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Dick Deich oder ich habe mehr als ein Gesicht (Südstrand)

Sylke Barkmann

Als Kind der Küste galt:Früher gab es die klassischen Herbst- und Frühjahrsstürme. Heute hat man das Gefühl der Wind bläßt ständig. Die Sturmfluten nehmen zu, jeder hat die Bilder der letzten Fluten vor Augen. Als Nationalparkführerin, mit einem Schwerpunkt auf der Salzwiese, spüre ich die Veränderungen. Ebbe und Flut sind an der Küste nicht verhandelbar.

 

„Ich bin das Wichtigste an der Küste. Ich stemme mich bei Regen, Sturm oder Sturmflut dem Wasser des Meeres fest entgegen. Ich bin sooo stark“, sagt Dick, der Deich mit Nachdruck.

Im Hintergrund hört man ein Murren und Schnauben. „Hört ihn euch an! Er ist so toll, er ist so stark! Nur Dick Deich zählt“, hört man die Deiche in der zweiten Deichlinie missmutig murren.

Eine Stimme ruft laut: „Es wird Zeit Dick Deich Nachhilfe in Deichbau- Geschichte zu geben.“ „He Dick, du bist ein Deich, also hast du zwei Seiten. Schau mal auf uns oder noch besser, hör uns mal zu“, sagt die zweite Deichlinie zu Dick.

Dick ist verdutzt. Von der zweiten Deichlinie hatte er noch nichts gehört, geschweige denn, gesehen.

„Wieso glaubt ihr mir Geschichtsnachhilfe geben zu können? Ich bin viel größer als ihr. Was könnt ihr schon wissen?“ antwortet Dick Deich selbstsicher.

„Hört ihn euch an! Als ob Größe alles wäre“, kommt es ungehalten von der zweiten Deichlinie.

„Na, na,“ besänftigt die dritte Deichlinie. „Warst du nicht seinerzeit auch so ungestüm?“ „So? War ich ganz bestimmt nicht“, sagt die zweite Deichlinie verstimmt.

Die dritte Deichlinie schmunzelt nur. Nun ist Dick Deich neugierig geworden. Als die alte, leicht brüchige Stimme der dritten Deichlinie erklingt, sind alle anderen Stimmen verstummt. „Wer bist du?“ fragt Dick Deich. „Ich bin die dritte Deichlinie. Vor vielen, vielen Jahrzehnten stand ich da, wo du heute stehst. Als Schutz für die Menschen gegen das Meer.“

Dick ist nicht überzeugt, steht doch die dritte Deichlinie viel weiter im Land der Menschen. Dort ist vom Meer keine Spur zu sehen. Auf der dritten Deichlinie fahren zum Teil Autos. Sie wird als Straße genutzt.

Etwas eingeschüchtert von diesem ehrwürdigen Klang der Stimme der dritten Deichlinie, die geradezu weise klingt, fragt Dick: „Wie willst du das gemacht haben? Schau wo ich stehe und schau wo du heute stehst?“

„Dick, das Meer war nicht immer da, wo es heute ist. Über viele Jahrhunderte haben die Menschen mit unserer Hilfe das Meer immer weiter zurückgedrängt. Es gab Zeiten, da meinten sie sogar das Meer besiegen zu können.

„Bitte, bitte“, bettelt die zweite Deichlinie, „erzähl uns doch mal aus deiner Zeit und erzähl, was die Alten dir erzählt haben.“

„Aus deiner Zeit, die Alten dir erzählt haben. Ich verstehe kein Wort“, sagt Dick Deich recht ungläubig.

„Lass die dritte Deichlinie erzählen, dann wirst du schon verstehen,“ sagte die zweite Deichlinie.

„Seit endlich still,“ kommt es von allen Seiten, „lasst die dritte Deichlinie erzählen!“

Mit festem Ton erhebt die dritte Deichlinie ihre Stimme. „Unsere Geschichte beginnt vor 1000 Jahren, wie die Menschen sagen würden. Aus den unterschiedlichsten Gründen kamen die Menschen an die Küste. Sie bauten das, was man zu der Zeit, Häuser nannte, auf Erdhügel, die sie selbst errichteten. Sie lebten vom Fischfang. Oft, viel zu oft, vernichtete das Meer mit hohen Fluten ihre Häuser. Aber die Menschen bauten die Erdhügel höher als die letzte Flut und errichteten die Häuser an gleicher Stelle neu. Das ging über eine lange Zeit so. Die Erdhügel hatten eine Höhe bis zu fünf Metern zum Schluss. Man kann sie heute noch erkennen. Viele Häuser der Menschen in der Marsch stehen noch heute auf diesen Hügeln, ragen wie Mahnmale in die Landschaft. Eines Tages beschlossen sie ihre Häuser mit Wällen  beziehungsweise Deichen zu schützen. Erst bauten sie die Dämme um die Häuser dann um die Dörfer. Mit dem Jahr 1000, nach der Rechnung der Menschen, verbanden sie alle Dämme miteinander über die ganze ostfriesische Halbinsel. Wir Deiche waren geboren. Die Menschen hatten beschlossen sich dem Meer entgegenzustemmen. Der Deich war damals ein Meter hoch.“

Ein Meter hoch, denkt Dick Deich verächtlich, aber etwas lässt ihn schweigen.

„Die Arbeit der Menschen am Deich war hart. Der Kleiboden ist schwer, feucht und klebrig. Es gab noch keine Karren, man trug den Kleiboden auf so etwas wie Sänften, bei Wind und Wetter. Zwei Männer trugen ein Gestell, das aus zwei Stangen und mit Brett, auf dem Brett lag der Kleiboden. Man musste sich beeilen, denn die sturmfreie Zeit war knapp. Nur Schippen dienten ihnen als Werkzeug. Aber auch diese Deiche wurden ein Opfer der Sturmfluten. Man baute nach jeder Sturmflut die Deiche etwas höher. Jeder Mensch, der ein Stück Land hinter dem Deich besaß, war für sein Deichstück verantwortlich. Mit der Zeit besaßen einige wenige viel Land und verpachteten es an andere Menschen. Glaubt mir, in der Zeit möchte heute kein Mensch mehr leben!“ Sinnierend schaut die dritte Deichlinie vor sich hin.

„Erzähl weiter,“ drängen ihn die anderen.

„Nach der Zeitrechnung der Menschen 1717 gab es eine große Sturmflut, die vielen Menschen und ihrem Vieh das Leben kostete. Aber in der Zeit davor gab es einen jungen Mann, Albert Brahms, der sich mit unseren alten Deich-Vorfahren beschäftigt hatte. Er erkannte, dass wir Deiche breiter werden müssen und zur Seeseite nicht so steil, sondern sanft geneigt. So hätten die Sturmfluten nicht so eine große Angriffsfläche. Diese Deiche hielten den Stürmen stand. Er war ein junger Mann aus der Nähe von Sande. Er kam aus einfachen Verhältnissen. Aber seine Deiche hielten stand. Andere Küstenbewohner fragten ihn um Rat und er verbesserte uns Deiche. Und kam doch eine starke Sturmflut, wurde der Deich um 30 cm höher gebaut.“

Dick Deich kommt langsam ins Grübeln.

„Vor den Deichen wurden Lahnungen gesetzt, darin verfing sich die Fracht des Meeres, Lehm, Ton und Stein. Lahnungen sind Doppelreihen aus Holzpfählen mit Reisig, heute auch mit Steinen gefüllt. Das Aussehen der Lahnungen glich der Schokolade Rittersport. „Quadratisch, praktisch, gut“. Es entstand neues Land. Wieder bauten die Menschen neue Deiche und drängten so das Meer weiter und weiter zurück. Darum stehen wir heute hintereinander. Wir unterscheiden uns in der Höhe und in der Breite, aber das Bauprinzip des Albert Brahms, festgehalten in vielen seiner Bücher, gilt bis heute. Ein anderer Mann hat Albert Brahms getroffen und ihm eine Novelle gewidmet. Theodor Storm, „der Schimmelreiter“. Anders als dessen Held Hauke Heien war Brahms von allen geachtet und sein Werk anerkannt. Schaut euch uns Deiche an“. Die dritte Deichlinie macht eine Pause. Sie ist schon alt.

Dick ist sehr nachdenklich geworden. „Noch höher und breiter? Wie kommt es, dass ich keine Lahnungen mehr habe? Dafür bin ich 100 Meter breit und zwischen 8,50 Meter und 10 Meter hoch. Gut, dass die Menschen heute Maschinen nutzen. Man hat jetzt LKWs zum Transportieren des Kleibodens, Bagger geben die grobe Form des Deiches vor und eine Kettenraupe fertigt mein Profil. Kommt nach mir wieder ein neuer Deich?“

„Nein, Dick. Die Menschen haben erkannt, das Meer braucht Raum. Das Meerwasser wird immer wärmer, vergleichbar dem Teewasser braucht es mehr Platz. Dazu das Wasser der globalen Gletscherschmelze. Auch wenn sie uns 12 Meter hoch bauen würden, dieser Boden, auf dem wir stehen, gewonnen vom Meer, würde uns auf 10 Meter zusammensinken lassen.“

„Aber ich spüre die Kraft des Meeres nimmt zu! Die Sturmfluten werden häufiger und stärker, die Stürme nehmen auch an Heftigkeit und Häufigkeit zu“, bemerkt Dick.

„Ja, Dick, die Menschen merken es auch. Der eine von ihnen, mehr der andere weniger. Die Erde wird immer wärmer, auch das Meer. Das Meer braucht mehr Platz. Die Menschen suchen nach Lösungen.“

„Hoffen wir, dass die Menschen sich dabei beeilen“, sagt Dick sorgenvoll.

„Dick, du bist nicht allein. Solltest du einmal nicht genug Kraft an einer Stelle haben, sind wir zur Stelle“, sagt die zweite Deichlinie mit versöhnlicher Stimme“, und unterstützen dich. Denn die Menschen halten uns fit.“

„Sowie die Schafe, die auf mir weiden und meine Festigkeit unterstützen. Bin ich froh“, seufzt Dick Deich.

„Dick“, meldet sich der Südstrand von Wilhelmshaven, „auch ich bin ein Deich, Dick.“ „Du?“, antwortet Dick erstaunt. „Ja Dick, wir Deiche haben viele Gesichter. Ich schütze die Stadt Wilhelmshaven zweimal am Tag davor vom Meer überflutet zu werden. Ich bin fast so alt wie die Stadt Wilhelmshaven. Vor 40 Jahren hat man mich saniert, mir ein junges Gesicht gegeben und ich habe auch zusätzlich noch eine ein Meter hohe Schutzmauer bekommen. Ich sehe schick aus“, sagt Südstrand kokett.

Dick fällt noch etwas ein: „Was sind das für komische Häuser, die man von Zeit zu Zeit in mich gebaut hat?“

„Das sind die Siele“, sagt die zweite Deichlinie mit leicht schläfriger Stimme. „Die werden dir selbst erzählen, was es mit ihnen auf sich hat“, antwortet die dritte Deichlinie mit ermatteter Stimme.

Längst ist die Sonne im Meer versunken, Ruhe kehrt an den Deichen ein.

Sylke Barkmann, März 2025