltier interpretieren. Dass dies keinen einleuchtenden Sinn ergibt, spielt dabei keine Rolle: Wörter sind unerklärlich und man weiß nicht, warum irgendein beliebiges Ding so und nicht anders heißt – das ist der Normalfall. Der Journalist Axel Hacke hat solche Missverständnisse in mehreren Büchern gesammelt. Besonders schön ist die Geschichte von dem Kind, das aus der Schule kommt und sagt: „Mami, morgen müssen wir uns ganz fein anziehen – da kommt nämlich der Erdbeerschorsch und filmt uns.“ Die irritierte Nachfrage der Mutter bei der Lehrerin ergab dann, dass diese den Kindern gesagt hatte: „Morgen kommt der Erzbischof und firmt euch.“

Ein ähnliches Missverständnis ruft immer wieder auch das Wort Mausoleum hervor, vorgeschlagen von Christine Gröneweg (Cloppenburg). Bekanntlich ist es die Bezeichnung für ein monumentales Grabmal in Form eines Bauwerks. Fragt man Kinder, warum wohl ein solches Ding Mausoleum heißt, so erhält man oft die Antwort, dass es mit dem Wort Maus zusammenhänge: Es komme daher, dass in einer Grabstätte die Mäuse an den alten Knochen nagen.

Kaum nötig zu sagen, dass zwar der Sachverhalt zutreffend sein mag, die Herleitung aber trotzdem falsch ist. In Mausoleum steckt der Name Mausolos (auch Maussolos, Maussollos oder Mausollos geschrieben). Sein Träger war Statthalter der persischen Provinz Karien. Das Bauwerk wurde von seiner Frau in Auftrag gegeben und 368 bis 350 v. Chr. in Halikarnassos (heute Bodrum in der Türkei) errichtet. In der Antike wurde es zu den sieben Weltwundern gezählt, zu denen auch die Pyramiden von Gizeh in Ägypten, die hängenden Gärten der Semiramis zu Babylon, der Koloss von Rhodos (eine Monumentalstatue des Sonnengottes Helios), der Tempel der Artemis in Ephesos, der Leuchtturm auf der Insel Pharos vor Alexandria und die Zeusstatue des Phidias in Olympia gehörten. Von ihnen sind heute nur noch die Pyramiden erhalten. Das Mausolos-Grab wurde im Mittelalter von einem Erdbeben beschädigt und in der frühen Neuzeit von den Rittern des Johanniterordens abgebrochen, die Baumaterial für Befestigungsanlagen benötigten.

In der konkreten Bedeutung ›Grab des Mausolos‹ ist Mausoleum im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert bekannt; in der verallgemeinerten Bedeutung ›prunkvolles Grabmal‹ verwendet man es seit dem 18. Jahrhundert.    ⋄    Jochen A. Bär

(38) 7. Februar – Stichtag

„Meine derzeitigen Lieblingswörter sind unter anderem Stichtag und Deadline“, schrieb uns Ariane Bremer von der Uni­ver­sität Vechta Anfang Oktober 2013. Erwägt man, dass dies nicht nur kurz vor Beginn der Vorlesungen im Winter­se­mester war, sondern dass auch noch der Jahresabschluss näher rückte – für die Verwaltung und alle, die mit ihr zu tun haben, bedeutet dies stets Hoch­be­trieb –, so wird man sich um Lieblingswörter getrost Gänsefüßchen denken dürfen.

Stichtag und Deadline sind Synonyme, d. h. Wörter mit gleicher Bedeutung. Dem großen Duden zufolge ist ein Stich­tag ein „bestimmter Tag als (amtlich) festgesetzter Termin, der für (behördliche) Maßnahmen, besonders Berechnungen, Er­hebungen o. Ä., maßgeblich ist“. Stichtag unter Vertragspartnern war früher oft der letzte Tag eines Monats: „Zahlbar bis Ultimo“, hieß es dann. Ultimo kommt vom lateinischen ultimus (›letzter‹). Noch heute kann man in bestimmten Si­tuationen – z. B. wenn Kinder ihren Eltern auf die Nerven gehen – dieses Wort hören: Jetzt ist aber gleich Ultimo! (›Jetzt ist gleich Schluss, jetzt reicht’s gleich!‹). Deadline bedeutet wörtlich ›Todeslinie‹ und kann unter anderem für die Sperrlinie an einer bewachten Grenze stehen, die zu überschreiten todbringend sein kann. In der Bedeutung ›Stichtag‹ muss man sich vorstellen, dass bis zu einer bestimmten Frist eine Angelegenheit erledigt sein muss: Danach geht es nicht mehr, dann ist die Sache ‚tot‘.

Der Stichtag seinerseits – ein altes Wort: schon 1373 hieß es in einer lübischen Urkunde, „dat dar eyn stekedach bynomet waart“ – leitet sich ab von stechen in seiner alten Bedeutung ›auf etwas oder jemanden zielen‹. Die Turniere des Mittelalters und der frühen Neuzeit, als man mit Lanzen aufeinander zu galoppierte, um sich gegenseitig vom Pferd zu werfen, nannte man Stechen oder auch Stich; in den Massenstechen, in denen nicht einzelne Kämpfer, sondern ganze Gruppen gegeneinander antraten, konnte es geschehen, dass man einen Mitstreiter im Stich lassen musste. Verwandt sind unter anderem stecken (›mit Nadeln befestigen‹), sticken, Stachel, Distel (wörtlich ›die Stechende‹), Etikett (wörtlich: ›das An- oder Aufgesteckte‹), Ticket (›Anstecker, Anhänger‹, dann ›Berechtigungsschein‹), niederdeutsch Stake (›Pfahl‹, ebenso im Englischen) und das davon abgeleitete staksen, staksig, griechisch stigma (›Einstich, Wundmal‹), stochos (›Ziel‹), stochasma (›Wurfspieß‹, wörtlich ›das, womit man auf etwas zielt‹) sowie Stochastik (›Zufallsrechnung‹, eigentlich ›Ziel-, Ratekunst‹).

Man könnte ohne weiteres noch sehr viel mehr schreiben – aber die Kolumne muss zur OV-Redaktion: Stichtag.    ⋄    Jochen A. Bär

(39) 8. Februar – fürbass

Ein sonderbares Wort: fürbass. Die Schreibung zeigt schon: Es ist ein einziges Wort, und es ist kein Substantiv. Die Wenigsten kennen es heutzutage noch und wissen, dass es nicht für den Bass, also die tiefste männliche Stimme oder auch das größte Streichinstrument steht. Immerhin: Das große Dudenwörterbuch kennt es und erklärt es kurz und bündig als Adverb mit der Bedeutung ›weiter, vorwärts‹.

Man kann dabei eine räumliche und eine zeitliche Bedeutungsvariante unterscheiden. Räumlich bedeutet fürbass ›voran, vorwärts‹: „Vergnügt schlug ihm das Herz, wie er einsam fürbaß zog“, heißt es bei Joseph Viktor von Scheffel. Im zeitlichen Sinne steht das Wort für Kommendes: „Yederman würt mich fürbaß ehren“ („Jedermann wird mir in Zukunft Ehre erweisen“) schreibt 1512 Sebastian Brant. Es kann aber auch stärker die Fortsetzung von etwas bereits Vor­han­denem betonen, so wie im 1509 anonym erschienenen Fortunatus-Roman: „Darbey ließ es auch Fortunatus be­leiben vnd fraget nit fürbaß“ – Fortunatus stellte weiter keine Fragen.

Heutzutage ist fürbass, wie gesagt, veraltet; man kann es allenfalls noch scherzhaft verwenden. Rüstig schreiten wir fürbass – das klingt dann doch einigermaßen gestelzt.

Wie aber erklärt sich das sonderbare Wort? Wieder einmal muss man tief in die Geschichte der deutschen Sprache zurückgehen, um die Zusammenhänge zu sehen. Für hieß in mittelhochdeutscher Zeit so viel wie ›vor‹ oder auch ›vor­an‹: „Ich ging im Walde so für mich hin“, dichtete Goethe noch 1813. Bei bass handelt es sich um die alte Grundform desjenigen Adjektivs, das wir – abgesehen von der Redewendung bass erstaunt – nur noch in den Steigerungsformen besser und am besten kennen. Es bedeutete so viel wie ›tüchtig‹ oder ›sehr‹ (Ludwig Bechstein: „Da saßen eines Abends die Wild- und Rheingrafen [...] im Saale beisammen und zechten baß“). Da bass nicht mehr gebräuchlich ist, interpretiert man besser und am besten heute als Formen von gut und spricht dann von „unregelmäßiger“ Steigerung.

Fürbass bedeutete also ursprünglich so viel wie ›sehr, mehr, weiter vor(wärts)‹. Ganz anders erklärt sich demgegenüber das Substantiv Bass, das aus dem Lateinischen kommt; bassus hieß im Vulgärlateinischen so viel wie ›dick‹ oder ›gedrungen‹.

Wozu man heutzutage noch einen so altertümlichen Ausdruck wie fürbass kennen sollte? Ganz einfach: Er erweitert die Ausdrucksmöglichkeiten. Morgen kommt unsere vierzigste Kolumne – wie langweilig! Nein: Rüstig schreitet das „Jahr der Wörter“ fürbass!    ⋄    Jochen A. Bär

(40) 9. Februar – Text

ist eines der nicht sonderlich zahlreichen deutschen Wörter, die den Buchstaben x aufweisen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen (so etwa Hexe) handelt es sich bei ihnen zumeist um Fremdwörter. So auch bei Text, das aus dem Lateinischen kommt. Ihm liegt, ebenso wie den Textilien, das Verb texere zugrunde (›flechten, weben, kunstvoll zusammenfügen‹): Der Text ist, bildlich verstanden, das Gewebe oder Geflecht aus Wörtern.

Anders als mit Wörtern oder auch mit Sätzen beschäftigt sich die Sprachwissenschaft mit Texten noch nicht sonderlich lange; die Textlinguistik als Teildisziplin des Faches ist nicht einmal 40 Jahre alt. Dennoch hat man in dieser Zeit Erstaunliches geleistet: Mehrere hundert (!) verschiedene Text-Definitionen sind auf dem Markt. Eine einigermaßen verbreitete lautet sinngemäß: Texte sind in sich geschlossene (als sprachliche Handlungen vollständige) sprachliche Äußerungen, die aus mehreren miteinander sinnhaft verknüpften Wörtern gebildet sind. Sie bestehen üblicherweise aus mehreren Sätzen, müssen aber nicht notwendig auch nur aus einem einzigen grammatisch vollständigen Satz bestehen. Liest man auf einem Schild „Betreten verboten“, dann ist das im vollen Sinne des Wortes ein Text.

Nicht zum ersten Mal stoßen wir in dieser Kolumne auf das Phänomen der Homonymie: Zwei verschiedene Wörter sind lautlich und/oder in der Schreibung gleich. Dies ist auch bei Text der Fall. Nicht nur eine Abfolge von Wörtern kann damit gemeint sein, sondern auch – in der Fachsprache des Druckwesens – ein Schriftgrad von 20 Punkt. In dieser Bedeutung ist es übrigens nicht der Text, sondern die Text: Es handelt sich wohl um eine Kurzform von Textschrift (›Schriftart für besondere Texte‹).

Text als Maskulinum kommt in einer ganzen Reihe von Zusammensetzungen (Textbuch, Textinterpretation, Textmarker, Textverarbeitung ...) und auch in einigen Ableitungen wie textuell, Texter(in) oder texten vor. Letzteres bedeutet ›Werbe- oder Schlagertexte verfassen‹; im Englischen hat to text auch die Bedeutung ›eine SMS schreiben‹. Und wenn jemand mündlich viel Text produziert, das heißt ständig und eindringlich zu jemandem spricht, auf ihn einredet, so nennt man dies salopp: jemanden volltexten oder zutexten. Um diesen Effekt hier zu möglichst zu vermeiden, ist jetzt Schluss mit Text. Bis demnächst!    ⋄    Jochen A. Bär

(41) 10. Februar – schnöselig

Das Wort des Tages, schnöselig, „ein Wort aus meiner Kindheit, das jetzt weniger benutzt wird, das man vor allem schwer einem Ausländer erklären kann“, hat Dr. Sigrid Heising vorgeschlagen.

Es folgt einem ganz geläufigen Muster in der Wortbildung des Deutschen: Es ist durch Anfügen des Suffixes (= der „Endsilbe“) -ig aus dem Substantiv Schnösel entstanden. Ein solches Adjektiv gibt, generell gesprochen, eine hervorstechende Eigenschaft der in dem Substantiv genannten Größe an. Solche Ableitungen oder Derivationen, wie man sie in der Grammatik nennt, sind Legion, aber gelegentlich nur mit Vorsicht zu genießen: Das Adjektiv lustig beispielsweise hängt nur scheinbar mit dem Substantiv Lust zusammen – jemand, der Lust hat, ist nicht unbedingt auch lustig, und nicht jeder, der lustig ist, hat auch Lust. Solche scheindurchsichtigen Bildungen stellen, wie man sich leicht vorstellen kann, für Menschen, die noch nicht so firm im Deutschen sind, ein Lern- und Verständnisproblem dar.

Bei schnöselig liegt der Zusammenhang aber auf der Hand. Er kommt auch in der Wörterbuchdefinition zum Ausdruck: ›wie ein Schnösel sich benehmend‹ („umgangssprachlich abwertend“). Wer nun aber nicht weiß, was ein Schnösel ist – so mag es dem Ausländer ergehen, der im Eingangszitat erwähnt wurde –, muss weiter nachfragen oder -schlagen und erfährt im Duden-Universalwörterbuch, dass damit (ebenfalls „ugs. abwertend“) ein ›junger Mann, dessen Benehmen als frech, ungezogen, überheblich empfunden wird‹, gemeint ist. Damit ist die Bedeutungs- und Stilfrage eigentlich geklärt, manche Leute, etwa die Leser dieser Kolumne, wollen aber hinter die sprachlichen Kulissen blicken und etwas über die Herkunft und Geschichte der Wörter erfahren. Im Duden-Universalwörterbuch ist nun zu Schnösel zu lesen, dass das Wort aus dem Niederdeutschen ins Hoch- oder Standarddeutsche gelangt ist und dass es „wohl verwandt mit nieder­deutsch snot = Nasenschleim, Schnodder“ ist – Betonung auf „wohl“, das heißt, die Etymologie ist nicht gesichert. Wer aber bei Nasenschleim die derbere Variante Rotz hinzudenkt, assoziiert mit dem Schnösel alsbald den Rotzbengel, den Rotzbub, die Rotznase, die sich alle rotzfrech benehmen, und ist geneigt, die Herleitung zu akzeptieren (die Ableitung schnoddrig von Schnodder ist übrigens nochmals etwas anderes, nämlich ›provozierend lässig, großsprecherisch, den angebrachten Respekt vermissen lassend‹).

In Zeiten der (Sprach-)Politischen Korrektheit verwundert es nicht, dass neben den maskulinen männlichen Schnösel die feminine weibliche Schnöselin gestellt wird, etwa im Rechtschreibduden. Er wendet sich damit gegen seinen Uni­ver­sal-Bruder, der als Schnösel ja nur junge Männer kennt. Vollkommen durchgesetzt ist die Gleichstellung aber doch nicht: Was Adjektive angeht, bleibt es bei schnöselig, ein Eintrag schnöselinnig ist nicht vorgesehen.    ⋄    Wilfried Kürschner

(42) 11. Februar – obszön

Es gibt einen Unterschied zwischen Wörtern und Sachen, das heißt den Gegenständen, für die Wörter stehen. Was ist länger, Kuh oder Regenwurm? – Regenwurm natürlich: Das Wort besteht aus drei Silben und neun Buchstaben; Kuh hat nur eine Silbe bzw. drei Buchstaben. (Als realer Gegenstand ist eine Kuh freilich länger als ein Regenwurm.)

Die Unterscheidung zwischen Wort und Sache ist für die Sprachwissenschaft sehr wichtig. Nicht zuletzt dann, wenn es um so genannte unanständige Wörter geht. Sie stehen für unschöne, unerfreuliche, unter Umständen auch moralisch verwerfliche Gegenstände oder Sachverhalte, können aber als Wörter trotzdem interessant sein. Aus genau diesem Grund stehen Schimpfwörter und unflätige Ausdrücke auch in Wörterbüchern (jedenfalls in den besseren). Seinem lexikographi­schen Vorgänger Adelung kreidet Jacob Grimm an, er verleugne den „Beruf eines Sprachforschers“ mit der Aussage „Diese Wörter sind so niedrig, daß sie kaum angeführt zu werden verdienen“. „Die Natur“, so Grimm, „hat dem Menschen geboten das Geschäft der Zeugung so wie der Entleerung vor andern zu bergen und die es verrichtenden Theile zu hüllen; was diese innere Zucht und Scheu verletzt, heißt unzüchtig (obscoenum [...]). Was man aber vor den Augen der Menge meidet, wird man auch ihrem Ohr ersparen und nicht aussprechen.“

Dem „Ohr der Menge“ erspart Grimm dann allerdings nicht die Wörter selbst, sondern nur ihre Er­läuterung: Unanständige Wörter erklärt das Deutsche Wörterbuch auf Latein. Unter Hosenseufzer beispielsweise steht nur denkbar knapp die Er­klärung: „crepitus ventris“: Wer gebildet genug ist, dies zu verstehen, so das Kalkül, dem kann man auch die Kenntnis eines unfeinen Wortes zumuten – er wird es trotzdem vermeiden.

Das Wort obszön, vorgeschlagen von Oliver Middelbeck, kommt vom lateinischen caenum (›Schmutz, Unflat‹); es cha­rakterisiert zunächst alles, was unangenehme Sinneswahrnehmungen hervorruft (beispielsweise üblen Geruch), dann auch alles, was das Schamgefühl verletzt: ein obszöner Witz, ein obszönes Foto, ein obszöner Roman. Im engeren Sinne von obszön geht es um den Sexual- und/oder den Fäkalbereich; in einem weiteren Sinne kann man es aber auch – ebenso wie die deutsche Entsprechung unanständig – in Zusammenhängen verwenden, in denen man aus anderen Gründen An­stoß nehmen kann: „Der Laden hat obszöne Preise.“

Im Grimm’schen Wörterbuch ist obszön übrigens nicht verzeichnet. Allerdings nicht, weil es für etwas Unanständiges steht, sondern weil es als Wort Anstoß erregte: Fremdwörter fand man seinerzeit obszön ...    ⋄    Jochen A. Bär

(43) 12. Februar – apart

Ein apartes Wort: apart. Es bedeutet ›besonders‹ und stammt aus dem Französischen: à part bedeutet dort eben dies: ›besonders‹, auch ›beiseite‹, ›eigentümlich‹ und ›reizvoll‹ – Bedeutungen, die das Wort im Deutschen ebenfalls hat oder zumindest früher einmal hatte.

Das Französische à part kommt vom Lateinischen pars (›Teil‹); dass dieses Wort ebenfalls ein t beinhaltet, erkennt man an den so genannten obliquen Kasus, also in allen Formen außer dem Nominativ Singular: Im Genitiv Singular lautet es beispielsweise partis, im Nominativ Plural partes. Auch die davon abgeleiteten Wörter partiell (›teilweise‹) und Partei haben das t in der Mitte.

Die Bedeutung von apart erklärt sich so, dass man aus der großen Menge des Üblichen einzelne, außergewöhnliche Erscheinungen aussondert und ›beiseite‹ legt: Sie sind etwas Besonderes. In der Fachsprache des Buchhandels wird apart in dieser wörtlichen Bedeutung immer noch gebraucht: Fehlende Einzelbände werden apart (›gesondert, einzeln‹) nachgeliefert.

Mit apart unmittelbar verwandt ist, wie sich leicht denken lässt, das Appartement (französisch auszusprechen) bzw. das Apartment (englisch auszusprechen): Beide Wörter stehen für eine abgeteilte, abgeschlossene Wohnung in einem größeren Haus.

Den Bedeutungsaspekt des Abgeschlossenen bzw. des Ausschließenden kann auch das Adjektiv apart selbst ha­ben: es meint dann ›exklusiv‹ und steht für denjenigen ›Teil‹, den jemand ausschließlich für sich hat oder beansprucht. So be­klagt sich in Goethes Faust Mephisto, „der Geist, der stets verneint“, darüber, dass es überall Leben gibt: „Der Luft, dem Wasser, wie der Erden / Entwinden tausend Keime sich, / Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten! / Hätt’ ich mir nicht die Flamme vorbehalten, / Ich hätte nichts Aparts für mich.“

In der Regel werden vor allem außergewöhnlich gute, schöne, erfreuliche Dinge als ›besonders‹ angesehen. So be­deutet apart heutzutage insbesondere ›von eigenartigem Reiz, besonders reizvoll, geschmackvoll‹: ein apartes Kleid, eine aparte Erscheinung. Die positiven Begleitvorstellungen sind allerdings nicht zwangsläufig. Dass ›Besonderheit‹, wenn sie den Anspruch auf Sonderrechte begründen soll (insbesondere dann, wenn sie mit sozialer Ausgrenzung und Unterdrückung einhergeht), auch den Aspekt des Menschenverachtenden haben kann, zeigt das Afrikaans-Wort für die Politik der Rassentrennung, die bis 1994 in Südafrika herrschte: Apartheid.    ⋄    Jochen A. Bär

(44) 13. Februar – wuseln

Bei Waldspaziergängen trifft man bisweilen auf größere oder kleinere Reisighaufen, erfüllt von einer lebhaften, sich eilig bewegenden Menge. Dem Anschein nach chaotisch kribbelt es hierhin und krabbelt dorthin, bewegt sich kreuz und quer durcheinander. Ein einziges Gewimmel und Gewusel, solch ein Ameisenhaufen.

Gewusel ist das Substantiv zu wuseln, das Wort, um das es heute geht. OV-Leser Reinhard Sundermann aus Bakum hat es vorgeschlagen. Wenn man im großen Dudenwörterbuch nachschlägt, findet man: Wuseln bedeutet erstens ›sich schnell, unruhig und flink hin und her bewegen‹ und zweitens ›sich wuselnd (in rascher Hin- und Herbewegung) betätigen‹.

In seiner ersten Bedeutungsvariante ist wuseln ein sogenanntes Verb der Bewegung. Zu dieser Klasse von Verben gehören etwa auch: fahren, fallen, fliegen, gehen, kommen, laufen, rennen. Sie alle haben eine grammatische Besonderheit: Zusammengesetzte Zeitformen wie das Perfekt können bei diesen Verben manchmal sowohl mit dem Hilfsverb haben (die meisten Verben bilden das Perfekt mit haben) als auch mit dem Hilfsverb sein gebildet werden, also z. B. ich habe geschwommen/ich bin geschwommen, sie hat gejoggt/sie ist gejoggt. Wenn dem Verb allerdings eine Richtungs- oder Ortsangabe beigefügt wird, dann ist nur noch die Perfektbildung mit sein möglich: Die Ameisen sind hin und her gewuselt (nicht: Die Ameisen haben hin und her gewuselt). Bei „transitiven“ Verben der Bewegung – das sind solche, die mit einem Akkusativobjekt stehen und die man eigentlich besser als Verben der Beförderung bezeichnen sollte (jemanden/etwas fahren, jemanden fliegen) – wird jedoch immer das Hilfsverb haben verwendet.

In seiner zweiten Bedeutungsvariante (›sich wuselnd betätigen‹) meint wuseln nicht eine Art der Fortbewegung, sondern vielmehr die Ausübung einer Tätigkeit bzw. Arbeit. Hier kann demnach nicht mehr eindeutig von einem Bewegungsverb gesprochen werden, weswegen es plausibel erscheint, das Perfekt – wie es der „Normalfall“ ist – mit haben zu bilden. Er hat im Keller gewuselt; sie hat im Garten gewuselt.

Ob in Bezug auf einen wuseligen Ameisenhaufen, der als streng organisierte Einheit gilt, und ob in Bezug auf die Bewegung bzw. rege Tätigkeit von Ameisen – sie gelten als emsige, fleißige, sich gänzlich systematisch verhaltende Tiere (zumindest die Arbeiter unter ihnen) –, von wuseln in der ersten oder in der zweiten Bedeutungsvariante gesprochen werden muss, ist eine Frage, die an dieser Stelle offen bleibt.    ⋄    David Römer

(45) 14. Februar – exzellent

Was ist heutzutage nicht alles exzellent! Man kann exzellent in Form sein, exzellent spielen (Fußball, Basketball, eine Rolle, ein Musikstück ...) oder schreiben; ein Vortrag, eine Ausbildung, ein Essen kann exzellent sein. Wörtlich bedeutet exzellent ›herausragend‹: Es kommt vom lateinischen excellere (›empor-, hervorragen, sich erheben‹). Auch das zugehörige Adjektiv excelsus (›empor-, hervorragend, hoch, erhaben, ausgezeichnet‹) ist hierzulande nicht unbekannt. Gloria in ex­celsis deo (›Ehre sei Gott in der Höhe‹), singen die Engel im Lukasevangelium, und der Hotelname Excelsior geht zurück auf die Steigerungsform eben dieses Adjektivs: Es heißt ›das Hervorragendere‹.

Die Substantivierung Exzellenz dient seit langem als Anrede für herausragende Persönlichkeiten. Der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin haben laut Protokoll das Recht auf die Anrede Exzellenz (im Adressfeld eines Briefes wäre korrekt: „Ihrer Exzellenz Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland“), ebenso Botschafter und auch Bischöfe (wohingegen man Kardinäle mit Eminenz anspricht). Freilich: Im Alltag tut es auch Herr Bundespräsident, Frau Bundeskanzlerin, Frau Botschafterin oder Herr Bischof.

Im Polit-und-Marketing-Neusprech bedeutet Exzellenz heutzutage aber noch etwas anderes – nämlich eine Kategorie. Speziell die Hochschulpolitik redet gern von Exzellenz. 2005 lief erstmals die so genannte Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder an: ein milliardenschweres Investitionsprogramm für deutsche Universitäten. Elf Universitäten werden als „Eliteuniversitäten“ besonders gefördert. Vechta gehört nicht dazu und wird auch niemals dazu gehören. Nicht etwa, weil hier keine exzellente Arbeit geleistet würde (die gibt es durchaus). Sondern einfach, weil die Universität zu klein ist. Um sich mit Aussicht auf Erfolg als Eliteuniversität zu bewerben, bräuchte man materielle und personelle Infrastrukturen (fächerübergreifende, groß angelegte Kooperationsprojekte) einer ganz anderen Dimension. Da zuvor schon das Lukas­evangelium zitiert wurde, sei hier getrost auch noch an das Matthäus-Prinzip erinnert: „Wer sowieso schon hat, dem wird noch mehr gegeben“ (Matth. 13, 12).

Immer wieder einmal in Erinnerung rufen darf man aber auch dies: Spitzenleistungen in Forschung und Lehre sind keine Frage der vielen Menschen und der finanziellen Mittel, sondern in erster Linie eine Frage des Engagements und der Krea­tivität. Das lässt sich zwar nicht in Zahlen ausdrücken, aber es ist trotzdem das, was zählt – findet auch mein Vechtaer Kollege Professor Wolfgang Mechsner, der das Wort exzellent vorgeschlagen hat.    ⋄    Jochen A. Bär

(46) 15. Februar – ungestüm

Die deutsche Sprache hat ihre Untiefen. Unter anderem kennt sie eine ganze Reihe von Wörtern, die mit dem Präfix (der „Vorsilbe“) un- gebildet sind. Wenn man un- weglässt, kommt man jeweils auf das Grundwort, das in der Regel das genaue Gegenteil bedeutet: ungesundgesund, unklugklug, unschönschön und so weiter. Aber worauf kommt man, wenn man bei ungestüm oder bei unwirsch das un- weglässt?

Die Antwort liegt nahe. Zwar gibt es die Wörter gestüm und wirsch nicht, man findet aber die Erklärung in der Sprachgeschichte. Bei ungestüm – dieses Wort hat Marlies Middelbeck (Universität Vechta) für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen – ist die Sache recht einfach: Noch im Mittelhochdeutschen gab es das Grundwort gestüeme, das so viel bedeutete wie ›sanft, still, ruhig‹ – also das Gegenteil dessen, wofür ungestüm (›wild, stürmisch‹) noch heute steht. Kinder, Pferde, auch das wilde Meer konnten in der älteren deutschen Sprache gestüm (›ruhig, still, friedlich‹) sein. Das Wort leitet sich vom mittelhochdeutschen Verb gestemen ›Einhalt tun, beruhigen‹ ab, das seinerseits eine Weiterbildung von stemen, heute: stemmen (›zum Stehen bringen, hemmen‹) ist.

Bei dem Adjektiv unwirsch liegen die Dinge anders: Ein Grundwort wirsch hat es nie gegeben (auch wenn der Name der Hauptfigur in Tilde Michels’ Kinderbuch Kleiner König Kalle Wirsch Anderes nahezulegen scheint). Unwirsch leitet sich ab vom mittelhochdeutschen unwirdesch, in dem das Wort unwert steckt. Es bedeutete ursprünglich ›wertlos, verächtlich, ungeachtet‹, dann auch ›hässlich, böse‹ und schließlich – wie heute noch – ›unfreundlich, mürrisch‹. Dem Grimm’schen Wörterbuch zufolge ist unwirsch „stärker als ungehalten und unwillig, aber schwächer als zornig, barsch, rauh, grob, ausfahrend“.

Wie man sieht, reicht es nicht, das un- einfach wegzulassen, um das Grundwort richtig zu erraten. Ohnedies ist es übrigens mit diesem Wortelement so eine Sache. Denn nicht immer hat es verneinende Funktion, so wie in den oben erwähnten Beispielen. Es kann auch bedeuten, dass es eine Sache nicht geben sollte (so in Unding oder Unwort), und es kann sogar verstärkenden Charakter haben (eine Unmenge ist keine „Nicht-Menge“, sondern eine sehr große Menge). Und so kommt es dazu, dass ein Wort wie Untiefe nicht nur verschiedene, sondern geradezu entgegengesetzte Bedeutungen hat: ›flache Stelle im Wasser‹, wo es „un-tief“, also nicht tief ist, und ›Abgrund im Wasser‹, wo es sehr tief ist: Man kann auf eine Untiefe auflaufen oder auch in einer Untiefe absaufen. Womit wir wieder am Anfang wären, nur eine Untiefe tiefer.    ⋄    Jochen A. Bär

(47) 16. Februar – wacker

Das Wort wacker ist, wenn man dem zehnbändigen Duden glauben darf, eines der vielen Wörter, die derzeit dabei sind zu veralten. Grund genug, es in unsere Reihe aufzunehmen. Zwei Bedeutungen nennt der Duden für wacker, nämlich ›recht­schaffen, ehrlich und anständig; redlich‹ (wackere Bürger, wackere Leute) und ›tüchtig, tapfer, sich frisch und kraftvoll einsetzend‹ (wacker kämpfen, sich wacker schlagen, ein wackerer Zecher).

Wer in mitteldeutschen Sprachgebieten zuhause ist, kennt Wacker auch als Substantiv, nämlich als Kurzwort aus Wackerstein (›Feldstein, Kiesel‹). Anderswo sagt man Wacke oder Wackenstein dazu; der geologische Name für eine bestimmte Gesteinsart (Grauwacke) leitet sich von diesem Wort ab. Die Herkunft von Wacke bzw. Wacker(stein) gilt als ungeklärt; das Grimm’sche Wörterbuch vermutet einen Zusammenhang mit Weg und bewegen, da das Wort „zunächst die vom Wasser fortgeschobenen Steine bezeichnet“. Ein Zusammenhang mit dem Adjektiv wacker ist aber jedenfalls ausgeschlossen. Doch wie erklärt sich dieses?

Die althochdeutsche Form wacchar gibt Aufschluss: Das Wort ist mit wach verwandt. In der Tat bedeutete es ursprüng­lich genau dasselbe: ›wach, wachsam‹. Noch Martin Luther verwendet es in seiner Bibelübersetzung: „Liebe den Schlaff nicht / Das du nicht arm werdest / Las deine augen wacker sein / So wirstu brots gnug haben.“ (Spr. 20,13.) Und auch der Name eines kleinen treu-doofen Hundes im Versepos Reineke Fuchs, zuerst 1498 auf Niederdeutsch (als Reynke de vos) erschienen, lässt die ursprüngliche Bedeutung noch erkennen: Wackerlos (›der Verschlafene, nicht Wachsame‹).

Über ›frisch, munter, agil‹ (sprichwörtlich: ein Ackerman muss sein ein wacker Mann), auch ›körperlich kräftig‹ (Goethe: „Wer sie nur sähe, sollte schwören, / sie sei recht wacker und gesund“) kommt es dann zu der eingangs erwähnten Bedeutung ›tüchtig, tapfer‹, und über den Gedanken, dass jemand tüchtig seine Arbeit, seine Pflicht tut (wacker arbeiten, ein wackerer Gatte und Vater), auch zu der Bedeutung ›rechtschaffen, redlich‹): „Und du bist auch so ein dienstfertger Schurke / und brächtest wackre Leute gern ins Unglück“ (Schiller, Wilhelm Tell).

Ein Wort mit interessanter Geschichte und guter Bedeutung ist das also, das da, dem Duden und durchaus auch eigenem Sprachgefühl zufolge, im Begriff ist zu veralten. Ein Grund mehr, es wacker in unsere Reihe aufzunehmen.    ⋄    Jochen A. Bär

(48) 17. Februar – mutterseelenallein

Manchmal menschelt es in der deutschen Sprache. Gemüt, herzlieb, Innigkeit, Sehnsucht – das sind deutsche Ge­fühls­klischeewörter par excellence. Auch mutterseelenallein, vorgeschlagen von Dr. Sigrid Heising, gehört dazu: Man sieht es förmlich vor sich, das arme Kind: frierend, von allen verlassen, selbst von seiner Mutterseele. (Aber keine Angst: Gleich prasseln die Sterntaler ...)

Schon mal nachgedacht? Was ist eigentlich eine Mutterseele? Die Seele der verstorbenen Mutter? Wenn es denn wahr sein sollte, dass es ein Leben nach dem Tod gibt und dass eine wahre Mutter ihr Kind nie verlassen würde – dann ist der Gedanke doch abwegig. Was hätte die Seele einer Mutter im Jenseits wohl Besseres zu tun, als sich um ihr Kind zu kümmern? (Ja, die Brüder Grimm, die wussten Bescheid: „Was macht mein Kind, was macht mein Reh?“)

Oder ist Mutterseele die Seele der noch lebenden Mutter, und mutterseelenallein soll bedeuten, dass jemand so arm dran ist, weil er eine Rabenmutter hat, die sich nicht für ihn interessiert?

Da die Brüder Grimm Bescheid wussten: Fragen wir ihr Wörterbuch (auch wenn sie den Buchstaben M nicht mehr erlebt haben: Jacob Grimm verschied 1863 über dem Artikel Frucht, Wilhelm, der Jüngere, war bereits 1859 gestor­ben): Mutter in Mutterseele, so erfährt man in dem 32-bändigen, insgesamt 84 Kilo schweren Jahrhundertwerk – es erschien von 1852 bis 1961 – ist ebenso wie in Muttermensch und Mutterkind eine „Verstärkung“: „Keine Mutterseele [keine ein­zi­ge Seele] hats gemerkt“ (J. M. R. Lenz); „es war kein Muttermensch [kein einziger Mensch], der mit mir hatt Erbarmen“ (Paul Fleming). Dann wäre mutterseelenallein so viel wie ›ganz allein, von allen Menschen („Seelen“) verlassen‹.

Mag sein, das stimmt. Mein Heidelberger Kollege Professor Jörg Riecke bringt mich aber auf eine andere, sehr ein­leuch­tende Erklärung: Mutterseelenallein könnte eine volksetymologische Eindeutschung des französischen moi tout seul (›ich ganz allein‹) sein. Die Hugenotten, die im späten 17. Jahrhundert, aufgrund ihres religiösen Be­kennt­nisses in Frankreich verfolgt, nach Deutschland flohen, könnten es mitgebracht haben. Es klingt ja so ähnlich wie „Mutterseel(e)“, und da man zwar den Sinn irgendwie verstand, aber dann doch nicht wirklich, setzte man im Deut­schen das erklärende allein hinzu. So wie schon in früheren Jahrhunderten bei Lindwurm (althochdeutsch lint be­deu­tet allein bereits ›Wurm, Drache‹) und windschief (wind kommt von winden, heißt also allein bereits ›verdreht, schief‹) brachte man also durch den verdeutli­chenden Zusatz eine Doppelung zustande: mutterseelenallein (moi-tout-seul-allein) wäre ganz wörtlich genommen so viel wie ›allein-allein‹.    ⋄    Jochen A. Bär

(49) 18. Februar – Flegel

„Können Sie nicht aufpassen, wo Sie hintreten, Sie Flegel?“ Entrüstete Ausrufe dieser Art kennt man wohl – man hört sie aber zunehmend seltener. Ebenso wie manche anderen Schimpfwörter für schlecht erzogene, rücksichtslose oder auch einfach nur ungeschickte Personen – das Wortfelder-Wörterbuch Der deutsche Wortschatz nach Sachklassen von Franz Dornseiff nennt unter anderem Bengel, Grobian, Lümmel, Rowdy, Rüpel, ungehobelter Klotz und Tölpel – hat Flegel heutzutage offenbar seinen Nachdruck eingebüßt: Man kann damit kaum noch jemanden ernsthaft schmähen.

Das liegt zum einen daran, dass immer neue, teils sehr vulgäre Wörter aus verschiedenen Jargons Einzug in die Allgemeinsprache halten, deren Beleidigungspotential naturgemäß ungleich größer ist, zum anderen aber daran, dass im frühen 21. Jahrhundert kaum noch jemand aktiv weiß, was ein Flegel tatsächlich ist: ein Werkzeug, das dazu benutzt wird, Getreidekörner aus den Ähre, Hülsen o. Ä zu lösen. „Gerät zum Dreschen mit der Hand mit starkem hölzernem Stiel, an dessen oberem Ende mit kurzen Riemen ein Knüppel aus Hartholz beweglich befestigt ist“, so erklärt es der große Duden.

Das Wort kommt vom lateinischen flagellum, einem Diminutiv („Verkleinerungsform“) zu lateinisch flagrum (›Geißel, Peitsche‹) – naheliegend, denn die Handhabung beider Instrumente war ähnlich. Da die Arbeit mit dem Flegel – das Eindreschen auf das getrocknete Getreide – sinnbildlich für Derbheit und den Einsatz körperlicher Gewalt stand, ist zudem klar, warum man die Bezeichnung für das Werkzeug auch auf den rohen, taktlosen Menschen ohne Manieren übertragen konnte. Ähnlich war es bei Bengel, einem Wort, das ursprünglich ›Knüppel, Prügel‹ bedeutete.

Als Schimpfwort ist Flegel, wie schon gesagt, heute eher veraltet. Das soll nun allerdings nicht heißen, dass man zur Gossensprache seine Zuflucht nehmen müsse, um seinem Unwillen wirkungsvoll Ausdruck zu verleihen. Wie nachdrücklich bölkt es sich demgegenüber nicht im Dialekt: „Kannst net auffibassn, wo i hietret, Saupreiß, damischer?“

Wer aber wirklich intelligent beleidigen will, der beleidigt, ohne zu beleidigen: „Sie Pfeiffer!“ Dem Kundigen steht Pfeiffer für nicht weniger als einen ganzen Katalog von Verbalinjurien, nach einem bekannten Insultologen gleichen Namens, der einen ebensolchen zusammengestellt hat. (Herbert Pfeiffer: Das große Schimpfwörterbuch. Über 10000 Schimpf-, Spott- und Neckwörter zur Bezeichnung von Personen. Frankfurt a. M. 1996.)    ⋄    Jochen A. Bär

(50) 19. Februar – hübsch

Zum halben Hundert soll es ein hübsches Wort sein – und was läge da näher als das Adjektiv hübsch selbst? Es ist gar nicht einmal sonderlich hübsch; die Konsonantenfolge bsch wirkt klanglich wie assoziativ – man findet sie auch bei Wörtern wie grabschen, glubschäugig oder Kriebsch (›Kerngehäuse von Apfel oder Birne‹) – nicht wirklich elegant. Aber ›elegant‹: genau das ist ursprünglich die Bedeutung von hübsch. Denn das Wort geht zurück auf mittelhochdeutsch hüvesch oder hövesch, in dem Hof (im Sinne von ›Fürstenhof, Königshof‹) steckt. Es hieß zunächst ›sich so gesittet benehmend, wie es bei Hofe üblich ist‹, und konnte dann jede gebildete, fein gesittete Person oder auch Sache meinen: hübsches Gebaren, hübsche Sitten, hübsche Kleidung. Bei dem mittelhochdeutschen Dichter Konrad von Würzburg findet sich beispielsweise „ein hübescher hunt. der spilte gegen sînem herren schône, / wan er sprang ûf in unde bal in süezer stimme dône“: „ein eleganter, feiner, edler Hund, der spielte schön mit seinem Herrn, denn er sprang an ihm empor und bellte mit dem Ton süßer Stimme“ (Wie man sieht, war bellen ursprünglich einmal ein starkes, d. h. ablautendes Verb mit den Zeitformen bellen, ball, gebollen.) Und bei dem Frühhumanisten Albrecht von Eyb heißt es im 15. Jahrhundert: „wer wolt auch nit preisen die hübsche Rede und Gescheidikeit“ („wer auch wollte nicht wohlgesetzte Rede und Verständigkeit preisen“).

Die heutige Bedeutung ›ein angenehmes, gefälliges Äußeres aufweisend‹ lässt sich an diese Herkunft unmittelbar anschließen. Man sagt von etwas, es sei hübsch, das Wohlgefallen erregt: ein hübsches Kind, eine hübsche Wohnung, sich hübsch anziehen). Umgangssprachlich nennt man darüber hinaus etwas hübsch, das ziemlich groß oder beträchtlich ist (ein hübsches Sümmchen; es ist ganz hübsch kalt), etwas, das so ist, wie man es erwartet oder sich wünscht (sei hübsch brav), und ironisch auch das Gegenteil: etwas Unangenehmes, wenig Erfreuliches (das kann ja hübsch werden ›unangenehme, böse Folgen haben‹; da hast du dir ja was Hübsches eingebrockt). In allen diesen Bedeutungen ist hübsch weitgehend synonym (bedeutungsgleich) mit schön: Man kann ebenso sagen: es ist ganz schön kalt oder sei schön brav oder das ist ja ein schöner Schlamassel.

Exakt dasselbe bedeuten schön und hübsch aber dennoch nicht. Das letztere hat heutzutage immer die Nebenbedeutung des Kleinen und Niedlichen. Mit etwas Hübschem befindet man sich innerlich auf Augenhöhe und kann unter Umständen sogar etwas gönnerhaft darauf herabblicken. Ein hübsches Gesicht ist reizend und erregt Wohlgefallen; ein schönes hingegen bewundert man und fühlt sich übertroffen.    ⋄    Jochen A. Bär

(51) 20. Februar – Muckefuck

Muckefuck hat einen Namen – das war eine der zahlreichen sprachlichen Überraschungen, mit denen ich es Mitte der Fünf­zigerjahre, als Neuankömmling aus der „Zone“, im „Westen“ (in Dortmund) zu tun bekam. „Drüben“ hieß es einfach Muckefuck, hier konnte und musste man zwischen Linde’s, Kathreiner und Caro wählen – Letzterer war (und ist) das lös­liche Pulver, sozusagen der Nescafé unter den Ersatzkaffees, von denen hier die Rede ist. Ersatzkaffee oder besser Kaf­fee-Ersatz ist die standardsprachliche Entsprechung zum umgangssprachlichen Muckefuck. Der Gegenbegriff ist Boh­nen­kaffee, auch richtiger Kaffee genannt. Das naheliegende Pendant falscher Kaffee ist nicht in Gebrauch, wohl aber spielt es in der Herleitung des Wortes Muckefuck aus französisch mocca faux, ›falscher Mokka‹, eine Rolle. Doch wird diese Erklärung in den Wörterbüchern als „Volksetymologie“ abgetan: Es liege keine Eindeutschung vor, allenfalls könne der französische Ausdruck einen Einfluss auf die Bildung von Muckefuck ausgeübt haben. Das Wort ist laut Duden-Her­kunfts­wörterbuch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im rheinisch-westfälischen Raum bezeugt, bedeutet ›dünner Kaf­fee‹ und ist aus den rheinischen Wörtern Mucken, ›braune Stauberde, verwestes Holz‹, und fuck, ›faul‹, zusammenge­setzt.

Wie dem auch sei, ältere Leser dieser Kolumne erinnern sich sicher an Zeiten, in denen Bohnenkaffee fast ein Luxusgut war. Man versuchte, das an seine Stelle tretende Ersatzgetränk aus Malz oder Gerste sprachlich aufzuwerten, indem man es deutschen Kaffee nannte. Das erinnert an das deutsche Beefsteak, eine verhüllende Umschreibung für die banale Fri­kadelle oder Bulette. Sowohl Ersatz- als auch Bohnenkaffee können sehr dünn aufgebrüht werden und werden dann ab­wer­tend Blärre, Blärpe, Lorke oder Plörre (im hiesigen Platt: Plör) genannt. Letzteres kann auch zur Bezeichnung anderer Arten von geschmacklosen Getränken dienen. Besonders im Sächsischen kennt man den Ausdruck Blümchen­kaffee, der so gedeutet wird, dass man durch die dünne Brühe den Boden der Tasse mit ihrem Blümchenmuster sehen kann.

Im selben Verhältnis wie Ersatzkaffee und richtiger oder Bohnenkaffee stehen übrigens Margarine und gute Butter zu­ein­ander. Dass Margarine als weniger wertvoll galt (bevor der cholesterinische Charakter der Butter erkannt wurde), er­kennt man an der aufwertenden Namengebung mancher Sorten: Rama soll nach Rahm, aus dem die Butter gemacht wird, klingen und Botteram nach beidem. Sanella enthält Sahne und das lateinische sanus, ›gesund‹; es wird gern ver­ball­hornt im studentischen Mensaspruch: Mens sana in corpore sanella: „Ein gesunder Geist in einem gut geölten Körper“.

Der Vorschlag, das Wort Muckefuck aufzunehmen, ist gleich zweimal gemacht worden: von den Schülern der Klasse 6fl1 des Gymnasiums Bersenbrück („Wir finden, dass sich das Wort lustig anhört“) und der Klasse 4c der Kardinal-von-Galen-Schule, Dinklage: „ein Wort, dessen Silben einen lustigen Klang haben und beim Sprechen ein Schmunzeln erzeugen“.    ⋄    Wilfried Kürschner

(52) 21. Februar – Gepränge

Mit ›Prachtentfaltung, Prunk‹ erklärt der große Duden das Wort Gepränge und fügt hinzu, es gehöre zur „gehobenen“ Stil­ebene. Nicht zuletzt steht es für zeremoniellen Prunk (festliches Gepränge). So schreibt Theodor Fontane in seinen Wan­derungen durch die Mark Brandenburg über eine Beerdigung, der Sarg sei „ohne jedes Gepränge still beigesetzt“ worden.

Gepränge kommt von dem Verb prangen, das so viel bedeutet wie ›in Glanz und Pracht erscheinen, leuchten, strahlen‹: Es prangen beispielsweise leuchtende Farben, das Morgenrot, ein Blütenflor und – bei Matthias Claudius in dem bekannten Lied Der Mond ist aufgegangen – die „goldnen Sternlein“. Prangen bedeutet auch ›auffällig angebracht sein‹ (die Fotos irgendwelcher B- bis D-Prominenten prangen auf den Titelseiten der Regenbogenpresse), und früher bedeutete es zudem ›prahlen, großtun‹: „Die [...] gantze lange Nacht / lag [...] die [...] Schultheissin in schweren tieffsinnigen Gedancken / welcher massen sie doch den newgeweschenen Beltz [den neu gewaschenen Pelz] anlegen / vnd darinnen prangen möchte“, heißt es in dem 1597 anonym erschienenen Lalebuch. Damit kommt man der usprünglichen Bedeutung näher: Prangen hängt wohl zusammen mit prunken; beide dürften einmal ›laut, lärmend, prahlend reden‹ geheißen haben.

Die Bedeutung ›Angeberei, Prahlerei, Geprotze‹ ist in frühreren Jahrhunderten auch bei der substantivischen Ableitung Gepränge festzustellen. In Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Erzählung Der seltzame Springinsfeld (1670) schüttet jemand eine Handvoll Dukaten auf den Tisch und verlangt nach Wein; „aber Simplicius [...] sagte, was es des Ge­prängs mit dem Gelde viel bedörfte, er sollte es nur wieder einstecken, weil er dergleichen wohl mehr hätte gesehen“. Der Philosoph Immanuel Kant spricht in seiner Critik der practischen Vernunft (1788) verächtlich vom „Gepränge mit vermeinter theoretischer Vernunfteinsicht“; desgleichen kann von Gepränge in den Gebärden oder „leerem Gepränge“ mit Gesundheit und Stärke (so der Theologe Friedrich Schleiermacher) die Rede sein. Und von dem Renaissancepapst Julius II. sagt Wilhelm Heinse, ein heute kaum noch gelesener Autor der Goethezeit, er habe „sich durch kein Gepränge oder Höflings­ge­schwätz täuschen und irreführen“ lassen.

Nach all dieser literaturhistorischen Zitatenpracht und ohne zusätzlichen Sprachprunk – man könnte ihn treiben, indem man rhetorische Figuren anbringt, erlesene Wörter herfürsucht oder (was auch schon vorgekommen sein soll) Sätze zu ganzen Kolumnen weitet – schließt dieser Beitrag zu Gepränge nun ganz bescheiden und ohne weiteres Gepränge.    ⋄    Jochen A. Bär

(53) 22. Februar – verunglimpfen

Da unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ eine gewisse Substantivlastigkeit nicht verleugnen kann (über 62 % der von der Jury ausgewählten Wörter sind Substantive), darf es heute auch wieder einmal ein Verb sein: verunglimpfen. Birgit Niehaus aus Lohne hat es vorgeschlagen. Es bedeutet, dem zehnbändigen Dudenwörterbuch zufolge, so viel wie ›schmähen, beleidigen; mit Worten herabsetzen; diffamieren, verächtlich machen‹: man kann jemanden oder jemandes Ehre verunglimpfen; insbe­sondere neigen manche Politiker dazu, den politischen Gegner zu verunglimpfen.

In dem Wort steckt das heute kaum noch bekannte Glimpf oder Gelimpf (wie in vielen anderen Fällen, in denen die Vor­silbe ge- auf einen Wortstamm trifft, der mit l beginnt, ist das e ausgefallen). Glimpf bedeutet ›Schonung, Nachsicht‹; allenfalls findet man es noch in der Fügung mit Glimpf (entsprechend auch glimpflich: ›auf gute Art, ohne allzu großen Schaden‹) davonkommen. Die Verneinungsbildung Ung(e)limpf bedeutet dementsprechend ›Unrecht, Kränkung, Schaden, Beleidigung‹.

Die genauen Herkunftsverhältnisse sind nicht bekannt; zugrunde zu liegen scheint ein in frühneuhochdeutscher Zeit un­tergegangenes Verb limpfen (›angemessen, geeignet sein‹) oder gelimpfen (›zutreffen, jemandem zukommen, geziemen‹). In alt- und mittelhochdeutscher Zeit gibt es auch ein Adjektiv gelimpf, das ›angemessen‹ bedeutet.

Welche Wörter mit (ge)limpfen und seinen Ableitungen verwandt sein könnten, bleibt unklar; man hat daran gedacht, das mittelhochdeutsche limpfen (›hinken‹, englisch: to limp), das englische Adjektiv limp (›schlaff, schlapp, biegsam‹) und auch das deutsche Lumpen (ursprünglich: ›schlaff herabhängendes Stück Stoff‹) heranzuziehen. Das setzt voraus, dass es eine Bedeutungsentwicklung von ›schlaff, locker‹ zu ›biegsam, weich‹ und weiter zu ›weich, rücksichtsvoll, nachsichtig, scho­nend‹ gegeben hat – was man einleuchtend finden, aber eben nicht nachweisen kann. Wenn die Annahme richtig ist, dann könnten Glimpf, glimpflich und auch verunglimpfen abstammungsgleich sein mit Wörtern wie schlaff und schlapp, in denen jeweils eine indoeuropäische Wurzel mit der Bedeutung ›schlaff herabhängen(d)‹ steckt. Auch das Verb schlafen, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht, wäre dann verwandt.

Was könnte man daraus lernen? Ganz einfach: Besser niemanden verunglimpfen! Man soll ja keine schlafenden Hunde wecken.    ⋄    Jochen A. Bär

(54) 23. Februar – Klamauk

Was lieben die Fans von Slapstick-Filmen? Klamauk! Was machen Schulkinder gerne in der Pause (und manchmal auch im Unterricht)? Klamauk! Was gibt es bei bunten Abenden und in der fünften Jahreszeit? Klamauk!

Das Substantiv Klamauk erscheint als Ausdruck für turbulenten Spaß, fröhlichen bis derben Ulk, auch niveaulose Komik. „Piano-Kabarett“ nennt der Kabarettist Franz-Joseph Feimer seine Kunst, „die weniger auf Klamauk denn auf ambivalenten Schöngeist setzt“ (Mannheimer Morgen). In pädagogisch-didaktischen Internetforen wird gefordert, gutes Lernmaterial vernünftig einzusetzen und keinen „Methodenklamauk“ zu veranstalten.

Woher das Wort Klamauk kommt, das Günther-Bernd Ruhnke aus Steinfeld für unsere Reihe „Das Jahr der Wörter“ vorgeschlagen hat, ist nicht ganz klar. Gesichert zu sein scheint, dass es aus dem Berlinischen stammt. Im Grimm’schen Wörterbuch ist es überhaupt nicht verzeichnet. Dem Wörterbuch der deutschen Umgangssprache von Heinz Küpper zufolge ist es seit dem späten 18. Jahrhundert in Gebrauch.

Leider bleibt Küpper den konkreten Nachweis schuldig. Der früheste mir bekannte Beleg datiert vom Jahre 1920: „In der gemeinsten Weise“, schreibt Kurt Tucholsky in der Weltbühne über judenfeindliche Propaganda, „wird hier ein Haß ausgesät, der, wenn er aufgeht, die bedenklichsten Folgen haben kann. Hier hat man ein scheinbar ganz neutrales Mittelchen, um den Brand zu entzünden. Ist der Klamauk erst da, so kommt der wahre Charakter durch: die Reaktion.“

Klamauk heißt hier offenbar so viel wie ›Radau, Lärm, Aufruhr‹, und dies ist tatsächlich wohl auch die ursprüngliche Bedeutung. Wie man im großen Duden lesen kann, hat sich das Wort „vermutlich aus einer lautmalenden Interjektion entwickelt“ (d. h. aus einer wortähnlichen Lautäußerung, mit der Empfindungen oder Aufforderungen ausgedrückt oder Laute nachgeahmt werden, z. B. oh, pfui, pst, miau oder wau). Ähnlich wie auch Radau, pardauz oder krawumms ahmt Klamauk den Lärm nach. Möglicherweise liegt zusätzlich eine Anlehnung an das lateinische clamor (›lautes Rufen, Geschrei‹) vor.

Das schönste aller Geräuschwörter ist aber nicht Klamauk, sondern ohne Zweifel dasjenige, das Wilhelm Busch zur Nachahmung des Geräuschs einer vom Kaminsims fallenden Nippesfigur erfand: klickeradomms!    ⋄    Jochen A. Bär

(55) 24. Februar – Karneval

Wer von sonstwo auf der Welt – insbesondere aus den rheinischen oder auch den alemannischen Karnevalshochburgen – stammt, wird einen Fehler vermuten und denken, unsere heutige Kolumne komme eine Woche zu früh. Alle, die in Damme wohnen, wissen: der Dammer Carneval findet eine Woche früher statt als anderswo. Denn Ende des 19. Jahrhunders hielt der Bischof von Münster das Fastnachtstreiben, das man in Damme schon seit dem Mittelalter kannte, und das organisiert – nämlich in der Dammer Carnevalsgesellschaft – seit 1614 betrieben wurde, für sündhaft und sittenbedrohend. 1892 ordnete er just für die Karnevalstage das „Vierzigstündige Gebet“ an, eine Dauer-Gebetsübung, an der alle Katholiken in festgelegter Reihenfolge teilzunehmen hatten. Fast alle Einwohner von Damme waren damals katholisch. Wer in der Kirche beten musste, konnte nicht gleichzeitig feiern, geschweige denn einen Umzug veranstalten. Obwohl die Dammer Narren mit einer Reihe von Eingaben vorstellig wurden, blieb es bei der bischöflichen Entscheidung. So entschloss man sich kühn, die Veranstaltungen um eine Woche vorzuverlegen – und dabei ist es bis heute geblieben.

Die Herkunft des Wortes Karneval ist letztlich ungeklärt. Sicher ist nur: Es handelt sich um ein Lehnwort aus dem Italienischen carnevale, wie die C-Schreibung in Damme (und durchaus auch anderswo) noch gut erkennen lässt. Vielleicht liegt eine Kürzung aus dem mittellateinischen de carne levare ieiunium (›Fasten durch Fleischwegnahme‹) zu älterem italienischem carne vale (wörtlich ›Fleisch, lebe wohl!‹) vor, was auf die bevorstehende Fastenzeit verweisen würde. In der Tat bildete bis um 1870 den Dammer Fastnachtshöhepunkt der Heischegang, der am Abend vor Aschermittwoch stattfand: ein Einsammeln von Nahrungsmitteln, die dann vor Beginn des Fastens gemeinsam verprasst wurden. Daher der närrische Dammer Gruß Helau, Fastaubend!

In Damme feiert man 2014 das vierhundertjährige Jubiläum der Dammer Carnevalsgesellschaft. Mit seinen zwei Umzügen ist der Dammer Carneval heute der größte Straßenkarneval in Norddeutschland; im Jubiläumsjahr gibt es natürlich eine ganze Reihe Sonderveranstaltungen. Auf die große Bedeutung des Carnevals für die kulturelle Identität der Stadt weist uns die Dammer Bürgerin Christine Grimme hin.

Heute ist Dammer Rosenmontag – eine Woche früher als anderswo. Nicht anders als anderswo kommt Rosenmontag nicht von der Blume Rose, sondern von rasen ›toll, ausgelassen feiern‹. Helau, Fastaubend!    ⋄    Jochen A. Bär

(56) 25. Februar – schnuckelig

Sprachwissenschaft ist nicht nur Rechtschreibung, Silbenzählen und Grammatik, nicht nur Wortgeschichte oder Dialektgeographie. Es geht auch um die Frage, was man mit Sprache bewirken, wie man mit ihr handeln, auf Menschen Einfluss nehmen kann. Eine zentrale Frage ist die nach der Funktion einer sprachlichen Äußerung.

Der Sprachwissenschaftler Fritz Hermanns hat in mehreren Arbeiten beschrieben, dass Wörter nicht nur einen Sachbezug haben können (sie stellen einen konkreten oder abstrakten Gegenstand dar), sondern auch eine Erwartungshaltung (Wörter wie Mutter und Vater haben unter anderem die Bedeutungskomponenten ›sie sollten liebevoll zu ihren Kindern sein‹ und ›du sollst sie ehren‹). Und auch eine gefühlsmäßige Haltung oder Einstellung des Sprechers oder der Sprecherin können Wörter zum Ausdruck bringen. Wenn jemand von einem kleinen Kind, einem Kätzchen oder einem Hundewelpen wie süß! oder wie goldig! sagt, dann geht es nicht um süßen Geschmack oder goldene Farbe, eigentlich überhaupt nicht um eine Beschaffenheit des Gegenstandes, sondern vielmehr darum, dass die Person, die süß oder goldig sagt, entzückt ist. Man sagt damit nur vermeintlich etwas über jemanden oder etwas; in Wahrheit drückt man Gefühle aus und sagt also etwas über sich selbst.

Schnuckelig oder schnucklig – Dr. Sigrid Heising hat das Adjektiv vorgeschlagen – ist auch solch ein Emotionswort. Es steht für mehr oder weniger dassselbe wie süß oder goldig: ›reizend, Entzücken hervorrufend‹ (ein schnuckeliges Baby, ein schnuckeliges kleines Häuschen), kann aber auch ›appetitlich, lecker‹ heißen („ich mach uns was Schnuckeliges zu essen“). Abgeleitet ist es von schnuckeln (›nuckeln, lutschen, schlecken, küssen‹). Es bedeutet also ursprünglich so viel wie ›zum Ablecken, zum Knutschen‹. Vermutlich sind auch Wörter wie schnucken (›schlucken, schluchzen‹, auch ›nuckeln, saugen‹), und Schnucke (›Heidschnucke‹, in Norddeutschland eine bestimmte Art von Schaf) verwandt. Die Schnucke heißt nicht so, weil sie schnuckelig ist – was freilich nicht heißen soll, dass sie es nicht ist –, sondern weil ihr Blöken an das Geräusch des Schnuckens (›Schluchzen‹ oder auch ›Schluckauf‹, niederdeutsch Snuckup) erinnert.

Anders als Schnucke stehen Wörter wie Schnuckelchen, Schnucki oder Schnuckiputz für eine Person, die man schnuckelig findet. Das mag für diese Person im Einzelfall erfreulich sein, ist aber eigentlich eine sehr intime Angelegenheit. In die Öffentlichkeit hinausposaunt, können Kosewörter und -namen durchaus peinlich wirken. Denn alles hat seine Zeit (und seinen Ort) – nicht zuletzt Nähe und Distanz.    ⋄    Jochen A. Bär

(57) 26. Februar – krass

Krass ist ein Emphasewort: Man kann es benutzen, um einer Aussage Nachdruck zu verleihen, und ebenso auch, um dasjenige, was man als krass bezeichnet, als eminent, extrem, stark ausgeprägt oder besonders wirksam zu charakterisieren. Jemand, der krass drauf ist, verhält sich außergewöhnlich (in der Regel aggressiv). Das weiß natürlich auch der Deutsch-Leistungskurs des Gymnasiums Antonianum Vechta, der das Wort vorgeschlagen hat: „Krass ist ein Synonym für heftig oder übertrieben und wird oft von Jugendlichen verwendet, wenn sie von etwas überrascht oder begeistert sind.“ Doch nicht nur die Jugendsprache, durchaus auch die flapsige Umgangssprache kennt für etwas besonders Bemerkenswertes mittlerweile den Ausruf „Voll krass!“

Krass ist ein Lehnwort. Es geht zurück auf das lateinische crassus (›fett, korpulent‹). Crassus diente im Lateinischen auch als Personenname. Der bekannteste Namenträger war Marcus Licinius Crassus (115/14–53 v. Chr.), ein römischer Politiker und Feldherr. Er bildete 60 v. Chr. zusammen mit Cäsar und Pompeius das so genannte erste Triumvirat (›Dreimännerherrschaft‹, eine Art mafiöser Verschwörung, die den drei Verbündeten die Herrschaft sichern sollte).

In den „klassischen“ Jahrhunderten um die Zeitenwende bestanden römische Personennamen normalerweise aus drei Teilen: einem praenomen (›Vorname‹, z. B. Marcus), einem nomen gentile (›Familienname‹, z. B. Licinius) und einem cognomen (›Beiname‹, unter dem man den Namensträger in der Regel in der Öffentlichkeit kannte, z. B. Crassus). Das cognomen charakterisierte ursprünglich wohl – teils als Spottname – den einzelnen Träger, war aber im 1. Jahrhundert v. Chr. in der Regel erblich: der Vater von Crassus, Publius Licinius Crassus, hatte ebenfalls schon diesen Beinamen. Dass Crassus besonders fett gewesen sei, ist zudem nicht überliefert – wohl aber, dass er fett im übertragenen Sinne war: schwerreich. Nach heutigen Maßstäben war er Multimillionär.

In Ausnahmefällen konnte eine Einzelperson im alten Rom sogar noch einen vierten Namen führen: das so genannte agnomen, eine Art Ehrennamen. So hieß Publius Cornelius Scipio der Ältere Africanus, weil er im zweiten Punischen Krieg (202 v. Chr.) die nordafrikanischen Karthager besiegt hatte. Ob es auch für Crassus ein agnomen gab, ist nicht ganz klar; nach Cicero und anderen hieß er Dives (›der Reiche‹). Offenbar hatte er auf seine älteren Tage im Sinn, sich als Feldherr den Ehrennamen Parthicus zu verdienen. Sein Prestige-Feldzug gegen die Parther 53 v. Chr. wurde jedoch zum Debakel; Crassus selbst kam dabei ums Leben. Krass dumm gelaufen!    ⋄    Jochen A. Bär

(58) 27. Februar – Saustall

„Was ist denn das hier für ein Saustall!“ Das Ausrufezeichen lässt schon erkennen: Obwohl der Satz als Frage formuliert ist (er weist das Fragepronomen was auf), ist er nicht als Frage gemeint, sondern als nachdrückliche Feststellung. Saustall bezeichnet abwertend einen unaufgeräumten oder auch schmutzigen Ort. Synonyme (bedeutungsverwandte Wörter) sind beispielsweise Chaos, Durcheinander und Schlamperei.

Saustall ist ein zusammengesetztes Substantiv und besteht aus zwei Bestandteilen: Sau und Stall. Wörter, die durch Zusammensetzung gebildet werden, nennt man Komposita. Die Bildung eines neuen Wortes durch die Verbindung vorhandener Wörter ist im Deutschen eine der weitverbreitetsten Arten der Wortschatzerweiterung. Das Grundwort Stall (›Gebäude zum Einstellen von Vieh‹) lässt sich, wie leicht zu vermuten, auf das Verb stellen zurückführen. Das Bestimmungswort Sau ist zunächst die Bezeichnung für das Mutterschwein. Eine Verwandtschaft mit Wörtern wie Sohn, in denen die indoeuropäische Wurzel seu oder su (›erzeugen, gebären‹) steckt, wäre denkbar, wird aber neuerdings als eher unwahrscheinlich angesehen. Eher scheint dem Wort Sau eine lautmalerische Nachahmung des Grunzens oder Quiekens zugrunde zu liegen; die ursprüngliche Bedeutung wäre dann ›Tier, das „su-su“ macht‹.

Im weiteren Sinne kann Sau auch für andere Schweine stehen: auch für nicht erwachsene und/oder nicht weibliche. Insbesondere die Jägersprache kennt Sau in dieser allgemeineren Verwendung (bezogen auf Wildschweine). Dass man bei einem Stall für Schweine dennoch eher nicht von einem Saustall (sondern eben von einem Schweinestall) sprechen würde, hängt damit zusammen, dass sich die eingangs erwähnte übertragene Bedeutung weitgehend verselbständigt hat. Man denkt heute ganz selbstverständlich an den gemeinten Sachverhalt (eben nicht an einen echten Schweinestall, sondern an eine Unordnung wie im Schweinestall). Darüber hinaus weiß man, dass es in der Regel um eine indirekte Aufforderung geht, wenn das Wort Saustall gebraucht wird. Ein großer Teil der menschlichen Kommunikation findet „zwischen den Zeilen“ statt, wie es der Sprachwissenschaftler Peter von Polenz einmal formuliert hat. Nicht wörtlich Gesagtes bzw. indirekt Mitgeteiltes, das mit Hilfe des explizit Ausgedrückten erschlossen werden, nennt man in der Linguistik Implikatur. Jedes Kind weiß – wenn Vater oder Mutter mit den Worten „Was ist das denn für ein Saustall!“ ins Kinderzimmer blickt, bedeutet das letztlich nur eines: ›Aufräumen!‹    ⋄    David Römer

(59) 28. Februar – hibbelig

Dass dieses Wort, vorgeschlagen von Leserin Daniela Busse, ziemlich sicher aus dem Niederdeutschen kommt, hört und sieht man ihm schon von weitem an: Auf einen kurzen Vokal („Selbstlaut“), hier i, folgt ein spezieller Konsonant („Mit­laut“), der zur Gruppe der Verschluss- oder Explosivlaute gehört und zudem stimmhaft ist, hier b. In der Schreibung zeigt sich dies durch die Kombination des Vokalbuchstabens i mit dem verdoppelten Buchstaben für den Konsonanten b. Mit an­de­ren Vokalen stößt man auf Wörter wie krabbeln, kabbeln, Ebbe, rubbeln, Robbe. Oder mit den beiden an­de­ren stimm­haften Verschlusslauten d und g: Buddel, daddeln, Schnodder, Kuddelmuddel; Bagger, Egge, flügge, Kogge, schmuggeln.

Das Adjektiv („Eigenschaftswort“) hibbelig ist abgeleitet vom Verb („Tätigkeits-, Zeitwort“) hibbeln, hat aber einen etwas weiteren Bedeutungsumfang. Während hibbeln laut Duden-Universalwörterbuch so viel bedeutet wie ›kleine (unregel­mäßige) Sprünge machen, sich hüpfend hin und her bewegen‹, bedeutet hibbelig zum einen ›hastig in den Bewegungen‹, zum anderen aber auch genereller ›unruhig, nervös, zappelig‹. Neben hibbeln gibt es mit stimmlosem Konsonanten die Form hippeln, die ihrerseits zu hoppeln gestellt wird. Und hoppeln ist eine Iterativbildung (wie das -el- zeigt), meint also die wiederholte Ausführung der Handlung des Verbs hoppen (›hüpfen‹). Ob übrigens der Familienname Hibbeler ebenfalls in diese Reihe gehört, wäre montags von Winfried Breidbach zu klären.

Aus hiesiger Sicht stellt sich die Frage, wie viele Wörter aus dem Niederdeutschen (so heißt „Platt[-Deutsch]“ wissen­schaftlich) den Weg ins Hochdeutsche oder, wie man heute sagt, ins Standarddeutsche gefunden haben und welche das sind. Man kann dies mithilfe eines guten Wörterbuches, etwa des schon erwähnten Universaldudens, selbst ermitteln. Im Eintragskopf ist bei den entsprechenden Stichwörtern so etwas wie „niederd.“ vermerkt. Man geht also das Buch mit sei­nen gut 2000 Seiten daraufhin durch und erstellt sich eine Liste, die von abmurksen, abnibbeln bis Zwille, Zwist reicht. Die Mühen dieser konzentrierten, mehrtägigen Arbeit, die dafür nötig wären, kann man sich sparen, indem man für 10 Euro zu­sätzlich zum Wörterbuch-Buch die CD-ROM gleich mitkauft. Im Computerprogramm geht man dann auf „Erweiterte Su­che“, hakt dort die „Feldsuche“ an, wählt im Feldmenü „Etymologie“ und im Feldinhalt „niederdeutsch“, und in null Komma nichts erscheint besagte Liste.

Die Wonnen der Feldsuche bietet die App-Version des Universaldudens leider nicht, wohl aber die Möglichkeit, ein gesuchtes Wort nicht mehr einzutippen, sondern einzusprechen. Man muss allerdings sehr deutlich artikulieren, sonst erhält man statt hibbelig Vorschläge wie hinderlich, ich liebe dich oder hey billig. Wenn man es falsch ausspricht, nämlich wie „hibbelick“, wird das gesuchte Wort allerdings sofort angezeigt.    ⋄    Wilfried Kürschner