Eine Autofahrt durch das Oldenburger Münsterland
Dominik Schuiskoi
Als Kind des Oldenburger Münsterlandes bin ich in der Region aufgewachsen und groß geworden. Meine Kurzgeschichte erzählt aus gegenwartsbezogener Perspektive von den (klimatischen) Veränderungen, die ich in den letzten 20 Jahren in der Region beobachten konnte.
Der Sommer 2024 ist heiß. Viel zu heiß. Ich fahre in meinem alten, klappernden Auto von Vechta nach Dinklage, einmal durch das südliche Oldenburger Münsterland. Die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel herab und die Luft draußen scheint fast flirrend zu stehen. Die Klimaanlage ist längst tot, wie vieles an diesem Auto, das sich mit jeder Fahrt ein bisschen mehr in den Geisterbahnhof der Technik verabschiedet. Aber es fährt noch. Immerhin. So viel hält es noch aus. Und solange es rollt, denke ich, ist es ja auch in Ordnung. Irgendwie funktioniert es noch. Es muss nicht immer neu sein. Hauptsache, es funktioniert. Aber wer weiß, wie lange noch?
Es ist heiß. Aber trotz der Hitze ist es ein schöner Tag. Der Himmel strahlt in einem satten Blau, das an fast schon unerträgliche Helligkeit grenzt, und die Landstraße, auf der ich fahre, glitzert vor Hitze. Der Asphalt ist frisch geteert, perfekt. Der schmale Streifen am Straßenrand, der sich Radweg nennt, hingegen – naja, der ist mehr ein schlechter Scherz. Marode, mit Löchern, die einem das Gefühl geben, im nächsten Moment einen platten Reifen zu bekommen. Kein Wunder, dass keiner hier mit dem Rad fährt. Dabei bietet sich die Strecke doch geradezu an: flach, ohne Steigungen. Keine Berge, keine Hindernisse, nur weite, flache Felder und Wiesen. Ein paar Traktoren, die gemächlich vor sich hin tuckern, das ist alles, was man sieht. Eine ruhige, fast idyllische Landschaft. Aber trotzdem: Es fährt niemand hier mit dem Fahrrad. Ich auch nicht. Alle fahren Auto.
Ich denke, dass es an der Straße liegt. Der Asphalt ist so glatt und einladend, so fest und schwarz. Geradezu verlockend. Der Radweg ist schäbig, schlecht ausgebessert, nicht befahrbar. Niemand will in die unkomfortable Alternative investieren, also bleiben alle im Auto, ich eingeschlossen. Während ich so darüber nachdenke, fällt mir etwas auf. Ich habe freie Sicht. Freie Sicht? Plötzlich werde ich stutzig. Meine Windschutzscheibe ist glasklar. Wie sollte es auch anders sein, denke ich. Kein Regen, kein Wind, kein Staub, keine Insekten. Natürlich ist meine Windschutzscheibe tiefenrein, geradezu frisch poliert. Was sollte sich auf ihr auch absetzen?
Ich blicke nach vorne. Nach vorne durch eine Scheibe, so täuschend klar, dass sie nichts preisgibt außer der endlosen Leere, die sich vor mir ausbreitet.
Und plötzlich, wie ein Echo aus der Vergangenheit, fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. 20 Jahre ist das jetzt her. Ziemlich lang, denke ich. Ich saß mit meinem Vater im Auto. Ein Auto, das sich schon damals ebenso klapprig anfühlte. Aber es fuhr. Wir fuhren auch damals über eine Landstraße im Oldenburger Münsterland. Ich hatte Kopfschmerzen. Anders als das Auto stand die Luft im Auto vor Qualm, mein Vater rauchte wie ein Schlot. Immer weiter stieß er den Rauch aus. Eine Zigarette nach der anderen. Die Hitze im Innern war erdrückend, kaum auszuhalten. Es wurde immer heißer, wir beide wussten es. Trotzdem stieß er weiter den Rauch aus. „So ein Dreck aber auch“, schrie es mir plötzlich entgegen. „Jedes Mal das Gleiche“. Hektisch und wutentbrannt betätigte mein Vater die Scheibenwischanlage. Lange mit starkem Reinigungsmittel versetzte Wasserstrahlen prallten mit voller Wucht auf die Scheibe. Warum, fragte ich mich irritiert, macht er das? Es war strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, nicht eine einzige Wolke war zu sehen. Von Regen weit und breit keine Spur. „Immer diese dreckigen Insekten. Ich hasse diese Viecher“, bekam ich wutentbrannt die Antwort auf meine nicht gestellte Frage. Fliegen, Käfer und Insekten hatten sich während der Fahrt über der Windschutzscheibe ausgebreitet. Energisch und mit aller Kraft, die mein Vater aufbringen konnte, betätigte er die Scheibenwischer. Und er wischte weiter. Immer weiter. Zwanghaft und penibel wurde jedes noch so kleine Tierchen von der Scheibe entfernt. Akkurat und mit deutscher Sorgfalt war die Scheibe danach blitzeblank. Mein Vater war zufrieden. Sie störten, die Insekten. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schmiss den Stummel aus dem Fenster. Wir fuhren weiter.
20 Jahre später fahre ich über eine Landstraße. Im Radio läuft das Beste der vergangenen Jahre. „Wo sind all die Indianer hin“, schallt es mir von PUR entgegen. Die Frage verhallt in meinem Kopf. Stimmt, frage ich mich, wo sind all die Insekten hin? Meine Scheibe ist sauber, blitzeblank, nicht ein Tierchen ist zu sehen. Dabei habe ich gar keinen Scheibenwischer benutzt. Wo sind die rot strahlenden Marienkäfer, mit ihren markanten kräftig schwarzen Punkten? Wo sind die Tagpfauenaugen mit ihren wunderschönen rotbraunen Augenpflecken auf den Flügeln? Wo sind die kleinen grün schimmernden Florfliegen mit ihren durchsichtigen Flügeln? Wo ist die blaugrüne Mosaikjungfer, mit ihrem schmal anmutenden blau-grün gemustertem Körper, wo die großen männlichen
Hirschkäfer, mit ihren geweihartigen Kieferzangen?
Ich weiß nicht, wo sie sind. Die Antwort bleibt aus. Nur die saubere Scheibe bleibt, als stilles Zeugnis einer Leere, die über der Welt zu liegen scheint. Aber hässlich, wie mein Vater sagen würde, sind sie zumindest nicht. Nützlich sind sie. Und so anmutig in ihrer Vielfalt. Sie bestäuben Pflanzen, verfügen über natürliche Fähigkeiten zur Bekämpfung von Arten, die auf den Feldern unerwünscht sind, tragen zur Humusbildung bei und sind Nahrungsquelle für andere Tiere. Ziemlich nützlich, diese Insekten. Zumindest vor 20 Jahren. Keine sonderlich große Zeitspanne, denke ich.
Ich fahre weiter. Sommer. Es ist heiß. Links und rechts erheben sich endlose Reihen von Maisfeldern, die Pflanzen strecken sich grün und kräftig in den blauen Himmel. Heimisch, denke ich. Überall Mais. Heimisch. Der penetrante Duft von Scheibenwaschmittel, den ich früher kannte, fehlt – keine Insekten, keine Notwendigkeit für eine Reinigung. Stattdessen schlägt mir ein anderer Geruch entgegen, erdig und durchdringend, der typische Geruch des Oldenburger Münsterlandes: Schweine. Ich rieche Schweine. Soweit das Auge blickt, je weiter ich die Landstraße entlangfahre, Schweineställe. Nicht umsonst, denke ich, wird diese Region als Schweinegürtel Deutschlands bezeichnet. Warum nur so viele Schweine? Und was die alles wohl fressen müssen. Wahrscheinlich den Mais, denke ich. Schweine und Mais. Eine Monotonie, die mir plötzlich auffällt. Wie die leere Scheibe vor mir. Ob das zusammenhängt?
Im Radio ist die Musik verstummt, die Nachrichten haben das Wort übernommen. Die Stimme des Sprechers ist kühl, nüchtern und monoton: 2024 sei das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1880. Wieder eines dieser Jahre, die die Rekorde brechen – so wie 2023, 2018, 2016 und 2003 zuvor. Die heißesten Jahre. Bis jetzt. 42,6 Grad wurden in Lingen gemessen. Lingen, denke ich, das ist ja fast um die Ecke. Die Hitze ist plötzlich nicht mehr abstrakt, sie steht greifbar vor mir, wie eine unsichtbare Mauer, die den Atem stocken lässt. Sie ist nicht in Dubai, nicht in der Sahara, nicht in den Betonstädten Chinas. Sie ist hier. Im Oldenburger Münsterland.
Doch der Sprecher hat auch Erfreuliches zu berichten: Die Wirtschaft wächst. Sie wächst und wächst, unaufhaltsam, wie ein Fluss, der keinen Damm duldet. Wachstum ist die Losung, die alles überstrahlt. Es muss weitergehen, ungebremst – nur dann, so scheint es, wird alles gut. Drill, Baby, drill; daraufhin tosender Applaus – schießt es mir plötzlich durch den Kopf.
Wachstum, denke ich. Unaufhaltsames Wachstum. Vielleicht, nur vielleicht, ist dieses ewige Wachstum nicht die Verheißung, als die es uns verkauft wird. Ich schüttele den Kopf, während die Gedanken sich weiterdrehen; Die verschwundenen Insekten, die Schweine, der Mais, die erdrückende Hitze. Doch die Wirtschaft – ja, die muss bleiben. An ihr, so sagen sie, darf nicht gerüttelt werden. Klimaschutz aufweichen und Technologieoffenheit. Das ist die Devise. Die Bilder lassen mich nicht los.
Bald steht die 29. Weltklimakonferenz bevor, dieses Mal in Aserbaidschan. Die Namen der Mächtigen ziehen durch meinen Kopf: China, Russland, die USA, Indien, Europa. Alle wollen den Klimaschutz, sagt der Sprecher – oder zumindest sprechen sie davon. Doch die Forderung bleibt immer dieselbe: Wachstum. Klimaschutz, ja, aber bitte so, dass die Räder der Wirtschaft nicht ins Stocken geraten. Und das zum 29. Mal. Optimistisch, denke ich. Diesmal klappt es! Ein Hauch von Bitterkeit schwingt mit, während ich weiterfahre, der Sommerhitze entgegen. Ob 1,5° oder 2,5°. Was soll das schon ausmachen?
Die Landstraße wird immer belebter. Autos. Autos, überall. Autos füllen die Straße, dicht an dicht, eine glänzende Karawane aus Metall, die sich träge durch die Hitze schiebt. Der Asphalt scheint zu flimmern, fast wie eine flüssige Masse, die jeden Moment zerfließen könnte. Der Verkehr wird dichter, die Hitze wird immer drückender, fast schon unerträglich schwer. Die Klimaanlage funktioniert nicht, und ich ärgere mich. Ironisch, denke ich. Eine Klimaanlage – ein kleines Symbol für unsere Abhängigkeit von Maschinen, die die Welt abkühlen sollen, während sie sie zugleich erhitzen. Ein Teufelskreis. Wie die endlosen Diskussionen auf den Konferenzen, bei denen immer nur eines im Zentrum steht: Die Balance zwischen Wachstum und Schutz. Doch diese Balance ist nichts als eine Illusion, ein Kartenhaus, das im heißen Wind der Landstraße schwankt. Die Hitze in meinem Auto fühlt sich an wie ein stummer Vorwurf. Die Klimaanlage schweigt, der Motor brummt und die Karawane der Autos schiebt sich weiter, stoisch und blind.
Ich muss einen Umweg fahren, die Straße ist in der Nähe einer Baustelle gesperrt. Der Bereich für die Autos wird neu asphaltiert und der Radweg – natürlich – bleibt ein weiteres Mal unberührt. Kein Geld, keine Zeit, keine Priorität. Am Straßenrand erkenne ich, wie der Boden reißt. Winzige Spalten, die sich unter der Hitze ausdehnen. In den Ritzen krabbeln Ameisen hektisch hin und her, so als ob sie etwas zu retten versuchen, das längst verloren ist. Vielleicht sind wir alle diese Ameisen. Rastlos, geschäftig, ständig auf der Suche nach einem neuen Zweck, den wir nicht mehr verstehen. Vielleicht steuern wir alle auf diesen Punkt zu, an dem selbst die Hitze uns nicht mehr rühren wird, weil sie unser täglicher Begleiter geworden ist.
Mein Navi streikt auch, es ist noch keine fünf Jahre alt, aber irgendwie funktioniert es nicht mehr. Nichts scheint mehr richtig zu funktionieren. Die Technik, das Klima, die Natur – alles würde wohl den Bach runtergehen, wäre dieser nicht ausgetrocknet. Ich werde es wohl entsorgen müssen, mir ein neues zulegen. So etwas repariert heutzutage keiner mehr, zu aufwendig. Lieber neu kaufen, ist die Devise.
Ich erreiche schließlich die Einfahrt zum Haus meiner Eltern. Mein Auto rollt auf den Hof, der Kies knirscht leise unter den Reifen, und die Windschutzscheibe glänzt immer noch so makellos wie bei der Abfahrt. Kein einziger Fleck, keine Spur von Leben. Was mein Vater wohl dazu sagen würde? Wahrscheinlich würde er zufrieden nicken, die Hände in die Hüften stemmen und sich freuen, dass man heute nicht mehr nach jeder Fahrt die Scheiben reinigen muss. „Die modernen Autos“, würde er vielleicht sagen, „die sind einfach besser als früher“.
Ob er sich wohl manchmal fragt, wo all die Insekten hin sind? Wahrscheinlich nicht. Dann würde er sich nur wieder aufregen. Mein Vater war noch nie einer, der viel über solche Dinge nachdachte. Wenn überhaupt, wird er es als einen Fortschritt sehen. Keine Mücken, die abends durchs offene Fenster kommen. Keine Käfer, die den Lack zerkratzen. Keine Wespen, die in die Limo stürzen. Eine Welt ohne störende Kleinigkeiten. Keine Insekten, keine Probleme.
Oder?
Dominik Schuiskoi, Januar 2025